Familie um jeden Preis? Wie unser Familienideal den Gewaltschutz für Frauen und Kinder gefährdet.
Zum Tag der Familie

Von Tina Steiger
Heute am 15. Mai 2025 ist Tag der Familie. Familie steht für Glück, Zusammenhalt und Schutzraum. Familie ist vielen Deutschen auch Identität, moralischer Kompass und das oberste Lebensziel. Doch was, wenn Gewalt und Missbrauch ins Spiel kommen? Studien zeigen, dass sich die moralische Verurteilung dann nicht gegen diejenigen richtet, die die Familie durch Gewalt zur Gefahrenzone machen, sondern gegen Frauen, die sich trennen, um sich und Kinder zu schützen.
Familie ist Schutz, Liebe, sie ist wertvoll und der sichere Hafen in unsicheren Zeiten wie diesen. Familie ist auch Zusammenhalt und Gemeinschaft, ein enger vertrauter Kreis, den es gegen Einflüsse von außen zu schützen gilt. Gewalt kommt in diesem Bild nicht vor. Und sie tut es doch. Erneut zeigen Zahlen eine Zunahme um vier Prozent bei häuslicher Gewalt, wie der WEISSE RING diese Woche neu aus Erhebungen zu 2024 vermeldete. Für weit mehr als eine Million Menschen in Deutschland ist Familie kein sicherer Ort. (Hellfeld und Dunkelfeld)
Ihre Flucht gilt als Verrat an der Familie,
der verwerflicher ist, als die Gewalt selbst.
Das Risiko getötet zu werden, ist für Frauen zuhause weit größer als nachts in den Straßen. Der Täter ist in den allermeisten Fällen der Mann, der mit ihnen beim Familienabendbrot gemeinsam am Tisch sitzt. Eine Studie aus Bayern1 zeigt anschaulich, wie unser unantastbares Familienideal den Gewaltschutz gefährdet. Die Erhebungen aus Bayern zeigen: nicht wer in der Familie Gewalt anwendet, wird dafür gesellschaftlich verurteilt, sondern in den meisten Fällen stattdessen das Opfer, das über die Gewalt spricht. “Familieninternas außerhalb teilen, das gehört sich nicht”, findet die Mehrheit, der in der Studie befragten Personen. Vor allem dann, wenn sie dem traditionellen und bürgerlichen sozialen Milieu angehören. Was in der Familie passiert, bleibt in der Familie – so der Grundsatz. Mit fatalen Folgen. Denn wenn Frauen über erlebte Gewalt, sexuelle Übergriffe oder psychischen Missbrauch sprechen, sind sie es, die man dafür attackiert. Besonders im ländlichen Raum und in konservativen Milieus, so die Studie, gelte die Annahme, dass man einen schlagenden Ehemann eher innerhalb der Dorfgemeinschaft auf den “rechten” Weg zurückbegleiten sollte, mit ihm sprechen, ihm helfen (!). Dass sie sich trennt, offen über die Gewalt spricht und sich mit einem Gerichtsverfahren vor seinen Übergriffen schützen will, gilt als Todsünde. Schließlich heiße Familie auch, dass man einander verpflichtet sein, in guten wie in schlechten Zeiten. Ihre Flucht und Anzeige gilt als Verrat, der verwerflicher ist, als die Tat selbst.
Die genannte Studie, zu finden über www.bayern (Öffnet in neuem Fenster)-gegen-gewalt.de, beschäftigt sich mit dem Gewaltverständnis innerhalb sozialer Millieus in Bayern. Sie macht deutlich: Wer Opfer von Gewalt wird, hat in der Annahme der meisten, selbst etwas verschuldet und/oder charakterliche Defizite. Und wer deshalb “eine Familie verlässt, also zerstört”, der tut “Unanständiges” und “hat die Kinder nicht im Blick.” Diese Haltungen sind der Schlüssel, um Täter-Opfer-Umkehr gegen Frauen zu verstehen. Diese Stereotype über Frauen, die “schwach genug sind”, um Opfer zu werden und hinterlistig genug, den armen Mann dann vor Gericht zu bringen, sitzen unendlich tief.
Frauen werden für das Gelingen
von Familien verantwortlich gemacht.
Auch wenn er zuschlägt.
