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Lieber Kai,

Es ist schon spät. Aber tatsächlich konnte ich keinen Brief schreiben, ohne die Entscheidung abzuwarten, von der du nicht ganz zu Unrecht befürchtest hast, dass sie das Projekt Europa wie wir es kennen ad acta legen könnte.

Es kam aber nicht so. Recht komfortabel hat Emmanuel Macron seine Wahl gewonnen, wohl mit ca. 58,5 Prozent. Vielleicht irre ich mich, aber ich hatte das Gefühl, als zöge ein großes, demokratisches Aufatmen durch die Straßen um kurz nach acht. Aber ist es wirklich beruhigend, dass 41,5 % Marine Le Pen gewählt haben? Es sind wahrlich nicht 41 % der Franzosen - anscheinend liegt die Stimmen, die ungültig oder eine vote blanc abgegeben haben, eine bewusste Stimme gegen beide Kandidaten, bei 28 % (laut diesem SPON Artikel - ich suche noch nach weiteren Quellen (Öffnet in neuem Fenster)).
Wenn das stimmt, hieße das, dass 28 % der WählerInnen lieber riskiert haben, dass das für sie größere Übel Präsident*in wird, als die Chance sich nehmen zu lassen, durch die eigene Stimme ein Zeichen des Unmuts zu setzen. Ich finde das im Nachhinein beachtlich und demokratietheoretisch auch ziemlich spannend. Problem ist nur, dass selbst bei 90% vote blanc dies immernoch nicht in der Stimmenverteilung einberechnet werden würde, sondern seperat. 

Wenn wir nun aber mal die Gegenrechnung aufnehmen (und dieser einen Quelle von oben glauben schenken) und die 28% miteinberechnen, dann bleiben für Marine Le Pen nur noch 29,88 % (also fast so viel wie für Enthaltung / vote blanc) und Emmanuel Macron nur noch 42,12 %.
Im Gegensatz zum 1. Wahlgang hat sich Macron somit um 14 %, Le Pen um 6,5 % gesteigert. Wenn man bedenkt, dass der rechtsextreme Eric Zemmour 7,07 % geholt hat, konnte sie also anscheinend nicht einmal seine Stimmen 1:1 holen. Wenn meine Mathematik an diesem Sonntagabend stimmt, verliert Le Pen's Prozentzahl ihren Zauber.
Und diese Zahlenkonstellation erklärt auch, warum der Drittplatzierte der ersten Runde, Melonchon, bereits kampfeslustig in Richtung Parlamentswahlen (Öffnet in neuem Fenster) blickt und dort Premierminister (Öffnet in neuem Fenster) werden möchte. 

Die Gespaltenheit, die es in Frankreich, aber auch allgemein Europa gibt, werden langsam wieder klarer. Der erste, starke Gestus des Zusammenhalts des Westens ist nach 60 Tagen Krieg der Realität gewichen, dass es andere Sorgen und auch Parteipolitik gibt. Je länger der Krieg andauert, desto mehr nutzt er sich als Nachricht ab und so mehr werden wir als Bevölkerung uns wieder um unsere Probleme vor der Haustür sorgen. Ist das gefährlich? Ja. Ich glaube das wird bei uns noch einmal länger dauern als in Frankreich. Aber auch so merken wir, dass der Habitus "Wir gegen die" so langsam schwindet, auch, weil Schwesigs Nord Stream 2 Politik einen sehr bitteren Geschmack hinterlässt.

Ich finde es aber zu einfach, jetzt immer weiter auf Schwesig einzudreschen. Schauen wir uns unser Verhältnis zu Russland an. Weder die Krim Annexion noch der nachgewiesene Einfluss in verschiedenen westlichen Wahlen (Brexit, US Wahl 2016) haben bisher dafür gesorgt, dass wir unser Verhältnis zu Russland ändern. Genauso wenig wie der NSA Abhörskandal dafür gesorgt hat, dass wir ein anderes Verhältnis zu den USA entwickeln (wo übrigens nach neusten Erkenntnissen (Öffnet in neuem Fenster) die Dänen den Amerikanern ein wenig unter die Arme gegriffen haben - das merke ich mir!!). 

