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Zu BRAVO TV 1993

Jüngst erschien bei Ullstein ein Interviewband mit dem Titel "MTVivaliebtDich! (Öffnet in neuem Fenster)" - Interviews mit allerlei Prominenz von Scooter bis Joko Winterscheidt zur Gründung von VIVA. Eine Zeit des Aufbruchs der deutschen Popmedien. Möglich machten in die prall gefüllten Geldsäcke der Musikindustrie, die sich über Dieter Gorny in der NRW-Politik abzusichern wusste und vorrübergehend eine immense Wirkung in Popkultur und Medien entfaltete.

Ich arbeitete damals als Praktikant bei BRAVO TV. Im Juni 1993 stieß ich zu einem Team, in dem zu arbeiten mir immense Lernmöglichkeiten rund um audiovisuelle Medien erlaubte.

Die Erinnerungen daran, wie VIVA in den Räumlichkeiten der Produktionsfirma Me, Myself & Eye das Tagesgespräch anfütterte, flimmern in mir noch quicklebendig. Piloten für Sendungen wurden produziert, Debatten geführt. Die Gründer der MME, Jörg A. Hoppe und Christoph Post, initiierten die deutsche Alternative zu MTV und suchten sich Kooperationspartner wie Frank Otto und die "DoRos", einer Produktionsfirma in Wien. Das Unternehmen erlnagte durch die Produktion der Videos für Freddie Mercuys "Queen" Berühmtheit. Mit Hannes Rossacher, einem der Gründer dieses Unternehmens, habe ich später bei einigen Projekten sehr gut zusammengearbeitet. Wie die Gründung, das Etablieren von Netzwerken und die frühe Arbeit von VIVA sich vollzog, das kann dank "MTVivaliebtDich" in Interviews mit Christoph Post und Hannes Rossacher nachvollzogen werden.

 In der BRAVO TV-Redaktion versammelte sich die Belegschaft vor Bildschirmen, um sich Casting-Bänder für die Moderationen anzuschauen. Wir amüsierten uns königlich über die "Viva liebt Dich" und "Wir sind jetzt für euch da!"-Attitude von Heike Makatsch, Mola Adebisi und Nils Bokelberg und fanden sie zu platt. Doch es funktionierte gut. Christoph Post agierte als erster VIVA-Programmdirektor, nachdem er zuvor BRAVO TV ins Leben rief und die Produktion  als Teilzeit-Redaktionsleiter und Vollzeit-Produzent auch steuerte. Ihm gelang es, noch die "BRAVO Supershow" in einer BRAVO TV-Sondersendung als Fernsehformat vorzubereiten. Die Sounds kreischender und entfesselter Teenies füllten tagelang die Redaktion, die rund um einen großen Archivraum in einer Art Loft angelegt waren.

 Eine knapp am Zynismus vorbei schrammende Bad Taste-Orientierung, die Zuschauer*innen-Bedürfnisse antizipiert und sodann mit einem Hauch von Verachtung überpointierte, fungierte als lediglich eines der Tools in MME-Produktionen, wie sich später auch in dem Engagement von Verona Feldbusch für "Peep!" zeigte, nachdem sie als Dieter Bohlens Gespielein auf Seite 1 der BILD erschien, oder als skandalträchtig, das "Gemächt" von Gotthilf Fischer in der Sendung "Banzai!" gewogen wurde. Parallel jedoch gelang es Jörg A. Hoppe in den frühen 90ern, mit "Canale Grande" ein bis heute unübertroffenes Medienmagazin für VOX zu entwickeln. Es herrschte Aufbruchsstimmung in der Branche, als mit VOX, RTL 2 und ProSieben die zweite Generation der Privatsender Inhalte suchte, die ihnen Profil verschaffen konnten. Später vollbrachte Hoppe eine nicht genug zu würdigende Produzentenleistung, als er die zwölfteilige Doku-Reihe "Pop 2000 - 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur" zusammen mit Rolf Bringmann vom WDR ermöglichte. Beide erhielten dafür einen Adolf Grimme-Preis, ich als Autor von 4 Folgen ebenfalls.

