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Über die Rationalität vorauseilenden Gehorsams im Anschluss an Masha Gessen

Masha Gessen - Quelle: New York Times

Der Text liest sich beeindruckend verdichtet. Erschienen ist er in der New York Times am 8. Februar 2025, überschrieben mit „The Chilling Consequences of Going Along With Trump (Öffnet in neuem Fenster)“ - verfasst vom Masha Gessen. Sie zeigen Mechanismen der Anpassung an faschistoide Machtübernahmen auf. Sie vergleichen dabei aktuelle Vorgänge in den USA mit jenem Übergang zum Regime Putins, vor denen sie aus Russland in die USA flüchteten. Sie präsentieren einen kulturellen Kipppunkt des Sich-Arrangierens mit Attacken auf die Prinzipien formaler Gleichheit und des Diskriminierungsschutzes. Man macht halt mit. Weil man dafür Gründe hat.

In Deutschland wurden diese Prinzipien in den mit Ewigkeitsgarantie versehenen ersten 3 Grundrechtsartikeln ausformuliert und sind bindend für den Gesetzgeber - die Wahrung der Menschenwürde und das Bekenntnis zu Allgemeinen Menschenrechten (Artikel 1), das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2) und das der Gleichheit vor dem Recht wie auch des Verbots der Benachteiligung aufgrund persönlicher Merkmal wie Geschlecht, Herkunft, Abstammung, Ethnie oder Behinderung (Artikel 3).

Auch hierzulande sehen sich diese immerhin als Grundlage von Staat und Demokratie formulierten Grundsätze im politischen Alltag scharfen Angriffen ausgesetzt - wenn beispielsweise die Ausbürgerung von Staatsangehörigen nur deshalb, weil ihre Herkunft und Abstammung eine andere ist als die bei sonstigen „Volksdeutschen“, diskutiert wird oder die Wahrung der Menschenwürde aller Menschen, nicht nur der Staatsbürger, nicht mehr als relevantes Kriterium für die Unterbringung von Menschen in Lagern ähnlichen Institutionen in Pläne geschrieben wird.

Jürgen Habermas forderte im Zuge der Wiedereinigung einen Verfassungspatriotismus statt der aktiven Förderungen völkischer Selbstverständnisse im Zuge der Erweiterung des BRD-Territoriums und bekam auch von progressiven Kräften dafür viel Häme zu hören. Mir erscheint das weiterhin weitsichtig, wenn ich aktuelle Forderungen von im Bundestag vertretenen Parteien verfolge. Sie haben in einem abenteuerlichen Manöver aus allgemeinen begründungsfähigen rationalen Prinzipien eine Art Kulturverständnis in Selbstbildern gezaubert, das gegen eine Invasion von „Barbaren“ abgeschottet werden müsse - was quer zu allem steht, was der Parlamentarische Rat, von Kantischen Prinzipien geleitet, nach 1945 diskutierte. Teile der AfD proklamieren nun schon materiale Gehalte, was ein Menschenleben erst würdig mache, Fortpflanzung und heterosexueller Genitalsex zum Beispiel. Sie räumen damit alles ab, was den formalen Prinzipien als Gleichheit vor dem Recht normativ zu entnehmen ist und leitend für ein in die EU eingebundenes Staatswesen sein sollte. Formale Rechte haben nichts mit Abstammung oder spezifischen Kulturen zu tun, sondern damit, ein von Bratwurst, Blockflöte, Weihnachten, Caspar David Friedrich und Botho Strauss unabhängig begründetes, gerechtes Staatswesen zu legitimieren.

Die von Gessen skizzierten Mechanismen des Abstandnehmens von der Verfassung sind somit auch hierzulande brandaktuell.Sie zeigen auf, wie in ganz alltäglichen Situationen sich Menschen zu assimilieren beginnen an das Gegenteil dessen, was Menschenrechte einfordern. Zentral ist dabei immer die Frage nach trans: laut Verfassungsgericht folgt das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung aus Artikel 2, freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Das Thema ist deshalb Gegenstand von Kontroversen, weil im Zuge einer auf heterosexuelle Fortpflanzung und Abstammungsfolgen fixierten Biologisierung der Gesellschaft die auf Genitalien reduzierte binäre Geschlechterordnung durcheinander bringt. Alles, was abweicht, bedroht rassistische Regime.

Gessen selbst sind nonbinär und fallen a priori aus diesem Raster. Entsprechend führen sie Beispiele der Eliminierung von trans durch das Trump-Regime als Element einer schleichend in den Totalitarismus mündenden Gesellschaft an. Die Attacken auf Diversity-Programme, schon vor der Wahl Trumps zum Teil schrittweise von Unternehmen aufgelöst und seitdem radikal von vielen abgeschafft, sind ein weiteres Symptom. Bezogen auf deutsches Recht entsprechen diese Programme GG Artikel 3 und sind somit keine „Woke-Wahn“-Folge. Das steht schon in der Verfassung. Begründet werden die Attacken mit einer angeblich umgekehrten Diskriminierung: nun würden z.B. Männer und Weiße diskriminiert. De facto installieren Diversity-Programme jedoch Möglichkeiten, dass Minderheiten oder im Patriachat stets Untergebutterte überhaupt eine Chance zur Teilhabe finden und die Möglichkeit gewährt bekommen, einen z.B. Arbeitsalltag zu erleben, in dem weniger Herabwürdigung erfahren wird.

