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Lieber Kai,

Es ist tatsächlich nur eine Woche vergangen. Es fühlt sich jedoch an wie eine Ewigkeit. Nicht nur, dass die Coronalage sich verschlimmert hat. Wir haben auch einen Koalitionsvertrag und zwei Drittel der zukünftigen Minster*innen vorgelegt bekommen. Schweden hat seine erste Ministerpräsidentin bekommen und sie am gleichen Tag wieder zurücktreten sehe (Öffnet in neuem Fenster)n (Öffnet in neuem Fenster). Ähnlich verhält es sich mit so manchen Weihnachtsmärkten, die erst öffnen, damit sie dann wieder schließen. Und seit Donnerstag spukt ein neues Wort durchs Land, das Bevölkerung und Wirtschaft bereits in Angst und Schrecken versetzt: Omikron. Es ist eine erdrückende Lage. Und es ist der erste Advent. Kommt bei dir eigentlich Weihnachtsstimmung auf?

Du sprachst vom Schreckgespenst Sozialismus, das in Chile aufbeschworen wird. Dennoch hat es der sozialistische Kandidat in die Stichwahl geschafft Nun gucken wir mal, wie es gegen seinen (führenden) rechtsextremen Gegenkandidaten Kast so laufen wird (Öffnet in neuem Fenster).
Nach deutscher Parteienlogik war ich bis gestern auch im Mittelpunkt des deutschen Sozialismus, in Thüringen, genauer gesagt Erfurt. In Thüringen regiert seit 2014 (mit 27 Tagen Unterbrechung (Öffnet in neuem Fenster)) nämlich Bodo Ramelow, von der Partei DIE LINKE. Viele Menschen beschworen die gleichen Schreckensbilder hinauf wie gerade in Chile. Sie sahen darin den Einfall des Sozialismus. Ich bin kein Thüringen Experte, habe aber zumindest nicht mitbekommen, dass sich seit Ramelows erster Vereidigung das Bundesland in "Sozialistischer Freistaat Thüringen" umgenannt hat - auch die Taten sprechen dagegen. (Öffnet in neuem Fenster)

Erfurt machte diese Woche aufgrund eines anderen Themas Schlagzeilen. Die Weihnachtsmarktdebatte, sie hatte in Erfurt ihr Epizentrum gefunden. Was war passiert? Thüringen, mit einer Inzidenz von 878 (Bundesweit 446), steckt knietief in der Pandemie. Mit einer Hospitalisierungsrate von ca. 18 hat sie Mitte der Woche die höchste in ganz Deutschland. Zur Erinnerung: Der neue Maßnahmenkatalog erfordert aber einer Hospit.-Rate von 3 bereits 2G, ab 6 sogar 2G+. Was kann da bei 18 noch erlaubt sein?  

Es war dann doch verwunderlich, dass am Dienstag zwei Dinge gleichzeitig in Erfurt passieren: In der Staatskanzlei (Regierungsstraße 73) beschließt die Regierung einen Teil-Lockdown für Thüringen, inkl. 2G im Großteil des Einzelhandels und Ausgangssperre für Ungeimpfte.

600 Meter weiter, auf dem Erfurter Domplatz, eröffnet am gleichen Abend Bürgermeister Bausewein (SPD) den drei geteilten Erfurter Weihnachtsmarkt. Was drei geteilt heißt? 

Auf dem Domplatz öffnete am Dienstag nicht nur ein Weihnachtsmarkt, sondern gleich drei, nebeneinander mit jeweils getrennten Eingängen. Warum ist das passiert? Bürgermeister Bausewein umging so die damals noch gültige Regelung, dass jede öffentliche Veranstaltung unter freiem Himmel nur maximal 2000 Teilnehmer*innen haben durfte. Durch diese Dreiteilung vollbrachte Herr Bausewein das erste Weihnachtswunder: Nicht 2000 Menschen, sondern 6000 Menschen konnten gleichzeitig auf den Weihn (Öffnet in neuem Fenster)achtsmarkt strömen. (Öffnet in neuem Fenster) Und sie taten es auch. 

Die Verordnung der Thüringer Landesregierung enthielt jedoch auch dafür am Dienstag etwas bereit: Laut dieser müssen Weihnachtsmärkte, wie auch Bars und Clubs, schließen. Am Mittwoch ging die Verordnung durchs Parlament, am Donnerstag wurde sie Gesetz. Und somit musste der Erfurter Weihnachtsmarkt nach nur zwei Tagen wieder schließen. 

