Lieber Sven,
heute mache ich mit Dir mal ein kleines Experiment. Bitte geh ans Ende dieses Briefes, starte den Song und kehre wieder hierher zurück. Also, bitte.
Zauberhaft, los geht’s.
Um Teams zu einem gemeinsamen, konstruktiven Geist anzustiften, nutzen Coaches eine erhellende Grafik mit dem Titel „Appreciative Inquiry – Wertschätzendes Erkunden“ (Öffnet in neuem Fenster). Zwei Strichmännchen haben gemeinsam ein Loch ausgehoben. Sie stehen in der Mitte des Bildes. Links von ihnen die aus dem Boden geholte Erde, aufgehäuft zu einem kleinen Hügel. Rechts die Kuhle in der Größe des umgedrehten Hügels. So wie in Glas halbvoll oder halbleer, nur mit Erweiterung.
Denn das eine Männchen blickt zufrieden auf den Erdhaufen und sagt:
„Look at what we’ve got.“
Das andere zeigt zornig mit dem Finger ins Loch und sagt:
„Look at what we’re missing.“
Mir kommt das Gespräch in unseren Briefen mitunter vor, als wären wir diese Strichmännchen mit mir als dem Zornigen. Der mit dem ausgestreckten Zeigefinger, der sagt: Jaha, Sven, mag ja alles sein. Aber Dir ist schon bewusst, dass die jetzt endlich vorüber gezogene Kältewelle, in der sich Mai wie März angefühlt hat, möglicherweise nur eine weitere Spielart einer Apokalypse war, die auch zu den Bränden in Australien geführt hat?
Seit 1980 gab es keinen so kalten April mehr. Es ist nicht zulässig zu sagen: Aha, Klimawandel. Entsprechend einer Studie in „Nature Geoscience“ glaubt die Klimaforschung aber, dass der Dauerfrost unten mit einer ungewöhnlichen Stratosphärenerwärmung oben zu tun haben könnte. Weil so die Zirkulation zum Erliegen kam, blieb die Kälte einfach stehen. Und diese Stratosphärenerwärmung wiederum steht womöglich in Verbindung mit der Erwärmung eines Teils des Nordpolarmeers nördlich von Norwegen und Westrussland. (Öffnet in neuem Fenster)
Bei der Hitzeperiode im Jahr 2018, die uns monatelange Trockenheit beschert hat, Italien riesige Überschwemmungen und Kalifornien Feuer aus der Hölle, die ganze Städte ausgelöscht hat, war das ähnlich. Verantwortlich dafür war nach Aussagen der Klimaforschung, dass sich der Jetstream, ein Starkwindband in zehn Kilometern Höhe, verlangsamt – eine Folge der Erderwärmung. (Öffnet in neuem Fenster)
Normalerweise zieht dieser Stream Tief- und Hochdruck-Gebiete mit sich und sorgt bei Normalgeschwindigkeit dafür, dass sich Wetterlagen in relativ kurzen Intervallen abwechseln. Im Jahr 2018 blieben sie aber wegen des verlangsamten Jetstreams ungewöhnlich lange stehen und das Wetter spielte auf der gesamten Nordhalbkugel verrückt. Es schien, als hätte uns der Stream zugerufen: „Liebe Leute da unten, wenn ihr euch jetzt selbst erwärmt, braucht ihr mich ja nicht mehr, oder? Dann lass ich’s mal ruhiger angehen. Schönen Tag noch und nicht vergessen: immer schön trinken. Wenn euch das Wasser ausgeht – die Italiener müssten noch was haben. Gute Nacht.“
Als Loch-Strichmännchen könnte ich auch sagen: Dir ist schon klar, Sven, dass der Mann aus Deinem 30-Minuten-Video von vergangener Woche, der Warlord Joseph Kony aus Ruanda, bis heute nicht gefasst ist? Ungeachtet der Tatsache, dass ich nach dem millionenfach geklickten Clip das Gefühl hatte, dass nach diesem Video Kony keine zwei Wochen mehr hatte, bis er vor dem UN-Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag landete.
Das Video machte Kony im Jahr 2012 in Klickgeschwindigkeit zur meistgesuchten Person der Welt. Heute wird Kony in einer Grenzregion zwischen Sudan und Südsudan vermutet. (Öffnet in neuem Fenster)
Aber – Schluss damit. Ich möchte nicht mehr der sein, der immerzu ruft: „Hört bitte auf zu träumen. Euer kleiner Erdhaufen passt doch in jede Hundekot-Tüte.“ Das droht auch mich zu vergiften. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich bei Wikipedia irgendwann als Begründer der self fulfilling psychose aufgeführt. Wenigstens hätte ich mir dann das Loch selbst gebuddelt, in dem ich säße.
Nebenbei: großartiger Track, oder?
In Deinem Brief schlägst Du eine große Kampagne vor. Du willst Menschen dazu bringen, für ein Jahr aufs Fliegen zu verzichten. Mit Promis, Hashtag und Youtube-Videos. Kein Malle, sondern Mecklenburg. Vielleicht zur Abwechslung ja mal der Radweg Berlin-Kopenhagen?