  1993 fiel ich mehr oder minder aus dem Philosophieseminar direkt in den "AVID" von BRAVO TV. Eine für mich sofort faszinierende Welt. Diese neue Generation von digitaler Schnittechnik setzte die MME früher als andere Firmen ein. Es wurden "Offline" Bildsimulationen in geringer Auflösung montiert. Erst später, beim "Onlinen", kopierten wir in einem Dreimaschinenschnittplatz die "Originalbilder" von Rohmaterialbändern, man drehte auf dem noch analogen Videoformat Beta SP in 4:3, auf ein Masterband. Das funktionierte ein wenig so, wie den Kopiervorgang von einer Musicassette auf eine andere. Die Älteren werden das Prinzip noch kennen.

  Diese Beitrags-Masterbänder fügten Editoren und Redakteure später im zweieinhalb Tage bis tief in die Nacht währenden "Endschnitt" mit vorproduzierten Grafiken und Moderationen - Kristiane Backer prösentierte, durch MTV bekannt geworden, BRAVO TV - mit Hilfe komplexer "DVEs", digitaler Videoeffektgeräte, und einem schwerfälligen Schriftgenerator zusammen.

Mit diesen "Endschnitten" finanzierte ich die Prüfungsphase meines Magisterstudiums. Mittlerweile funktioniert das längst alles auch hochauflösend in digitalen Schnittsystemen, die auch Youtuber und Tik Tok-Affine auf ihrem Laptop installiert haben. 1993 produzierten wir mit dieser Technik erheblich aufwändiger.

Das Timeline-Prinzip der "AVIDS", jener bis heute immer ausgefeilter funktionierenden digitalen Schnittsysteme, ist konstitutiv für die Argumentation in meiner Dissertation "Docutimelines (Öffnet in neuem Fenster)". Man kennt es mittlerweile aus verbreiteten Programmen wie "iMovie". Ton- und Bildspuren liegen auf der Benutzeroberfläche visualisiert übereinander, so, dass die jeweils gewählten Sequenzen als Grafikblöcke sichtbar werden. Links stand ein kleines Fenster für die Rohmaterialien bereit, rechts eines für das entstehende "Master", den fertigen Magazinbeitrag. Es gibt Gründe, die im Schnitt und in Kommunikationen mit Chef*innen und Kund*innen anleiten, welche Sequenzen und Ausschnitte ausgewählt werden. Jedes eingesetzte Material hat seine eigene Entstehungsgeschichte. Aus diesen Grundgedanken entwickelt ich in dieser Doktorarbeit meine Argumentation.

  1992-93 beherrschten die Debatten rund um den "Asylkompromiss" den politischen Diskurs. Hoyerswerda, Solingen, Lichtenhagen zeigten sich als furchtbare Wirkung einer zutiefst rassistischen Diskussion rund um Zuwanderung. Universitätseminare, ich studierte Philosophie, Soziologie und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte incl. Veranstaltungen bei den "richtigen" Historikern, reflektierten diese Vorgänge. Ich verfasste so eine Arbeit zu Antisemitismus im Geschichtsseminar, direkt aus dem "News"-Schnitt von BRAVO TV kommend. Ein Ableger des dazugehörigen Referats folgte in einem anderen Seminar, in dem ich völkisches Denken des frühen 20. Jahrhunderts auf die Rassismus-Wellen, die Deutschland erschütterten, bezog. Ich arbeitete mich ein in die nationalen Verbände im Kaiserreich, während ich parallel mit Beverly Hills 9210 und Marky Mark beschäftigt war, zum Glück komplett amerikanisiert. Untersuchte so z.B. den "Alldeutschen Verband", eine einflussreiche Eliteorgansation im Kaiserreich, in der Antisemitismus und imperialistische Bestrebungen angestachelt wurden, forschte zu Nationalismustheorien aufgrund der Wiedervereinigung. Im AVID begegnete mir anschließend im “Eurodance” mit Dr. Alban und Haddaway eine von Schwarzen geprägte Musikwelt, zu der die Massen tanzten. "Mr. Vain" von Culture Beat hielt sich Woche um Woche auf Platz 1 der BRAVO Charts. 

  In Philosophie wirkte die Postmoderne-Diskussion nach, jene harschen Konflikte zwischen dem Umfeld von Jürgen Habermas einerseits, dem von Lyotard, Derrida und Foucault auf der anderen Seite des Rheins. Im Mittelpunkt standen Polarisierungen zwischen Wahrheit und Relativismus, Moral als Gerechtigkeit oder aber als Machtsystem. Die "Kommunitarismus"-Debatte hob die Fragestellungen auf eine neue Ebene, weil angloamerikanische Denker wie Charles Taylor und Alasdair McIntyre eine Denken in "Communities" gegen liberale Individualgrundrechte ins Feld führten. Derweil tanzte die schwedische Army of Lovers, benannt nach dem "Queer Nations Manifesto" - "An Army of Lovers Cannot Lose (Öffnet in neuem Fenster)" -, zu "Cruzified". Take That, die ihre Karriere bei Touren durch schwule Clubs begonnen hatten, bewegten sich auf den Superstar-Status zu. Okay, Bon Jovi gab es auch und Mr. Big leider ebenso.