Russland bescheißt gerne. Das ist auch der Grund, warum sie nicht mehr mit der Nationalflagge bei der Olympia antreten dürfen (Öffnet in neuem Fenster) (Kein Brief von mir ohne Filmtipp!). All das wissen und wussten wir, auch wir Otto-Normal-Bürger und -Bürgerinnen. Es scheint grundsätzlich keine große Bereitschaft zu geben, die unbequemen Wahrheiten unserer Nachbarn und Verbündete in Handlungen umzusetzen. Dass uns dies nun ins Gesicht klatscht, ist hart, aber gerechtfertigt. Und eigentlich ist es verwunderlich, wie lange es uns egal war. Was darf alles passieren, bevor wir als Land aber auch als Bürger*innen aufhören, es uns gemütlich zu machen? Ich würde mir wünschen, wir halten uns nicht an Schröder oder Schwesig fest, sondern denken über diese Themen allgemeiner nach.
Ähnlich wie du in deinem letzten Brief geschrieben hast: Diese Fehlbarkeit ist menschlich, im politischen und wirtschaftlichen Rahmen ist ein gewisser zynischer Pragmatismus wohl sogar überlebensnotwendig. Aber mit welcher Konsequenz wir schwere außenpolitische Vergehen in der Vergangenheit immer wieder ignoriert haben, stellt doch den deutschen moralischen Kompass in Frage. Es wäre wirklich wünschenswert, dass wir unseren Zeigefinger nicht auf andere zeigen, sondern lieber uns an unsere eigene, nicht mehr maskierte Nase fassen. 

Eins noch zu deinem Brief. Du hast geschrieben:

Ich habe das Gefühl, nie war es wichtiger, bei alledem, was uns gerade um die Ohren fliegt, nicht zu vergessen, dass wir die Welt nur verändern können, wenn wir dabei glücklich sind – selbst wenn wir dabei die Zerstörung der Welt noch weiter vorantreiben.

Ich stimme dir da völlig zu. Auch unser Transformationsmotor lebt manchmal nicht von Luft, Liebe oder Ökostrom, sondern von Diesel, Gas oder Kerosin. Oder Lithium (Ich habe jetzt ein iPad, (aber gebraucht natürlich)). Oder Plastik (...und n Apple Pencil). Manchmal aber auch von guten Spaziergängen, den ich bei dem guten Frühlingswetter mit einer guten alten Freundin zurückgelegt habe. Berlin blühte heute auf, wie es so oft tut, wenn die ersten warmen Tage des Jahres anstehen. Plötzlich sind alle auf den Straßen. Das war so bunt und farbenfroh wie Jon Batiste's Auftritt bei den Grammy's.

https://www.youtube.com/watch?v=0t8ncILZJeY (Öffnet in neuem Fenster)


Der Spaziegang beinhaltete auch die gute alte Zettelkultur des Berliner Stadtlebens.

Eigentlich sehe ich nach diesem Erlebnis ja schwarz für uns: Wenn sich selbst hier zwei Menschen nicht finden, sebst hier die Kommunikation nicht gelingt  - wie sollen wir die großen Hürden unserer Zeit meistern?

Aber wieder zurück:
Was mich umtreibt, ist die Frage, wie wir einen gesellschaftlichen Umgang damit finden, diese von dir genannte Fehlbarkeit trotz der andauernden Krisen und der zerstörerischen Folgen nicht nur zuzulassen, sondern anderen Menschen zu gönnen, ohne aber das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren. 

Was ich damit meine: Ich würde mir wünschen, dass jede/r bewusste Entscheidungen trifft, ob sie die nächste Reise mit dem Flieger oder mit dem Rad bestreitet, ob sie das Auto nehmen muss, ob sie überhaupt ein Auto braucht. Das ist zwar ein ziemliches Kopfzerbrechen - wenn aber jede/r das tun würde, wären wir glaube ich schon weiter. Und wenn sich aber jemand dafür entscheidet, dann soll er oder sie sich auch echt darüber freuen dürfen.

Womit wir aufhören müssen, ist andere Menschen dabei zu belehren, was sie zu tun haben, wie sie sich richtig verhalten. Denn diese moralische Überlegenheit und dieses indirekte Androhen von sozialer Sanktionierung drängt Menschen in eine Ecke, die sich dann schon aus Trotz dagegen entscheiden werden, Teil einer Transformation zu sein. 

Die Frage ist aber natürlich: Wie sollen Menschen anfangen, sich den Kopf über Klimaentscheidungen zu zerbrechen, wenn sie nicht dafür sensibilisiert werden, dass das nun mal ununmgänglich-fucking-wichtig ist? Ich habe dazu keine Antwort. Noch nicht. Aber ich glaube irgendwo da ist der Schlüssel versteckt. 

Zum Ende zeige ich dir ein Foto, was ich vorhin gemacht habe, als ich vom besagten Sonntagsspaziergang zurückkam. Da seh ich da dieses betagte Pärchen gemeinsam an mir vorbeirollen, in Richtung Görli, in Richtung Horizont, in Richtung Sonnenuntergang. Mein Lieber, aus den beiden sprach eine absolute Gelassenheit. Machen wir das später auch? 

Ich wünsche dir eine gute Nacht.

Liebe Grüße

Dein Sven

https://www.youtube.com/watch?v=Q9qG2Xb19L4 (Öffnet in neuem Fenster)

(Jon Batiste, Abi Bernadoth - We Are (Montmartre Remix))

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