Ich habe einen Gegenvorschlag: Lass uns die geilste Kampagne machen, die die Welt je gesehen hat – für den Radweg Berlin-Kopenhagen. Ich glaube nicht daran, dass es klug ist, Menschen von etwas Herkömmlichem abzuhalten. Wir müssen uns zu etwas Neuem anregen. So wie es der US-amerikanische Architekt und Systemtheoretiker Buckminster Fuller formuliert hat:
„Man schafft niemals Veränderungen, indem man das Bestehende bekämpft. Um etwas zu verändern, baut man neue Modelle, die das Alte überflüssig machen.“
Damit möchte ich Dich mit Ilse, Inge und Karin bekannt machen. Ich traf sie an einem Tag im August in Mecklenburg-Vorpommern, 20, 30 Kilometer vor Rostock. Die drei Damen waren Ende siebzig. Sie saßen auf einer Bank an dem Radweg, der ganz am Ende vor dem Rathaus in Kopenhagen ankommt. Ich habe diese Tour nämlich schon gemacht.
Ilse, Inge und Karin tranken gerade Kaffee. Weil ich die drei so reizend fand, hielt ich – bepackt mit Zelt, Gitarre, Espressokocher und Strohhut – an und fragte, ob ich mich für ein Päuschen zu ihnen setzen dürfe. Klar, sagten sie und boten mir eine Tasse an. So kamen wir ins Gespräch. Der Reihe nach waren in den Jahren zuvor ihre Männer verstorben, beim letzten war es wenige Wochen her. Und so hatten sie sich gesagt: „Nee, nee, nee. Wir werden uns doch jetzt nicht in unsere Häuser verkriechen.“ Also rauf auf die Räder zur ersten Radtour ihres Lebens. Die Kaffeepause war die erste Rast. Das Dorf, in dem sie losgefahren waren, war etwa fünf Minuten entfernt.
Für die 600 Kilometer habe ich gemütliche acht Tage gebraucht. Die Fahrt war eine Aneinanderreihung solcher Erlebnisse. Es war der beglückendste Urlaub, den ich jemals gemacht habe. Das Foto ganz oben stammt auch daraus. Es entstand auf einem öffentlichen, kostenlosen Zeltplatz kurz vor Kopenhagen. Da war niemand außer mir. Alles leer. Das Zelt habe ich direkt an der Kante eines Steilufers aufgestellt. Nachdem ich morgens um sechs aufgewacht war und den Reissverschluss des Zelts hochgezogen hatte, habe ich einem atemberaubenden Sonnenaufgang direkt ins Gesicht geblinzelt. Ich war nicht mehr allein. Jetzt waren da die Sonne, das Meer und das Glück mit mir.
Diese Tour war für mich ein game changer, von dem Du schreibst. Danach wusste ich, wie fantasielos und bemitleidenswert das ganze Gerede davon ist, eine vermeintliche Verbotskultur würde uns die Freiheit nehmen. Es ist genau umgekehrt: Eine stärkere Regulierung von dem, was dem Planeten so schadet wie uns, wäre ein Tor zur Freiheit.
Hat man mal angefangen, den Normen auf den Grund zu gehen, die unsere Welt bestimmen, merkt man, wie hohl das notorische Versprechen von Freiheit ist. Der Flug nach New York, ein neuer Flachbildfernseher. Schickes Auto, glitzerndes Smartphone, heißes Top. Heute bestellt, morgen geliefert. In Wirklichkeit machen uns die ganzen Produkte und all die Plakate, Spots und Posts, die dafür werben, nicht frei – sie sperren uns ein. Denn sie verstellen uns die Sicht auf das Schöne, das zum Vorschein kommt, wenn wir die Freiheit in uns selbst suchen. Der Konsum, der sich in immer kürzeren Intervallen selbst überholt, ist ja auch nicht nur für uns gemacht. Er dient auch jenen, die ihn in die Welt gebracht haben.
Auf dem Weg nach Kopenhagen bin ich einfach daran vorbeigefahren.
Lass uns den Radweg Berlin-Kopenhagen so sexy machen, als wäre es ein Urlaub in Rio, New York oder auf den Malediven. Wir produzieren Videos und Fotos aus dem Naturpark Müritz, von der Mecklenburger Seenplatte oder von der dänischen Halbinsel Møns Klint. So, dass auf Instagram, Youtube, TikTok und Twitter alle sagen: Da muss ich auch hin. Wir machen eine Sun Bicycle Challenge: Alle posten Fotos von der Strecke mit albernem Strohhut, auf denen neben ihnen Leute zu sehen sind, die sie unterwegs getroffen haben.
Und Frauen wie Ilse, Inge und Karin machen wir zu Instagram-Stars. Zu Lebenssinnfluencern.
Während Du den dreien ins Gesicht geguckt hast, liefen hoffentlich die letzten Takte von „Immersion“. Es ist ein Song von WhoMadeWho, einer der tollsten Bands des Planeten aus? richtig: Kopenhagen. Ilse, Inge und Karin – und dazu so ein Song. Stell Dir das mal als Kampagne vor für den Flug in eine andere Welt.
Bist Du dabei?
Dein Kai
https://www.youtube.com/watch?v=J-M3raeVD6g (Öffnet in neuem Fenster)(WhoMadeWho & Adana Twins: Immersion)