Der FC St. Pauli, Bad Religion und ein Social-Media-Shitstorm: Wieso es sinnvoll ist, zwischen dem Spirituellen, Religionen und Politiken zu unterscheiden
Es begab sich aber zu der Zeit, da sich nicht mehr ignorieren ließ, dass mein Begehren sich nicht in heteronormativen Bahnen bewegen würde, dass die Zeugen Jehovas an unserer Haustür klingelten. Da diese sich in der Regel als recht bibelfest erweisen, befragte ich sie zu dem, was gemeinhin "Homosexualität" genannt wird und dessen Thematisierung in der Bibel. Ein klinischer Begriff aus der Psychopathologie, den ich eher meide und auch damals nicht mochte. Er schien mir auch nichts mit dem zu tun zu haben, was ich empfand, wenn ich K. oder H. betrachtete - ein komplexes Bündel aus Lüsten und Begierden, Gefühlen, Nähewünschen und -ängsten, ästhetischen Empfindungen und Hilflosigkeit. Auch, weil mir schien, dass Worte fehlten, das zu artikulieren, was in mir vorging und natürlich die Furcht vor ziemlich wahrscheinlichen Zurückweisungen in einer heterodominierten Welt mich sowieso lähmte.
Ich war durchaus evangelisch sozialisiert, ich und meine Geschwister haben alle Jugendarbeit in der örtlichen Kirche gemacht. Ich mochte schon die Kindergottesdienste. Es ding dort in den frühen 80er Jahren jedoch auch wenig um die Bibel und konkrete Textpassagen, die heilige Dreifaltigkeit oder ein tieferes Verständnis des Glaubensbekenntnisses, das man für die Konfirmation auswendig lernte - alles eher diffus gütig und friedlich.
Nun standen da die Zeugen Jehovas und riefen Algorithmen gleich die Zitate von ihrer inneren Festplatte ab, die in diesem Fall immer angeführt werden - Römer 1, 26-27 und Leviticus 1,22. Im ersten Passus - angesichts dessen, dass ich den Text aufgrund eines Shitstorms verfasse, dem der FC St. Pauli, dessen Mitglied ich bin, gerade ausgesetzt ist, nicht frei von Ironie - beschreibt in einem seiner Briefe der heilige Paulus den Abfall vom Glauben. Dieser würde den "Zorn Gottes" nach sich ziehen und führe dazu, dass Gott die Menschen "entehrenden Leidenschaften" aussetze". Zu denen gehöre, dass "Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer treiben mit Männern Unzucht und erhalten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung." In Leviticus, ein Buch des Alten Testaments, heißt es: "Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel" - inmitten diverser anderer Regeln wie z.B., dass man sich Frauen während der Menstruation nicht nähern solle. Der erste Passus gehört zu den weltweit bekannteren Bibelversen, die letztere Regel als Religiöse vermutlich eher nicht mehr. Vielleicht irre ich. Selektive Bibel-Lektüren sind jedoch nicht selten.
Es toben zumindest in den letzten 20, 30 Jahren intensive Debatten auch innerhalb der Kirchen, ob diese von den Zeugen Jehovas damals an der Haustür prompt referierten Passagen überhaupt das meinen könnten, was wir heute unter "schwul" oder "lesbisch" verstehen. So etwas habe es doch damals als Konzept oder Lebensform gar nicht gegeben, allenfalls als Praxis. Michel Foucault führte in “Sexualität und Wahrheit” aus, dass das überlieferte Schriftgut aus altgriechischer und römischer, vorchristlicher Zeit zu diesen Praxen deshalb so umfangreich sei, weil es durchaus als Problem angesehen wurde, dass zwei freie Männer miteinander rummachen; eine Sicht, die im Umgang mit Sklaven nur dann als problematisch angesehen worden sei, wenn sich der in der Hierarchie höherstehende von seinem Besitz penetrieren ließe - ja, das Patriachat.
