Lieber Kai,
Frohes neues Jahr!
Die erste Woche diesen neuen Jahres hatte bei mir Überschrift: Ordnung und Struktur. Was das heißt?
1. Ich habe alte Unterlagen nach Jahren sortiert und eingeheftet, sodass ich jetzt schöne, graue Ordner habe inkl. schönem, orangenen Sticker mit der entsprechenden Jahreszahl.
2. Ich habe meinen sehr geschätzten Jahreskalender gekauft. Der Clou bei diesem Kalender ist, dass ich nicht nur das ganze Jahr stets vor mir sehe, sondern meine Termine mit bunten farbigen Punkten eintrage, weswegen mir das Jahr in farblicher Vielseitigkeit entgegenlacht. Es ist immer ein schönes Gefühl, dieses erst so karge DINA 2 Blatt langsam bunt werden zu sehen. Und damit habe ich auch schon angefangen: Zuerst alle Geburtstage, dann die Termine unseres Salongs (sic!), dann die Schulferien, dann Finksten (sic!)...und schon ist das Papier garnicht mehr so kahl. Normalerweise entscheide ich mich für die schwarze Version des Kalenders, dieses Mal ist jedoch die weiße geworden. Mal was wagen.
3. Ich habe den Großteil meiner Steuererklärung hinter mich gebracht und alle Quittungen und Rechnungen (gefunden in Punkt 1) mir herausgeschrieben, um damit möglichst bald eine kleine Summe vom Kreuzberger Finanzamt zurückzufordern.
Ordnung. Ich gestehe, nicht gut darin zu sein, im Chaos zu leben. Ein paar Tage geht das (wie auf der Zielgeraden meiner Deadline zwischen den Jahren), aber nicht lange. Gleichzeitig bin ich aber auch ein Fan von Neuanfängen, vom Gefühl von tabula rasa. Das hält aber auch nicht allzu lange an und eher für mich Motivation, in diesem Neuen eine neue Struktur zu finden. Wie du siehst, war diese erste Woche im neuen Jahr dementsprechend auf vielen Ebenen für mich sinnliches Blümenpflücken.
Letztes Jahr um diese Zeit beschäftigte mich etwas Anderes. Es hatte auch mit Ordnung und tabula rasa zutun, aber in einer Art und Weise, die mich eher schockiert zurückgelassen hat. Ich rede vom 6. Januar 2021, auf den Angriff auf das Kapitol in Washington D.C. - Ja lieber Kai, nach diesem blumigen Beginn soll es um die Vereinigten Staaten von Amerika gehen. Und um unsere westliche Beziehungen zu Niederlagen und Scheitern.
Es gibt gewiss genug andere Themen, die es zu besprechen gibt.
Kolumnist Jan Fleischhauer gibt an, "raus" zu sein. (Öffnet in neuem Fenster)
Lufthansa 'muss' 18.000 Flüge ohne Passagiere durchführen. (Öffnet in neuem Fenster)
Aber der Angriff aufs Kapitol, der vor einem Jahr die Ratifizierung der Präsidentschaftswahl aufhalten sollte, ist etwas, das mich tatsächlich erschütterte und noch bis heute beschäftigt. Falls du sie noch nicht gesehen hast, empfehle ich dir diese Doku der New York Times, um dir das Ausmaß nochmal zu vergegenwärtigen.
https://www.youtube.com/watch?v=jWJVMoe7OY0 (Öffnet in neuem Fenster)Viele Leute in deinem, meinem Bekanntenkreis haben eine sehr abschätzige Meinungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Dementsprechend winkten viele auch einfach nur ab, als sie die Bilder gesehen haben. "Die verrückten Amis", hieß es dann und schwupps wurde das Thema gewechselt.
Ich kann da nicht einstimmen. Schon immer habe ich eine große Faszination für die USA empfunden, die sich im Laufe der Zeit zwar verändert hat, aber stets geblieben ist. Als ich mit siebzehn drei Monate in Oklahoma verbracht habe, sah ich eine USA, wie du sie hier in Deutschland nicht siehst. Ein ländliches Amerika, das aus mehr bestand als nur Waffenfanatikern, Rassismus und Pick Up Trucks. Ich gebe zu, es war, auch im Vergleich zu Reisen nach Afrika, dem nahen Osten oder Asien, der größte Kulturschock, den ich je erlebt habe. Aber wenn du dort bist, in einem so genannten Fly-Over-State, für das sich keine amerikanische Politik, geschweige denn Weltpolitik interessiert, erfährst du auf der einen Seite ein Gefühl von Freiheit und Losgelöstheit von den Strängen von Gesellschaft und Tagesnachrichten, denen du hier in Deutschland nicht so leicht entsagen kannst (Auch du nicht, Jan Fleischhauer!).