BRAVO, der Titel der Zeitschrift, galt als Credo. Die boulevardesken Elemente des Magazins adaptierten wir nicht. Wir betrieben reine Positivberichterstattung. Das kann man als affirmierende Inszenierung von Fantum, verlogen und artifiziell, behaupten. Oder eben als den Versuch, mit Menschen vor der Kamera so umzugehen, dass sie nicht vorgeführt oder denunziert werden. Und warum soll man auch Captain Hollywood kritisieren? Für uns galten in dieser verdichteten Pop-Welt andere Regeln, als wenn wir Schönhuber von den Republikanern portraitiert hätten.

Baudrillards Simulationstheorie, die später auf die "Matrix-Filme" einwirkte, diskutierten parallel Studierende ebenso heiß wie allerlei Denken rund um die Beschleunigung von Gesellschaften durch Medien. Wir hatten eine sehr hohe "Schnitt per Minute"-Frequenz bei BRAVO TV, wollten es aber nicht ganz so weit treiben wie MTV, wo noch Halbbildschnitte aufflackerten. Es war eine in sich geschlossene, simulierte Welt rund um die Stars der Teens - die BRAVO-WELT -; eine harmlose, bunte, poppige.

  Ich genoss es, nicht mehr nur durch Texte in Bänden der “Suhrkamp-Taschenbuch-Wissenschaft-Welt” zu wühlen, sondern mit und in dieser geballten Sinnlichkeit der Bilder und Musik arbeiten zu können. Die BRAVO beherrschte damals Teenie-Kultur souverän. Eine Macht, der an Charts orientierte Acts nicht ausweichen konnten. Deren Chefredakteur begutachtete jeden Beitrags-Rohschnitt - wenn ich mich recht entsinne, Sonntagmorgens in seinem Bett mit der Hand an der Fernbedienung des Videorekorders. Anschließend leitete man uns hämische, vernichtende, aber auch belobigende Änderungswünsche weiter.

  Eines der schlimmsten Vergehen meiner Laufbahn passierte mir, als ich bei einem nachts um halb 3 abgeschickten Fax den Namen des Chefredakteurs falsch geschrieben habe.

  Die Arbeitsintensität war hoch, die Anbindung an Plattenfirmen ausgeprägt - man konnte Stars noch nicht über Facebook oder Instagram kontaktieren, und erhebliche Teile des Rohmaterials speisten sich aus ihren Archiven. Videoclips wie auch so genannte E.P.K.s, Electronic Press Kits, vorgeschnittene Interviews mit Stars und ein paar Bildern drumherum, verarbeiten wir weiter und hatten große Probleme, die darin enthaltenen Schrifteinblendungen verschwinden zu lassen. Weil sie nicht zu der Grafik der Sendung passten. In einzelnen Fällen, so z.B. bei Take That, wurden auch Pressekonferenzen für uns mitgeschnitten. Kurz: es machte Spaß, zeigte sich bunt und divers - aber auch vermachtet und durch und durch kommerzialisiert.

  Inmitten dieser Welt boten sich jedoch Möglichkeiten dessen, was heute als "Diversity" gelabelt wird - solche, wie ich sie danach nur noch dann erlebte, wenn ich selbst für die Einstellung von Personal mitverantwortlich war. Die MME wuchs und gedieh. Sie war voll von Queers. Ende der 90er zog MTV in den selben Gebäudekomplex in Barmbek, in dem die MME mittlerweile residierte. Dort arbeiten auch schwarze Frauen als Vorgesetzte, in Deutschland bis heute unüblich. Der Frauenanteil in den Teams war für damalige Zeit ungewöhnlich hoch, auch in leitender Funktion - ein außerordentlich fruchtbares und vielfältiges Arbeitsumfeld, das zum Erfolg des Unternehmens beitrug. Auch wenn mir eines Tages erzählt wurde, als ich trans Menschen in einer Sendung von ihrer Geschlechtsangleichung berichten lassen wollte, dass von so was "Zuschauer sich belästigt fühlen würden". Ein Satz, der mich bis heute schockiert. Er kam nicht von der BRAVO, die in Thematisierung Fragen z.B. der Homosexualität durchaus die gruseligeren Phasen der Dr. Sommer-Aufklärung hinter sich gelassen hatte.

