Mein lieber Sven,
vor einigen Jahren haben die beiden Forscher Brian Dias und Kerry Ressler von der Emory University School of Medicine in Atlanta (Georgia) ein Experiment durchgeführt: Sie setzten Mäuse dem lieblichen Duft der Kirschblüte aus. So weit, so schön. Doch dann versetzten sie den Nagern leichte Elektroschläge, damit sie die Kirschblüte zu fürchten lernten. Schlagartig hatte der Duft jede Lieblichkeit verloren – nun stand er für die Angst vor dem nächsten Schmerz. Anschließend ließen Dias und Kerry die Mäuse Nachkommen zeugen und fanden heraus: Nicht nur auf die unmittelbaren Nachkommen war die Angst übergesprungen. Sondern auch auf die Generation danach. Ein französisches Wissenschaftsmagazin wählte die Ergebnisse der beiden zu einer der zehn wichtigsten Erkenntnisse des Jahres 2014. (Öffnet in neuem Fenster)
Traumatische Schläge im Leben können sich von Generation auf Generation übertragen – das ist die zentrale Botschaft der Epigenetik, einer Forschungsrichtung der Biologie. Was dabei vor sich geht, ist nicht, dass sich die Gene selbst verändern, sondern die Art und Weise, wie sie wirken. Wie beim Wetter: Der hellste Sonnenschein ist wirkungslos, wenn zwischen Dir und der Sonne ein graues Brett aus Wolken liegt. Es gibt kein Leben außerhalb der Umwelt, in der wir uns bewegen – wir sind unmittelbar abhängig von den äußeren Bedingungen, auf die wir oft genug gar keinen Einfluss haben. Eigentlich irre, dass man das immer und immer wieder erwähnen muss.
Aber nachdem ich Deinen Brief gelesen und die Filme gesehen hatte, die Du empfohlen hast, sah ich mit eigenen Augen und hörte mit eigenen Ohren, wie tief sich die vermeintliche Erkenntniss ins Bewusstsein vieler Menschen gegraben hat: Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer dauerhaft Hartz IV bezieht, ist einfach nicht fleißig genug. Leistung muss sich lohnen. Warum soll jemand morgens aufstehen, wenn es dafür keine Anreize gibt? Fördern und Fordern.
Weißt Du noch, wie der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle Hartz IV bezeichnet hat? „Spätrömische Dekadenz“. Das war 2010. Man kann nicht sagen, dass wir in den vergangenen elf Jahren viel dazugelernt hätten. Ist vielleicht auch etwas viel verlangt – die Menschheit ist ja 300 000 Jahre alt.
Die Schuld für die eigene Situation in die Schuhe derer zu schieben, die darin stecken, so zu tun, als hätten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen keine Auswirkungen auf das, was ein Mensch überhaupt leisten kann – es ist das ständig wiederkehrende Mantra einer Gesellschaft, die nicht einsehen möchte, dass der Schmied sein Glück nur schmieden kann, wenn er über einen Hammer verfügt, Eisen und eine Werkstatt, die groß genug ist, dass er darin in Ruhe arbeiten kann. Natürlich ist eine Gesellschaft darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder eigeninitiativ und ehrgeizig sind und was erreichen wollen. Aber wir sind in einer gedanklichen Kultur angekommen, in der wir alle Verantwortung bei der oder dem Einzelnen abwerfen. Gegen die grassierende Plastikverschmutzung hilft Recycling in der Küche (Bullshit). Gegen Stress und drohenden Burnout eine Woche Achtsamkeits-Seminar am Meer (für 1484 Euro, Doppelzimmer mit Landblick (Öffnet in neuem Fenster)). Und gegen Hartz IV hilft Fleiß (soso).
Ist es da ein Wunder, dass sich auch die traumatischen Erfahrungen einer Kindheit in Armut auf nachfolgende Generationen übertragen? Wie lang werden wir brauchen, bis wir uns als Gesellschaft in eine Richtung aufgemacht haben werden, in der wir willens sind, wieder Verantwortung füreinander zu übernehmen, wahrhaftig Verantwortung, die uns im Bewusstsein handeln lässt, dass das eigene Glück notwendigerweise dort endet, wo das Unglück des Anderen beginnt? Reichtum ist keine Sünde. Armut aber auch nicht. Und Herkunft keine Entscheidung, die man selbst getroffen hat.