Die Pointe in Gessens Ausführung ist die Rationalität dessen, was der Historiker Timothy Snyder „vorauseilenden Gehorsam“ nannte. Das ist kein Anflug des Irrationalen, der Menschen einst packte, als sie bereits vor 1933 Juden mieden. Es ist Zweckrationalität (nach Max Weber), strategisches Operieren - der Versuch, Nachteile zu vermeiden oder aber Vorteile zu erhaschen. Es durchaus auch eine Form des moralischen Drucks enthalten.

Der erste von Gessen genannte Punkt wird somit von ihnen als „Verantwortung für Andere-Argument“ ausgewiesen. Wenn Du Dich nicht den neuen Vorgaben fügst, dann schadest Du dem Unternehmen, der Partei, dem Schrebergartenverein, dem Wohl Deiner Kinder. Gessen führen Beispiele aus ihrer Zeit in Russland an und schreiben im Anschluss an den russischen Soziologen Yuri Levada von einer kollektiven Geiselnahme. Schert man aus und pocht z.B. auf seine individuelle Meinung, dann kann es passieren, dass kollektive Bestrafungen folgen - der Kirche werden die Gelder des Landes Bayern gestrichen, die NGO bekommt ihre Gemeinnützigkeit aberkannt, die Gruppe TV-Dokumentation im WDR gerät in Konflikte mit der neuen Intendantin und bekommt anschließend weniger Sendeplätze zugewiesen. Also auch weniger Budget. Ganze Institutionen werden so in Geiselhaft genommen und sanktioniert.

Das kann auch in Selbstregulierungen vor der Übernahme neuer Machthaber geschehen. Man lädt Alice Weidel vorsichtshalber schon mal in die Talkshow ein. Dann kommt man besser durch, wenn es schief geht und sie an die Macht gelangt. Begründet wird das damit, dass die AfD nun mal von zwischen 10 und 30 Prozent der Bevölkerung je nach Region gewählt würde. Dass auch die TV-Sender auf die Verfassung und durch den Rundfunkstaatsvertrag auf allgemeine Menschenrechte verpflichtet sind und die AfD als in Teilen gesichert rechtsextreme Partei gilt, das interessiert dann nicht mehr. Der vorauseilende Gehorsam, hier und da an stilles Einverständnis gekoppelt, ignoriert das kurzerhand. Es könnten ja sonst Sanktionen drohen.

Ergänzt werden solche Erwägungen Gessen zufolge durch reinen Pragmatismus. Irgendwie muss man sich halt durchwurschteln und an die Verhältnisse anpassen. Pragmatisches Handeln orientiert sich nicht an Prinzipien wie der Verfassung. Es guckt, was funktioniert und ihm nützt. Wenn es denn Quote bringt, so what. Wenn ich Geld mit Abschiebungen verdienen kann, warum nicht. Wenn die Leute bei mir wieder mehr einkaufen, weil da keine Regenbogenflagge mehr hängt, egal. Da seien potenzielle Shareholder der Handelskette vor.

Ein weiteres rationales Argument für den vorauseilenden Gehorsam Gessen zufolge ist: Wenn ich es nicht tue, dann machen es die Anderen ja trotzdem. Wenn ich also damit Geld verdienen kann, warum nicht? Warum soll nun gerade ich hier den Helden spielen? Gessen führen Beispiele an aus ihrer Zeit in Russland: auf einmal bastelten Menschen Propagandavideos für den Putin-Kurs, den sie für falsch hielten. Weil: irgendwer hätte die doch eh gemacht. Gessen vermutet diese Logik auch wirksam im Falle demokratischer Abgeordneter, die für Trumps teilweise erschreckend inkompetente Kandidaten im Falle der Besetzung seines Kabinett stimmten. Die kommen doch eh durch.

Final, und eben das bespielen die führenden Agitateure einer neuen faschistoiden Ordnung wie z.B. Peter Thiel: Das ist halt der Zeitgeist (im Original deutsch). Thiel proklamiert, die liberale Demokratie habe sich nun mal erschöpft, nun sei halt was Neues dran. Das sei in den 20er Jahren in Deutschland ja auch so gewesen. Nun sei, so ebenso Zuckerberg, halt wieder „maskuline“ Energie“ angesagt. Dieser alberne Trans-Trend sei nun vorbei, aktuell ist deutschnationale Jugendkultur angesagt und offene Grenzen sind irgendwie out - auf hiesige Verhältnisse bezogen.

