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Brief #86: Verpiss' Dich, Frank.

Lieber Sven,

vor einer Woche bin ich 30 Jahre zurückgereist und in einer anderen Gegenwart gelandet.

Ein Freund hatte zu einem Wochenende eingeladen, an dem ich Menschen wiedersah, die ich zuletzt getroffen hatte, als der Euro noch D-Mark hieß und eine Band auf Platz 1 stand, deren Name mit den Ohren von heute klingt, als sei man zu alt für dieses Videoclip-Portal, das bei den jungen Leuten so angesagt ist, und wüsste deshalb nicht genau, wie es korrekt heißt. Warte bis zum Ende dieses Briefs.

Wir gehörten damals zu einem Jugendverband, der im Sommer Zeltlager mit 120 Kindern organisierte und der seiner eigenen Geschichte wegen Kindergruppen in Übergangswohnheimen für Russslanddeutsche betreute. In dieser Zeit schloss ich nicht nur Freundschaften, die sich vor einer Woche anfühlten, als wären nicht drei Jahrzehnte vergangen, sondern drei Wochen. Ich machte außerdem zum ersten Mal Bekanntschaft mit einer Welt, die ich bis dahin nur aus Zeitungen oder aus dem Fernsehen kannte.

Ich erinnere mich noch genau, wie ich einmal in einer Wohnung in diesem Übergangswohnheim stand. Ein Mädchen aus unserer Kindergruppe hatte mich zu sich nach Hause eingeladen. Die Eltern und ich hatten etwas zu besprechen. Es war eine ehemalige Kaserne, ein trutziger quadratischer Bau mit langen dunklen Fluren, auf denen, wie in einer Schule, in regelmäßigen Abständen zu beiden Seiten Holztüren in die Betonwände eingelassen waren.

Hinter einer dieser Türen öffnete sich das, was in diesem Heim als Wohnung galt. Ich stand in der Küche, die gleichzeitig Bad und Wohnzimmer war. Im Zimmer daneben waren drei Stockbetten aufgebaut, in denen nachts drei Generationen schliefen: die Großeltern, die Eltern, das Mädchen und sein Bruder. Die Familie lud mich auf ein Glas Tee am Küchentisch ein. Ich kann mich nicht mehr erinnern, worüber wir sprachen. Was mir umso eindrücklicher in Erinnerung blieb, ist, wie fassungslos ich war darüber, dass nur wenige Kilometer von meinem Zuhause entfernt Menschen unter solchen Bedingungen lebten. 15 Quadratmeter Deutschland, wie ich sie nicht für möglich gehalten hatte.

Einige Monate später sprach der damalige SPD-Vorsitzende davon, man müsse den Zuzug von Aussiedlern begrenzen, also von genau solchen Menschen, wie ich sie besucht hatte. Ihren Wurzeln wegen hatten sie das Recht, nach Deutschland zu kommen. Nichtsdestotrotz sollten sie sich nicht willkommen fühlen. Sein Name: Oskar Lafontaine. Für ihn galt es, erst einmal den deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu einem auskömmlichen Leben zu verhelfen. Der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für die sogenannten Russlanddeutschen sagte, ihn erinnerten die Forderungen Lafontaines an die „schäbigen Polemik“ der rechtsradikalen Republikaner gegen Ausländer. Lafontaine wolle „die Aggressionen der Menge“ auf die Spätaussiedler lenken. Ein solcher Opportunismus verdeutliche einen Tiefstand politischer Kultur.

Zu dieser Zeit gab ich mir, ohne dass ich es damals so in Worte hätte fassen können, ein Versprechen: Ich trage meinen Teil dazu bei, diesem Opportunismus mein Verständnis von Solidarität, Gerechtigkeit und Empathie entgegen zu halten. Ich möchte an einer Welt mitwirken, in der nicht jene zu Sündenböcken werden, die sich am wenigsten dagegen wehren können. Stattdessen will ich jene in den Blick nehmen, die sich auf Kosten der Allgemeinheit Vorteile verschaffen, die sie dann einsetzen, um daraus noch mehr Nutzen zu ziehen.

Am vergangenen Wochenende traf ich die, mit denen alles angefangen hatte. Wir haben Haare verloren und Kinder bekommen. Falten haben sich unter die Augen gegraben und Speck die Bäuche bekleckert. Doch nachdem wir uns in die Arme genommen hatten, machten wir einfach da weiter, wo wir Mitte der neunziger Jahre aufgehört hatten. Wir lachten, redeten und sangen zusammen. Über alldem lagen die Liebe und die Zärtlichkeit wie vor dreißig Jahren – wie Glitzer aus einer Wolke, die drei Jahrzehnte unsichtbar am Himmel gestanden war und nun über uns abregnete.