Die Verantwortung für das Gelingen einer Familie wird selbst bei gewalttätigen Übergriffen des Mannes auf seine Partnerin ihr zugeschoben. Neben dem Care-Gap, dem Mental Care Gap, dem Pay Gap zulasten ihrer Selbstbestimmung und Altersvorsorge gibt es damit auch den Verantwortungs-Gap bei Gewalt. Er schlägt zu, sie soll es richten. Und schweigen. Sie soll seine Aggressionen beschwichtigen, ihn besänftigen, seinen Stress verstehen und schnell verzeihen. Seine emotionale Arbeit im Trauma mitleisten. Gütig sein. Eine gute Mutter. Und dann fragen wir Frauen, warum sie nicht gegangen sind.
Frauen sind es, die Familien tragen. Sie leisten Stunden in der Höhe von Vollzeitjobs, oft neben ihren Vollzeitjobs für die Familienarbeit, während er “ja schließlich arbeiten geht”. Sie sind Familienkoordinatorinnen, Micro-Managerinnen sogar seiner Belange und stützen mit ihrer unentgeltlichen Care-Leistung auch gleich die vom System verschuldete Kinderbetreuungsnot mit.
Ein besonders spannender Aspekt der Studie ist der Blick auf das dort sogenannte Benachteiligten-Milieu. Frauen dort gelten als die heimlichen Bread winner. Sie sind es, die eigentlich das Geld nach Hause bringen. Heimlich deshalb, weil ihre oft zutiefst patriarchal geprägten Männer finden, der Mann muss als Familienoberhaupt die Familie ernähren. Nur tut er es oft nicht. Frauen dieser befragten Gruppe gaben an, dass sie oft zwei oder drei kleine Jobs stemmen neben Kindern und Haushalt, während er im Hauptjob zu wenig verdient oder arbeitslos ist. Aus diesem Spannungsfeld aus Wunsch und Wirklichkeit im Rollenverständnis entsteht bei ihm der Funke für gewalttätige Übergriffe.
Auch diese Frauen erfahren, wenn sie sich aus der Gewalt befreien, die Verurteilung der Gesellschaft, sie habe mit ihrer Trennung “die Familie zerstört”. In familiengerichtlichen Verfahren wird ihnen erklärt, sie müssen jetzt mit dem Täter gemeinsam in die Zukunft sehen. Der Kinder zuliebe sollen sie wieder für den Ausgleich sorgen. Frauen, die sich aus Gewalt befreien, gelten einer konservativen Gesellschaft als diejenigen, die Familien zerstören. Sie habe ihm die Familie genommen, ist so häufig auch das Argument der Männer, die “ihre” Frauen, die sie als Besitz verstehen in Femiziden töten.
Solange wir Frauen die volle Verantwortung für das Gelingen und Scheitern von Familien zuschreiben, hält unsere Gesellschaft Frauen in Gewalt gefangen. Die Verantwortung für Gewalt in allen Formen trägt allein ein Täter, der sie ausübt. Damit zerstört er die Familie. Damit bringt er Kinder um die Chance, in einer Familie aufzuwachsen. Frauen, die sich trennen, retten sich und diese mitbetroffenen Kinder. Sie sind als Einheit mit ihren Kindern die neue Familie. Sie sind es, die erneut Verantwortung übernehmen. Politik, Gesellschaft, Justiz und Medien müssen dringend umdenken, wenn es darum geht, wen sie wie für das Scheitern von Beziehungen framen. Der Job von Frauen ist es nicht, Familien zu retten, in denen sie erniedrigt und geschlagen werden.
Studie zu „Gewalt und Milieus – Einstellungen zu Gewalt und Gewalterfahrungen in Bayern“
Mit „Bayern gegen Gewalt“ (Öffnet in neuem Fenster) setzt Bayern seit 2018 Maßnahmen zum Gewaltschutz und zur Gewaltprävention in einem 3-Stufen-Plan um.
Mit der Erstellung der Studie wurde 2019 Prof. Dr. Carsten Wippermann, Leiter des DELTA-Instituts für Sozial- und Ökologieforschung (Öffnet in neuem Fenster) und Professor für Soziologie an der KSH-München beauftragt. „Das Forschungsprojekt liefert wichtige Hinweise darauf, was die Menschen in den verschiedenen sozialen Milieus in Bayern unter Gewalt verstehen, wie sie Gewalt erleben und wie sie sie einordnen,“ betont Prof. Wippermann.
(Quelle: Deutscher Präventionstag)
Die Studie „Gewalt und Milieus – Einstellungen zu Gewalt und Gewalterfahrungen in sozialen Milieus in Bayern“ ist barrierefrei verfügbar unter Downloads (Öffnet in neuem Fenster) via „Bayern gegen Gewalt“ (Öffnet in neuem Fenster). ↩