Diese Bibelverse haben dennoch Jahrhunderte Wirkung gezeigt, wurden in weltliches Recht überführt - Leonardo da Vinci überlebte eine diesbezügliche Anklage -, und sie wirken auch heute noch überall. Da, wo das Christentum in seinen ausdifferenzierten Strängen gesellschaftlich über Macht verfügt. Sei es in afrikanischen Staaten des Subsahara-Raumes, wo die Entrechtung von LGBT* bis hin zur Forderungen nach der Todesstrafe oft von US-Akteuren propagandistisch angestachelt wurde und wird, sei es in Brasilien, wo Evangelikale enormen Zuwachs erfahren (und Judith Butler als Hexe verbrennen wollten), oder auch im Umfeld der Trump-Kampagne - es west weiter. Wobei sich dort aktuell vor allem auf trans eingeschossen wird; es sind unzählige Gesetze auch gegen LGBT* allgemein in den letzten Jahren verabschiedet worden in US-Staaten. Am bekanntesten wohl das "Don't say gay"-Gesetz in Florida unter Ron de Santis, der sich explizit auf Katholizismus beruft. Der designierte Verteidigungsminister Trumps will nun im Zuge der machtgesättigten Renaissance des christlichen Nationalismus sich für die Einrichtung klassisch christlicher Schulen einsetzten. Als Ratzinger in seinem Job als Papst den Bundestag mit einer Rede beglückte, antworteten ihm die Abgeordneten mit Beifall, weil sie glaubten: wenn er "Naturrecht" sage, dann rede er über ökologische Fragen. Nein, es ging ihm um eine über demokratischen Gesetzgebungen und sogar biblischen Doktrinen stehende natürliche Ordnung, die der gottgewollten Schöpfung entspräche. Eben jene Modelle, innerhalb derer Praxen "wider die Natur" gedacht werden. Wie bei Paulus. Es würde zu weit führen, wenn ich jetzt aufzählen würde, in welchen europäischen Ländern sich die politische Rechte mit Fundi-Christen verbindet. In Spanien z.B. Opus Dei mit Vox. In Russland bündelt Putin mit der Orthodoxen Kirche in seiner "Familie, Kirche, Vaterland"-Ideologie und bekämpft Queers in Öffentlichkeiten harsch und brutal. Es sei schon hier erwähnt: umgekehrt gibt es das nirgends. Es gibt keine "Don't pray to Jesus"-Gesetze in LGBT*-dominierten Regionen, allenfalls Diskriminierungsverbote.
Einer meiner ersten journalistischen Jobs einst beim hannöverschen Schädelspalter bestand, das muss 1986 gewesen sein, im Führen eines Interviews mit einem Pastor. Ihn hatte die evangelische Kirche gerade suspendiert- weil er mit seinem Freund zusammenlebte. Eine der kuriosesten Situationen rund um den FC St. Pauli erlebte ich, als ausgerechnet bei einer Diskussionsrunde zum Thema "Warum bist Du beim FC St. PaulI?" ein katholischer Priester eingeladen wurde. Ich fand das nicht so gut, Ratzinger, nunmehr Papst, unterstützte gerade m.W. "Kill Bills" in Uganda, die Todesstrafe für Schwule und Lesben - und ein Priester steht immer auch für die Institution Katholische Kirche. Ich wurde für meinen Protest vom Aktionsbündnis gerügt; einem Freund gegenüber referierte der Geladene in voller Uniform getreu Ratzinger, dass "homosexuelle Praxen" nicht dem Willen Gottes entsprächen. Woher er auch immer das zu wissen glaubte. Das ist m.W. noch heute noch die offizielle Katholische Position: man darf es sein, aber nicht machen, folgt man dem Katechismus. Ich bitte um Korrektur.
Das sind nur ein paar Spotlights in meiner Vita, und sie zeigen lediglich Ausschnitte eines ausdifferenzierten Christentums. Seit Entdeckung der Schriften von Nagh Hammadi (Öffnet in neuem Fenster) hat sich die Diskussion noch einmal verschoben, weil klar wurde, welche Texte die Kirchenväter in Jahrhunderten der politischen Auseinandersetzung, der wechselseitigen Unterstellung des Ketzertums und wohl auch aus Glauben, vermutlich, in den Bibel-Kanon aufnahmen und welche nicht. Manche orientieren sich nun auch an den Apokryphen, andere mixen munter Bibel-Zitate mit allerlei Esoterik; aber inmitten dieser Vielfalt sucht ein an Rechtsextremismus andockender christlicher Nationalismus vor allem in den USA die Deutungshoheit wiederzugewinnen - was, wie alles aus den USA, hierzulande Adaptionen finden wird.
Das ist eine lange Vorrede für einen zunächst einfach wie "typisch Social Media" erscheinenden, aktuellen Shitstorm rund um den FC St. Pauli, dessen Mitglied ich bin. Dieser veröffentlichte eine T-Shirt-Edition zur Band Bad Religion. Deren Logo beinhaltet ein durchgestrichenes Kreuz in Form eines Verbotsschildes.