Auf der anderen Seite entwickelst du dadurch auch häufiger entweder ein Desinteresse oder eine Abscheu gegen eben jene Institutionen, die sich nicht für dich interessieren. Die Wahl Trumps hat noch andere Gründe und ist sicherlich nicht alleinige Schuld des sowieso schon seit Jahrzehnten republikanisch geprägten Oklahoma. Aber ich habe oft das Gefühl, wir Europäer*innen begegnen diesem Amerika immer wieder mit einer Arroganz des (Besser)-Wissens, die genau die Überheblichkeit ist, die als Teufelskreis die Fronten verhärtet. Dieser Teufelskreis ist nicht nur in unserem Bezug zu den "Amis" zu sehen, es ist genau die gleiche Mechanik, die uns in Hinblick auf Impfungen, Gendern oder Klimawandel lähmt, wirklich breiten Fortschritt hinzukriegen.
Der 6. Januar 2021 war davon das bisher schrecklichste Ausmaß. Der damalige republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnel, der im Zuge dieser Wahl auch in Begriff war, seine Macht abzugeben, hielt an diesem Tag eine Rede, die ich sehr beachtenswert finde. Es ist ein Appell an seine republikanischen Kollegen und Kolleginnen, trotz aller Vorkommnisse und vergangener Double Standards der Demokraten, diese Wahl, diese Niederlage zu akzeptieren.
https://www.youtube.com/watch?v=I9_2CRBfYYc (Öffnet in neuem Fenster)"We cannot keep drifting apart drifting apart into two seperate tribes with a seperate set of facts and seperate realities with nothing in common with hostility towards other other and mistrust for the few national institutions that we all still share. (...) We'll either hasten down a poisonous path past where only winners of elections actually accept the results or show we can still muster the patriotic courage that our forebearers showed not only in victory but in defeat."
Ich halte von Mitch McConnell nicht viel, finde aber besonders den zweiten Satz sehr wichtig. Es lässt sich auf alle gesellschaftlichen Ebenen übertragen: Es reicht nicht, recht zu haben. Wahre Größe zeigt sich dann, wenn wir bereit sind, eigene Fehler und Niederlagen zuzugeben. Nur dadurch zeigt sich, sei es bei Wahlen oder Diskussionen, dass wir noch alle im gleichen Boot sitzen. Nur so schaffen wir eine Grundlage, die es ermöglicht, auf einander zuzugehen. Ich habe die uramerikanische Begeisterung für diejenigen, die nach einer Niederlage wieder aufstehen und weitermachen, stets bewundert. Das ist etwas, das uns hier in Deutschland oft fehlt - wie auch unser heutiger Finanzminister anno 2015 im NRW Landtage feststellte.
https://www.youtube.com/watch?v=GrA8wwy5pLI (Öffnet in neuem Fenster)Aber zurück zu den USA: Es fühlte sich damals danach an, als haben viele Politiker und Politikerinnen verstanden, dass es Zeit für ein neues Kapitel ist, ein Kapitel ohne Trump und ohne dem inflationären Gebrauch des Worts fake news. Und heute?
Heute sind es genau zwei Personen aus der republikanischen Partei, die bei der offiziellen Gedenkveranstaltung des Kongresses teilnehmen: Der ehemalige Vizepräsident von George W. Bush, Dick Cheney, und Liz Cheney, Repräsentantin des Bundesstaats Wyoming.