 Sie zeigte sich auch offen für Beiträge über ICE-T, in denen die brutale Situation schwarzer Menschen in den USA ausdrücklich thematisiert werden konnten. War auch ein Großteil des Programms an den "Trendcharts" orientiert, die kurz vor Veröffentlichung der jeweiligen Top 100 kursierten, nur Top 20-Themen waren erlaubt, so war es doch möglich, punktuell solche Nischen zu besetzen.

  Ich wusste, dass damit ein wesentlich breiteres Publikum zu erreichen wäre als mit Flugblättern auf Antirassismus-Demos. Ich fand die Boygroup-Welt nicht nur selbst sexy, sondern auch gut, dass hier für Heranwachsende die Möglichkeit der Einübung ins Erotisches und Amouröses möglich wurde, ohne sich Verletzungen oder Traumata auszusetzen. Ich hatte Spaß daran, Caught in the Act Fragen zu stellen wie jene, wie es denn sei, wenn man sich selbst als Mann auf der Bühne in einer Form als sexy präsentierte, die doch sonst eher Frauen aufgeprägt würde. Ich weiß nicht, ob sie auch Spaß an dem Interview hatten, aber die Antworten damals in einem Hotel in Hamm waren gut. Nach und nach entwickelte ich leichte Aversionen gegen Alternative-Acts, die sich als ach so credible inszenierten, während doch progressives Potenzial, nämlich der auch, aber nicht nur queer codierte Wandel von Männlichkeiten, sich eherin BRAVO TV aufspüren ließ. Ja, Kurt Cobain proklamierte ihn auch. Aber zeigte sich das in der Musik?

Die Beiträge zu Bulemie als Reaktion auf Schönheitswahn und Körperkult lieferte das Dr. Sommer-Team gleich mit.

 Inmitten von lauter "süße Boys" und "sie danken ihren Fans"-Off-Texten haben wir uns außerordentlich uneitel ganz dem hingegeben, von dem wir glaubten, dass es Teenies guttut, und sie dabei ernst genommen. Hier konnte "Diversity" intensiver gestaltet und modelliert werden als im ARD-Hauptprogramm. Es kam zu Smalltalks im Nightlife wie jenem im kleinen House-Clubs "Or" an der Gerhardstraße unweit des Hans-Albers-Platzes, da mir bei einem Flirt ein Mann nicht glauben wollte, dass ich gleichzeitig Philosophie studierte und bei BRAVO TV arbeitete. Das Umfeld des "Or", wo die unvergleichliche Miss Nico als DJ arbeitete, gehörte zu den Netzwerken rund um Andrea Junker. Sie produzierte die bis heute avancierte Sendung "Housefrau TV". Für VIVA. Unter Christoph Post als Programmdirektor.

  Sich abschottende Indie-Szenen oder "kommerzkritische" Milieus, die oft mit Arbeiten im Mainstream, bei Werbeagenturen, in der Chemieindustrie Geld verdienen, um anschließend ehrenamtlich Gutes zu tun, haben diese gesellschaftliche Power allenfalls zu Zeiten des Techno-Booms erreicht. Wir hatten Möglichkeiten inmitten eines millionenschweren Marktes, die sich besser in manches dessen fügten, was ich im Studium zu lernen glaubte, als Arbeit im Stadtteilzentrum. So erschien es mir zumindest.

  Das kann nie in Plädoyers für die totale Ökonomisierung münden. Es gab jedoch eine lebensweltliche Verankerung des Ökonomischen, Teenage-Welten, an die wir auch inhaltlich andocken konnten und die wir gestalten konnten. Das war kein "richtiges Leben im Falschen". Aber es war auch nichts.

  Heute folgt solche Ansätzen das hochkommerzielle Netflix, zumindest manchmal, mit Serien wie "Sex Education". Hier wirkt ein Spirit, der fortsetzt, weiterentwickelt, was wir, so glaube ich, damals leisteten.

Die Relationen von Markt und Inhalt, so scheint es mir, werden nicht immer richtig bestimmt, wenn es um progressive Tendenzen statt schnöder Retropien geht.

So die "Moral von der Geschicht" ...

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Kategorie Medien

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