Lieber Sven,
ich lese und höre Texte, Nachrichten, Essays aus Nahost. Und was mich bereits im vergangenen Jahr innerlich ausgezehrt hat, erlebt einen weiteren Höhepunkt: die gegen jedes andere Argument immune Überzeugung, das Richtige zu denken, zu schreiben, zu sagen. Das daraus abgeleitete Recht, jede andere Sicht als die eigene verächtlich machen zu dürfen. Mir schreit diese Selbstgerechtigkeit aus den sozialen Medien auf eine Weise entgegen, dass ich beim Lesen oft das Gefühl habe, in ein Rudel hungriger Tiere geraten zu sein, deren Stimme ihnen sagt: Ich muss den anderen fressen, sonst frisst er mich.
Was im Netz beginnt, schwappt über in die reale Welt, wo Menschen vor einer Synagoge gegen einen Krieg demonstrieren, dessen Motive und Ursachen so vielschichtig sind, dass sie darauf mit der größtmöglichen und verwerflichsten Vereinfachung reagieren: Schuld sind die Juden. Antisemitismus ist nicht nur, wenn Vorurteilen zu Waffen werden. Antisemitismus ist auch, wenn man im Kopf einen Gedanken von der Leine lässt, der seinen verführerischen Duft verströmt, auf eine komplexe Welt eine für immer gültige Wahrheit gefunden zu haben, und nicht zu registrieren bereit oder in der Lage ist, dass dieses Parfum der moralischen Überlegenheit ein Gift ist, das Menschen tötet.
Ich muss Dir das ja nicht erklären, aber um es mir selbst zu verdeutlichen: Eine Kirche als Zielobjekt eines politischen Protests – nach derselben Logik ist ein Dom der geeignete Ort, um gegen die Klimapolitik der Union zu demonstrieren. Weil: Alles Katholiken. Was für ein infames, widerwärtiges Verhalten, das wie ein Geist aus der Vergangenheit erscheint und gleichzeitig allzu gegenwärtiger Ausdruck ist eines Virus, das unsere Seelen befallen hat: die ins Perverse überdrehte Selbstgewissheit, ein Recht auf Rechthaben ausüben zu dürfen. So, als gäbe es im Grundgesetz, das heute, am 23. Mai, seinen 72. Geburtstag feiert, einen Artikel null: Das Rechthaben des Menschen ist unantastbar.
Ich sitze an meinem Tisch, blicke aus dem Fenster und mein Gemüt pendelt zwischen Erschöpfung auf der einen und Zorn auf der anderen Seite mit der Lust, allen Rechthaberinnen und Rechthabern so lang ins Gesicht zu schreien, bis mir die Stimmbänder reißen. Aber damit wäre ich ja selbst Teil einer mentalen Pandemie, an deren Ende wir doch mitzuwirken versuchen.
Wir müssen zu begreifen lernen, dass die größte Aufgabe, die ein Mensch in seinem Leben zu bewältigen hat, darin besteht, in einem Moment großer Orientierungslosigkeit den eigenen Standpunkt aufzugeben und sich der Dunkelheit auszusetzen, die darauf folgt. Es heißt immer so schön: Manchmal muss man im Leben eine Tür zuschlagen, bevor sich eine neue öffnet. Doch was es dabei nicht heißt, ist, dass man dann erstmal in einem Flur steht, in den kein Licht gerät. Das muss man aushalten, Schritt für Schritt, mit den Händen an den Wänden vorantastend, getragen von der Hoffnung, dass sich irgendwann und irgendwo eine Tür öffnen wird. Je größer die Orientierungslosigkeit, umso länger der Flur – das ist die Herausforderung.
Sich selbst, die eigenen Werte, Überzeugungen, Haltungen so weit in Frage zu stellen, dass man sich neu definieren kann, weil man merkt, dass ein Standpunkt aus der Vergangenheit nicht mehr zu den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft passt, ist aber nicht nur die größte Aufgabe – es ist auch das aufregendste Abenteuer, es erfordert Kraft, Mut und Entschlossenheit. Man verhält sich wie jemand, der irgendwann in die eigene Wohnung stürmt, alles aus den Regalen und Schränken reißt – die Bücher und Klamotten, die Töpfe und Schuhe –, bis er sich in einem furchtbaren Chaos wiederfindet und bei jedem einzelnen Ding, das er anschließend in die Hand nimmt, entscheiden muss: Kommt das auf den Sperrmüll oder soll das Bestandteil meines Seelenhaushalts bleiben?