Bei X gingen viele steil, warfen dem Verein "Intoleranz" vor. Wenn das jemand mit LGBT*-Flaggen machen würde (was in zu "LGBT*-freien Zonen ausgerufenen Regionen in Polen, katholisch inspiriert, bis vor gar nicht langer Zeit genau so geschah)! Andere sprachen davon, dass so etwas in einem "christlichen Land" ja gar nicht ginge. Der geballte Hass mancher auf Muslime, ja, auch eine Religion, allerdings hierzulande in Minderheitenposition, führte bei manchen zur Restaurierung christlicher Identitätsmodelle. Andere sahen sich als Christen beleidigt; es gab auch drastischere Äußerungen.
Der Verein reagierte mit einem Blog.-Artikel unter der Überschrift "Glaub doch, an wen Du willst (Öffnet in neuem Fenster)", erläuterte die Geschichte der Band Bad Religion als die genereller Religions- und Autoritätskritiker und öffnete die Diskussion, sich dabei auf die enge Verbindung zwischen Punk und der Auferstehung des Vereins nach langem Darben Mitte der 80er aus dem Geiste der Hafenstraße berufend.
Ein wenig merkte man da schon, was fehlt. Also, an musikalischer Bildung, meine ich. Zum Glück nicht beim Präsidenten Oke Göttlich, der auf den Track "Bad Religion" von Frank Ocean (Öffnet in neuem Fenster) in einer Instagram-Story Bezug nahm. Ich weiß nicht, wie ich Stories hier verlinken kann. In dem Song geht es um die Schwierigkeit, schwules Begehren zu leben, wenn man in einem christlich dominierten Umfeld sozialisiert wurde.
Die reine Punk-Referenz ist ein Problem, weil sie eine Parallelgeschichte der Wirkung christlicher Spiritualität ignoriert. Sie zeigt sich vor allem in vielen Zweigen der "rein" nirgends auffindbaren "Black Music". Im Jazz, "A Love Surpreme", Coltrane, in House Music, im R&B. All das geht auf den Gospel zurück, musikhistorisch eine Kombination aus Worksongs, westlicher Kirchenmusik und vor allem westafrikanischen Traditionen. Die Identifizierung mit den aus Ägypten ausziehenden Juden bildete einen der Stränge für Gospel singende Sklaven. In ihnen artikulierte sich eine Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung, Leid und Erlösungssehnsucht. Annähernd jede Soul-, Disco- und auch House-Größe, so z.B. Aretha Franklin, Donna Summer und Adeva, haben ihre sehr harte Gesangsausbildung im Kirchenchor durchlitten. Eine der House-Hymnen ist "Promised Land" von Joe Smooth. Wir haben damals auch "Komm, sag es allen weiter" in unserer Kirche gesungen - im Original heißt das "Go, tell it on the mountains" und ist zugleich der Titel des ersten Romans von James Baldwin, schwarz, schwul und kirchlich sozialisiert. Noch im seinem Rhythmus des Schreibens vernimmt man das Echo schwarzer Prediger. Obama hat auch so gesprochen, "Call & Response", ein typisches Prediger- und Gospel-Schema zugleich, das auch im Jazz omnipräsent ist.
Ich habe keine Ahnung, ob Eric da Silva Moreira sich in irgendeiner Form auf dergleichen bezieht - ehemaliger FC St. Pauli-Jugend und zudem -Nationalspieler. In einem eindeutig verletzten Statement bei Instagram reagierte er auf das T-Shirt des FC St. Pauli mit anrührenden Worten:
https://www.instagram.com/p/DCliqnaOhhJ/?utm_source=ig_web_copy_link&igsh=MzRlODBiNWFlZA%3D%3D&img_index=1 (Öffnet in neuem Fenster)"In jedem Fall werde ich dem Wunsch vieler Supporter und Fans nachgehen und mich noch genauer informieren. Ich würde mir wünschen, dass Ihr dasselbe mit dem Kreuz tut und dann, vielleicht genau wie ich, die bedingungslose Liebe findet, die ich und viele andere in Jesus Christus gefunden haben. Deal?"