Die Republikaner indes streuen entweder weiterhin die Lüge, dass Trump eigentlich die Wahl gewonnen hat oder nahmen an der Veranstaltung nicht teil, weil sie empfanden, dass die Demokraten die Gedenkveranstaltung für politische Zwecke ausnutzen wollten. So auch McConnell (Öffnet in neuem Fenster). Das alles passiert, während die Wahrscheinlichkeit, dass die nächsten US-Wahlen untergraben werden, ansteigt (Öffnet in neuem Fenster). Anstatt der Heilung, des Aufeinanderzugehens, ist in den Vereinigten Staaten genau das Gegenteil passiert. Und das republikanische Lager, inkl. ihrer Nachrichten, lassen nicht einmal die Bemerkung zu, die Vorgänge des 6. Januars als Terroristische Attacke (Öffnet in neuem Fenster) zu werten.
Wir sind also zurück in der politischen Manege, in der es nicht um eine Wahrheit geht, sondern um das Gewinnen um die Deutungshoheit der Vergangenheit. Es ist schlicht egal geworden, was wirklich passiert ist. Ich weiß nicht, was mich mehr schockiert: Das, was am 6. Januar 2021 passiert ist, oder das, was um den 6. Januar 2022 sich als Vermächtnis dieses Horrortags zeigt.
Am 8. November 2022 sind die US-Midterms. Dann werden alle Sitze des Repräsentantenhauses und ein Drittel des Senats neu gewählt. Es gilt als wahrscheinlich, dass die Republikaner wieder beide Kammern gewinnen werden. Das hat weniger mit Trump zutun, als dass Bidens Erfolge als Präsident bisher größtenteils aus blieben und die Covid Zahlen wieder explodieren. Und ohne die Macht in den beiden Kammern, werden die zwei zusätzlichen Jahre bis zur Wahl umso schwerer für Biden.
Apropos: Donald Trump gilt immernoch als heißer Kandidat für die nächste US-Wahl und auch ansonsten sind die gehandelten republikanischen Vertreter und Vertreterinnen hauptsächlich aus diesem populistischen Lager. Sehen wir also 2024 einen US Präsidenten Trump inkl. republikanischem Kongress, der sich die Demokratie so hinbiegt, wie er möchte? Dass das immernoch möglich ist, ist nicht mehr Satire, es ist gefährlich.
Wir sehen Kai, wie die älteste Demokratie der Welt den Bach herunter geht. Sie geht den Bach herunter, weil Niederlagen nicht mehr akzeptiert werden, weil politische Schuldzuweisungen nicht mehr neutral, sondern nur politisch motiviert gelesen werden. Ich blicke darauf mit großer Sorge.
Es gibt auch gute Nachrichten: Es ist eine Wohltat zu sehen, wie geräuschlos der Übergang hier in Deutschland insgesamt von statten gegangen ist. Und es ist eine positive Überraschung, dass auch die Wahlen in Chile, die für den linken Ex-Studierendenvertreter Boric ausgingen (Öffnet in neuem Fenster), sofort vom rechtspopulistischen Kontrahenten Kast akzeptiert wurden und er Boric gratulierte.
Eine Niederlage, ein Scheitern, einen Fehler zuzugeben, halte ich für eine der größten Aufgaben unseres gesellschaftlichen Verständnisses und für den demokratischen Fortbestand. Der Ausgang bleibt unsicher, es ist aber glücklicherweise etwas, dass wir in unseren tagtäglichen Begegnungen beeinflussen können.
Wie gehen wir mit Argumenten um? Nehmen wir Fehler an, akzeptieren wir, wenn wir falsch liegen? Oder schlagen wir nur mit Gegenanschuldigungen, mit WhatAboutisms, um uns? Sich die eigenen Fehler und Niederlagen, die eigene Fehlerhaftigkeit zu eigen zu machen, ist ein schwieriger Prozess. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass das Bedingung ist, sowohl für jeglichen gesellschaftlichen Wandel als auch für das eigene, menschliche Glück.
Auch Europa wird sich dieses Jahr neu ordnen, ein volles, politisches Jahr liegt vor uns. Landtagswahlen in NRW, Schleswig-Holstein, Saarland. Präsidentschftswahlen in Frankreich und Österreich. Parlamentswahlen in Ungarn. Wie gut wird die Demokratie diese Neuordnung überstehen? Viele Herausforderungen liegen noch vor uns. Gehen wir sie an.
Liebe Grüße
Sven
https://www.youtube.com/watch?v=5LVW95Mxv6k (Öffnet in neuem Fenster)(The Staves - I'm On Fire)