Ich habe ein solches Abenteuer selbst auf mich genommen. Deshalb weiß ich, wovon ich spreche. Es hat mich Jahre gekostet. Würde ich allen raten, sich ihm zu stellen? Unbedingt. Würde ich es nochmal machen? Selbstverständlich. Hätte ich es getan, wenn ich gewusst hätte, wie anstrengend es werden würde? Sagen wir es so: Ich bin froh, dass es mir niemand verraten hat. Ich weiß nicht, ob ich so weit gegangen wäre, um so weit zu kommen.
Dass eine solche innere Reise ungeheuer kräftezehrend ist, entschuldigt keinen Antisemitismus. Aber es erklärt vielleicht, warum sich so viele Menschen in einfache Wahrheiten flüchten: Sie halten sich an solchen Gedanken fest, weil sie – zurecht – um ihre eigene innere Stabilität fürchten, wenn sie sie loslassen. Auch wenn das katastrophale Folgen hat, die schon ich kaum auszuhalten vermag. Wie mag es da erst den Menschen ergehen, die in der wahr gewordenen Hölle leben? In der New York Times las ich einen Text über einen alten Mann, der sich von seinem Ersparten eine Wohnung gekauft hatte in dem Gebäude, das ein israelischer Luftschlag zerstört hat – ja, in dem Gebäude. (Öffnet in neuem Fenster)Sein ganzes Leben lässt sich erzählen als Aneinanderreihung von Versuchen anzukommen.
„Our grandfather had an apartment in the building, which he had bought with his life savings and left for his children to inherit. It was now reduced to rubble and ash. This is a lesson that Palestinians across generations have never been allowed to forget: Home is fleeting and can be taken away at any moment. My grandfather, Abdul Kareem, knew this all too well. The story of his life can be told through all of the homes that he has lost.“
Ich nehme mir die Freiheit, zum Nahostkonflikt keine Meinung zu haben. Doch ich nehme wahr, dass die Welt, in der wir leben, sich auch deshalb anfühlt, als springe sie aus den Fugen, weil unsere kollektive Orientierungslosigkeit immer größere Ausmaße annimmt. Auch in der Klimakrise erleben wir ja gerade eindrucksvoll, wie viele Menschen auf simpelste Phrasen zurückfallen. Am Donnerstag gab es eine eindrückliche Ausgabe von "Maybrit Illner". (Öffnet in neuem Fenster) Da saß ein Unternehmer, der es geschafft hat, 59 Minuten lang das Eine zu sagen und sich in der letzten Minute selbst zu widersprechen. Er sprach ständig davon, die Grünen würden dies und jenes verbieten wollen und seien deshalb unbedingt von der Macht fernzuhalten, um dann am Schluss festzustellen: Die Politik soll regulieren und die Unternehmer machen lassen. Ja, genau, das ist mit dem gemeint, was ständig als „Verbotskultur“ durch die Luft flirrt, aber in Wirklichkeit nichts anderes ist als ein ordnungspolitischer Rahmen, der uns Grenzen setzt, innerhalb derer wir uns erst wirklich entfalten können. Aber stattdessen setzen wir lieber dumpfe Parolen in Papierbötchen und lassen sie über den Tümpel der Erkenntnis treiben, wo sie, wie in der "Truman Show", immer öfter gegen die unsichtbaren Wände einer Glaskuppel stoßen, auf der große Banner kleben, auf denen steht: „Achtung, Realität“. Dies mag sich aber niemand eingestehen, weil es erfordern würde, den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Die Weltverhinderer, das sind immer die anderen.
Dabei verpassen jene, die sich hinter ihrem eigenen unhinterfragten Selbstbild verschanzen, das größte Geschenk, das ihnen das Leben machen kann. Nicht die vollendete Freiheit öffnet den Weg in ein wirklich erfülltes Leben. Sondern der vollendete Verzicht. Man muss nur eine Woche lang fasten, um mit Körper und Geist zu spüren, dass das Einzige, was uns auf dem Weg zu Erfüllung und Glück wirklich im Weg steht, wir selbst sind.
Ich entlasse Dich für diese Woche mit einem Lied, das all das, was ich zu beschreiben versuche, noch viel schöner auf den Punkt bringt. Möge uns die Zeit, in der wir leben, dazu verhelfen, zu jenen zu werden, die wir schon immer waren und es nur noch nicht erkannt haben.
Liebe Grüße,
Dein Kai
PS: Ja, August!
https://www.youtube.com/watch?v=HH_h1F3H3N4 (Öffnet in neuem Fenster)(Klaus Hoffmann: "Um zu werden, was du bist")