Da bricht in mir tiefe Ambivalenz auf. Einerseits viel Verständnis für das, was er fühlt. Eric da Silva Moreira kann auch nicht wissen, dass genau diese Rhetorik noch christliche Homo-Heiler anwenden. LGBT*-Leben sei nicht einfach nur Sünde und führe in die Hölle, an die durchaus viele noch glauben; es wende sich von der Liebe Jesu Christi ab, verweigere sich dieser beglückenden Erfahrung. Insofern seien Queers im Sinne der Liebe Gottes psychischer Folter wie Konversionstherapien auszusetzen - nur zu ihrem Besten. Diese "Güte" treibt mir tatsächlich einen Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke.
Auf der anderen Seite habe ich zu viel Jazz, Soul und House, auch Bach gehört, um nicht zu wissen, was er meint. Mich hat das Statement von Eric auch berührt.
Man löst es nur nicht dadurch auf, dass man proklamiert "Glaub doch, an wen Du willst". Glaube hat diese unangenehme Eigenschaft, universell und mit Absolutheitsanspruch aufzutreten. Kein Text hier ohne Habermas - dieser hat, um das ganze Thema "Philosophie und Religion" aufzudröseln, nach einer Diskussion mit Ratzinger Tausende Seiten in "Auch eine Geschichte der Philosophie" verfasst (dabei Luthers Antisemitismus ignorierend, das Fass aufzumachen führt hier aber zu weit). Er kam auf die Idee zu dem Buch angesichts einer Renaissance des Religiösen im Politischen, aber auch, weil er sich wunderte, dass bei der Beerdigung von Max Frisch lauter Leute, die an gar nix glauben, sich so bereitwillig einem christlichen Ritual unterwarfen. Auch sonst gar nicht allzu Religiöse suchen bei Übergangsritualen, Geburt und dann Taufe, Konfirmation inmitten der Pubertät, Eheschließung, Beerdigung, Halt in biblischen Traditionen und feiern Weihnachten.
Es wird sich innerweltlich nie durchsetzen, aber um den Komplex Glauben aufzudröseln würde es zunächst einmal helfen, zu unterscheiden. Zwischen der spirituellen, der religiös kanonisierten Glaubens-, der rituellen und der politischen Ebene. Und das gilt gerade auch für Gläubige.
Hätten einige derer nicht immer wieder Ambitionen, Andere abzuwerten, zu verfolgen, zu malträtieren, zu verbieten, gäbe es keine Konflikte zwischen LGBT*-Menschen und denen. Manche Queers wollen ja am Spirituellen, Religiösen und Rituellen durchaus teilhaben. Im Gegenzug proklamieren manche Fundis Politiken, dass schon die reine trans-, bi- oder Gay-Lebensweise schon als solche, die nackte Existenz von Menschen, eine Attacke auf das Christliche sei und deshalb vernichtet werden müsse. Von Verboten des Schwangerschaftsabbruches schreibe ich hier noch nicht einmal.
Bei einer Unterscheidung der Ebenen ist Respekt vor dem Spirituellen, ich lese Eric da Silva so, geboten und vor dem Rituellen ebenso. Das greift tatsächlich nicht in Freiheitsrechte Anderer ein, es sei denn, Zugänge zum Ritual werden verwehrt. Da wird es schon haklig.
Das ist eine Unterscheidung, die bei einem durchgestrichenen Kreuz tatsächlich keine Berücksichtigung findet. Dieses Zeichen meint aber recht eindeutig das Politischwerden des Religiösen, und das kann tatsächlich verhehrend wirken - wie die Geschichte zeigt. Dann wäre aber auch von Gläubigen, und ich habe einen hohen Respekt vor Glauben im spirituellen, teils auch religiösen Sinne, zu verlangen, dass sie es gefälligst bleiben lassen, ihre Religion zu politisieren.
Das gilt für alle Religionen. Man kann auch Spiritualität, Bibel-, Koran- und Bhagavad Gita-Lektüren und Rituale wie das Abendmahl oder die täglichen Gebete vollziehen, ohne es nun in weltliche Gesetze überführen zu wollen. Was die meisten ja auch so leben.
Klar lachen sich die Fundis fast tot, wenn einer wie ich das schreibt. Sei froh, dass wir Dich dulden. Aber ich sitze hier und kann nicht anders. Mir erscheint eine solche Unterscheidung hilfreich für die Diskussion.
(Wieso für das Jüdische als über Jahrhunderte konstantester Minderheit unter Bedingungen christlicher Dominanz und den internen Bezügen zwischen Christen- und Judentum noch ein paar andere Kriterien greifen, das hebe ich mir für Folgetexte auf ...)