Und dann unterhielten wir uns über die Welt von heute. Von den Menschen, deren Herz so groß ist wie ihr großes soziales Gewissen, waren einige zu ganz anderen Eindrücken von der politischen Gegenwart gekommen als ich. Die machen sich wie Du und ich Sorgen um Rechts- und Klimaruck. Aber für sie sind es die Angehörigen der Letzten Generation, die spalten. Oder das Gendersternchen. Die sagen: Die Grünen zerstören den sozialen Frieden, weil sie erwarten, dass jetzt alle ihre Heizungen aus dem Keller reißen. Aber woher kommen denn bitte die Wärmepumpen und Handwerker? Und sollen jetzt wir Deutschen unsere Industrie kaputt machen und in Asien produzieren Länder weiter so viel Müll und Abgase, dass einem schwindelig wird?

Ich kam nach diesem Wochenende anders zurück nach Berlin, als ich losgefahren war. Denn ich verstand: Die kollektive Verunsicherung ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass auch jene auf die Barrikaden gehen, denen eine gerechte Welt so sehr am Herzen liegt wie mir. Ich finde das so alarmierend wie inspirierend. Denn es setzt meinem Denken endgültig ein Ende, dass es nur der richtigen Fakten bedarf, um Menschen von der Notwendigkeit grundlegender Änderungen zu überzeugen.

Es geht hier nicht um Argumente. Wenn die je ausgereicht hätten, hätte die Welt schon zu der Zeit einen neuen Kurs eingeschlagen, als ich an Lagerfeuern „Country Roads“ sang. Was es vielmehr braucht, ist Empathie füreinander und das Wissen darum, dass sich Einzelne persönliche Vorteile verschaffen, indem sie an der Zerstörung unserer Gesellschaft arbeiten.

Du schreibst von Deinem Politikfrust und Deinem Wunsch nach einer Regierung, die ihren Streit dort austrägt, wo ihr niemand zuhören kann. Mein Eindruck ist: Dein Frust resultiert aus einem Wunsch, der nicht zu erfüllen ist. Der aktuelle Streit ist das Ergebnis eines Egoismus, der tief in unsere demokratische Kultur eingesickert ist. Er speist sich aus Geld und Einfluss und gedeiht bei jenen, für die Politik ein Geschäft ist, dessen wichtigstes Produkt sie selbst sind. Zum Beispiel bei Frank Schäffler von der FDP.

Lobby Control hat vor einigen Tagen beleuchtet, (Öffnet in neuem Fenster) wie die Gasindustrie das Heizungsgesetz zersetzt hat. Darin heißt es:

Innerhalb der FDP war es vor allem der Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler, der auf einem Parteitag gegen die eigene Parteispitze opponierte und diese mit einem Antrag dazu drängte, einen bereits ausgehandelten Kompromiss zum Heizungsgesetz noch weiter zu verwässern.auf einem Parteitag gegen die eigene Parteispitze opponierte und diese mit einem Antrag dazu drängte, einen bereits ausgehandelten Kompromiss zum Heizungsgesetz noch weiter zu verwässern.

Dazu ist wichtig zu wissen: Schäffler ist Gründer und Geschäftsführer der Denkfabrik Prometheus (Öffnet in neuem Fenster), die den Begriff Freiheit missbraucht, um jegliche staatliche Eingriffen, zum Beispiel zum Schutz des Klimas, abzuwehren. Prometheus steht auch im Lobbyregister, verweigert dort aber die Auskunft über ihre Spender und ihre Lobbyausgaben. Auch auf Nachfrage verschweigt Schäffler, wer den Verein finanziert.

Prometheus ist Teil des „Atlas Network“, das unter anderem vom Öl- und Gaskonzern ExxonMobil, vom Tabakkonzern Philipp Morris und den rechtskonservativen US-Milliardären Koch-Brothers gesponsert wurde. Das Netzwerk fördert weltweit neoliberale und libertäre Organisationen. Schäffler bezeichnet sich selbst als „Klimaskeptiker“ und verharmlost die Klimakrise etwa mit solchen Aussagen: „Und wird es dennoch ein wenig wärmer, dann freue ich mich über die besseren Ernteerträge, die milderen Winter und den besseren Wein.“

Ich fühle mich heute mehr denn je meinem Versprechen von damals verpflichtet. Ich möchte Männer wie Frank Schäffler mit ihrem verantwortungslosen Opportunismus nicht einfach so davonkommen lassen. Es sind nicht die Grünen, die sich am sozialen Frieden versündigen, die Letzte Generation oder das Gendersternchen. Es ist eine politische Kultur, in der das Ich wichtiger ist als das Wir.

Verpiss' dich, Frank.

Liebe Grüße,
Dein Kai

PS: Ja, der Typ auf dem Foto, das bin ich. Aber eine gewisse Kontinuität ist doch erkennbar, oder?

https://www.youtube.com/watch?v=8rhLnlNJJ5g (Öffnet in neuem Fenster)

(Tic Tac Toe – Verpiss' Dich)

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