Gestern ging ich genau an diesem Ort spazieren. Es war mein erster Besuch in Erfurt überhaupt. Die Stadt ist durchaus gut besucht, sogar kleine touristischen Gruppen zogen samt Stadtführer am Dom oder an der Krämerbrücke vorbei. Ansonsten aber viel Stille. Umso durchdringender wirken die Straßenmusiker, die quer durch die Stadt verteilt sind. Manche spielen orientalisch anmutende Folklore, eine Gotik-Gruppe mit Dudelsack ist auch dabei. Nähe des Luthermarkts sorgt ein Saxophonist dafür, dass "Feliz Navidad" durch die leeren Straßen hallt. Eine traurige, zugleich rührende Atmosphäre. 

Am Rande des Weihnachtsmarkt hat der Wochenmarkt geöffnet. Das dominante Thema ist, neben dem Verkauf von frischem Gemüse, der Teil-Lockdown. Unwissende Tourigruppen treffen auf resignierende Thüringer Marktverkäufer*innen. Montag soll neu entschieden werden, heißt es. Aber Hoffnung klingt anders.
Ich komme an zwei Frauen vorbei. Die eine berichtet der anderen davon, dass sie Dienstag dann doch auf den Weihnachtsmarkt gegangen ist. "Um wenigstens einmal dieses Jahr drüber gelaufen zu sein". Es war aber doch irgendwie enttäuschend, sagte sie. 

Ich bin kein Weihnachtsmarktgänger. Das Betrinken am Glühweinstand oder das Kaufen von gebrannten Mandeln oder Lebkuchenherzen habe ich vor Jahren schon in die "Konsumorgie"-Schublade gesteckt. Hier in Berlin empfinde ich Weihnachtsmärkte auch als einigermaßen unspektakulär und unpassend. Im Gegensatz zu Städten mit klarem Stadtkern, verschluckt Berlins stadtbildliche Collage so etwas wie den Weihnachtsmarkt, bindet es nicht in das Stadtbild ein.
Ja, ich weiß, es gibt sie, aber sie nehmen die gleiche Event-Flächen ein, wie auch das Oktoberfest oder sonst ein Fest, was sich irgendwer ausgedacht hat, um Geld zu machen. Der Funke, der springt hier einfach nicht so über für mich. Auch in meiner Hamburger Jugend hat sich der Weihnachtsmarkt nie wie ein Bestandteil der Stadt angefühlt. Eher wie ein Appendix. Sowieso bin ich doch eher Weihnachtsmuffel. Ob da ein Zusammenhang herrscht?

In Erfurt ging es mir da anders. Überall in der Stadt kam ich an kleinen Buden vorbei. Es gibt dort nicht nur DEN Weihnachtsmarkt, in der ganze Innenstadt stehen kleine Büdchen, die das Weihnachtsthema aufgreifen. Hier wird Weihnachten Teil des Stadtbildes. Mein persönliches Highlight waren ein dutzend Schaufensterbuden, die jeweils ein deutsches Märchen anhand von Puppen dargestellt haben. 

Als ich später am Tag an den gleichen Buden vorbeikam, stand da ein Mann mit Rauschebart, der in traditionellem Kostüm vor einer Schar voll Kinder mit Leib und Seele die Märchen vortrug. So etwas habe ich lange nicht mehr gesehen. Und ja, es hatte einen gewissen Weihnachtszauber, trotz der Tristesse drumherum an diesem graukalten Tag. 

Auch mich ergriff daraufhin irgendwie eine Art Melancholie, vielleicht waren es auch meinen Kindheitserinnerungen. Für viele Kinderaugen der Jetztzeit wird es nun das zweite Weihnachtsfest sein, in dem Weihnachten nicht nur von stillen Nächten, sondern auch von stillen Tagen begleitet wird. Die Schließung der Weihnachtsmärkte ist für jemanden wie mich kein Problem, aber für viele Menschen ist es der Wegfall einer kulturellen Tradition, die mehr Bedeutung hat als meine zynische Reduzierung auf Glühwein und Konsum. Vom wirtschaftlichen Schaden der Schausteller, die seit Sommer für den Weihnachtsmarkt backen und basteln, ganz zu schweigen.
Aber gute Nachrichten sind gerade Mangelware. 

Vor uns stehen wohl wieder einmal eher leise Weihnachtsnächte. Ich denke der Lockdown wird kommen. Ich kenne keinen anderen konsequenten Ausweg, um die Zahlen entschieden zu drücken. Wenn ich aber sehe, wie eine sympathische und schöne Stadt wie Erfurt dadurch verstummt, dann erahne ich doch die Traurigkeit, die diese Maßnahmen auslösen. 

Kurz bevor mein Zug fuhr, zurück in die immer laute, stets erleuchtete Hauptstadt, saß ich an der Krämerbrücke und trank noch einen Glühwein. Gut möglich, dass es mein einziger dieses Jahr gewesen ist.

Einen frohen erste Advent. 

Liebe Grüße

Sven 

https://www.youtube.com/watch?v=3pC2cHHPQ-A (Öffnet in neuem Fenster)

(À la claire fontaine - Genevoise)

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