Die Ungerechtigkeit macht ja auch nicht Halt an der deutschen Grenze. Ich habe mich neulich in einem InstaLive-Talk mit Jaime Fernández unterhalten, dem Energiereferenten für Energie bei Brot für die Welt. (Öffnet in neuem Fenster) Er war in der ersten Woche des Klimagipfels in Glasgow und erzählte, dass er einen Delegierten aus Bangladesch getroffen habe, der kein Hotelzimmer mehr gefunden hat in Glasgow und deshalb ins knapp 70 Kilometer entfernte Edinburgh ausweichen musste. Dort steht er während der zwei Gipfelwochen jeden Morgen um halbfünf auf, um rechtzeitig zu den Verhandlungen zu kommen. Und in den Testzentren Glasgows stehen sich Delegierte aus dem globalen Süden die Füße in den Bauch (vermutlich, weil viele von ihnen noch nicht doppelgeimpft sind), während die Delegierten aus dem Norden über die Auswirkungen der Klimakrise verhandeln, jener Krise, die im Süden schon längst jeden Tag an die Tür klopft.
So, und die ewig junge Frage, Sven: Was machen wir jetzt damit? Ich werde dieser Tage ewig junge 47 Jahre alt. Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen, wie ich vor dreißig Jahren in Augsburg in einem Übergangswohnheim für Aussiedlerfamilien jeden Donnerstag Abend zusammen mit Freunden eine Kindergruppe geleitet habe. Immer wieder habe ich Kinder zu sich nach Hause begleitet – da sah ich dann, dass auf zwei kleinen Zimmern mitunter sechs Menschen und drei Generationen zusammenlebten: Großeltern, Eltern, zwei Kinder. Ich hatte solche Zustände in einem reichen Land wie Deutschland bis dahin nicht für möglich gehalten. Der Schreck, der damals in meine Glieder gefahren ist, treibt mich an bis heute – wahrscheinlich auch ein Moment, der die Wirkweise meiner Gene beeinflusst hat.
Ich glaube, die einzige Chance, die wir haben, ist, überall für eine andere Welt zu werben, wo es uns möglich ist. In diesem Brief. Auf Demonstrationen. In einer NGO. Oder in einer Partei. Aber auch in jedem Moment auf der Straße, im Supermarkt oder nachts in einem Club, in dem wir jenen Aufmerksamkeit widmen und ihnen das Gefühl geben können, dass sie in ihrem Schmerz nicht allein sind, die sonst übersehen werden. So wie es Stromae gemacht hat, dem musikalischen Genie aus Belgien, der mit jedem Song ein Juwel schafft, das weit über seine Musik hinausstrahlt.
Stromae, der eigentlich Paul Van Haver heißt, ist selbst ein Mensch, der weiß, was es bedeutet, sich freigestrampelt zu haben. Seine Mutter ist Belgierin. Sein Vater stammte aus Ruanda. Dorthin kehrte er nach der Geburt seines Sohnes zurück und starb während des Völkermords im Jahr 1994. Um sich den Besuch auf einer Privatschule zu ermöglichen, arbeitete Stromae zeitweilig in einem Fastfood-Restaurant. Das Geld reichte trotzdem nicht. Also machte er Musik. Mitte Oktober erschien sein neuer Song „Santé“, eine Hommage an die, die nicht gesehen werden (wenn Du kein Französisch kannst, mach bitte unbedingt die Untertitel an).
Lass uns nie übersehen, die Augen offen zu halten, Sven,
Dein Kai
PS: Und wenn Du Dir mal eineinhalb Stunden Zeit nehmen kannst, sieh Dir bitte unbedingt diese neue Doku über den Wirecard-Skandal an. (Öffnet in neuem Fenster) Auch darin kommt sehr deutlich zum Ausdruck, welche Kräfte in unserer Gesellschaft wirken. Eine Doku von der Qualität eines Kinofilms. Für so etwas liebe ich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ja.
https://www.youtube.com/watch?v=P3QS83ubhHE (Öffnet in neuem Fenster)(Stromae – Santé)