Das Ganze zeigt, wie Mitläufertum entsteht bei Menschen, die von diesen neuen politischen Formationen keineswegs überzeugt sind und trotzdem mitmachen, weil sie dafür Gründe haben. Sie vermeiden Übel und profitieren davon, so zu handeln. So was wird Hannah Arendt gemeint haben, als sie sich im Interview mit Günther Gaus entsetzt zeigte, das gerade ihre Freunde sich um 1933 herum von ihr zurückzogen. Es konnte schlicht gefährlich werden, mit Jüd*innen befreundet zu sein.

Der Text von Masha Gessen beginnt mit der Rezeption eines beeindruckenden Stücks Popkultur. Ihre Eltern seien 1978 nach Polen gefahren und hätten dort den Film „Cabaret“ gesehen. In einer Szene - sie ist unten verlinkt - sitzen nach einem amourösen Abenteuer die bisexuelle männliche Hauptfigur und sein Liebhaber für eine Nacht, ein Adeliger, wenn ich mich recht entsinne, in einem Biergarten, noch ganz erfüllt von ihrem geteilten Erlebnis. Dort stimmt ein HJ-Knabenchor „Tomorrow belongs to me“ an, eine Hymne auf die “glorreiche Zeit” des kommenden Nationalsozialismus. Der Film, ein Meisterwerk spielt in den frühen 30er Jahren und ist die Verfilmung eines Musicals, basierend auf den Büchern von Christopher Isherwood über seine Zeit in Berlin. Es spielt im Zeitraum des Umkippens der Weimarer Republik in den Natioanlsozialismus. Die Menschen im Freiluftlokal - von Ausnahmen abgesehen - erheben sich nach und nach, stehen stramm und stimmen ein. Ich erinnere mich an eine Inszenierung in Schmidt’s Tivoli, nicht zufällig 1993 nach Lichtenhagen und zum Zeitpunkt des fatalen Asylkompromisses auf die Bühne gebracht. Das Lied in der deutschen Textfassung, „Der morgige Tag ist mein“, erklang kurz vor der Pause. Mitglieder des Saaldienstes, oft Musicalschüler, und Teile des Chores bauten sich im Rücken des Publikums an den Ausgängen auf und schmetterten mit. Für die Zuschauenden eine gruselige Erfahrung; auch für die, die mitsangen. Ich hatte damals eine intensive Affäre mit einem Saaldiener, der von den Proben berichtete - dem Ensemble lief ein Schauer über den Rücken, während sie es sangen.

https://www.youtube.com/watch?v=_tUctFu46_c (Öffnet in neuem Fenster)

In manchen Regionen Deutschlands, keineswegs nur im Osten, fragt man sich inzwischen, ob nicht Teile des Publikums begeistert aufspringen und einstimmen würden. Was dann wohl der Rest der Zuschauenden machen würde? Eine Saalschlacht veranstalten?

Der Hitlerjunge in der Hollywood-Version sieht nicht zufällig aus wie die durch Roland Meyer sezierten KI-Bilder von Rechtsaußen (Öffnet in neuem Fenster). Sie fluten derzeit soziale Medien. „Cabaret“ ist auch über ihre Russland-Sozialisation hinaus ein klug von Gessen gewähltes Beispiel. Noch zu Zeiten meines Coming Outs in den frühen 80ern gab es sehr wenige Filme, in denen „Homosexualität“ auch nur so angedeutet wurde wie in „Cabaret“ und das nicht lediglich als etwas Herabzuwürdigendes, von dem man sich abzugrenzen habe wie z.B. in „Footlose“ oder „Saturday Night Fever“. Der Film galt so für jeden, der wollte und eigenen Eros entdeckte, als Ereignis. Ich erinnere mich, wie ich im Französisch-Leistungskurs durchsetze, dass er bei einer Fernsehausstrahlung aufgezeichnet würde und wir ihn im Unterricht schauten. Gelang mir komischerweise, obwohl der mit Französisch gar nichts zu tun hatte.

Der „Mythos Berlin, Goldene Zwanziger“ lebt in diesem Film. Die weibliche Hauptfigur Sally Bowles, Star in einem Kabarett, zeigte sich, überragend gespielt von Liza Minelli, als schrille, unkonventionelle und dabei faszinierende Persönlichkeit, die alle Normen sprengt. Das Setting erschien durch und durch und queer selbst da, wo es das gar nicht war - die von den Nazis noch vor der Machtübergabe auf den Straßen ausgeübte Gewalt wie auch deren Antisemitismus bildete den atmosphärischen Rahmen der Handlung. Der Film stammt aus dem Jahr 1972, wurde also noch vor der „Rocky Horror Picture Show“ gedreht, und war damals schlicht revolutionär. 



Diese Erinnerung an die Andeutungen eher einer schwulen Affäre in dem Film berichte ich nicht nur rein anekdotisch. Es ist noch nicht lange der Fall, dass queere Themen so offen zugänglich sind. Filme wie „Die Konsequenz (Öffnet in neuem Fenster)“ aus dem Jahr 1977 zeichneten ein sehr düsteres Bild zerstörerischer Homosexualität. „Mary und Gordy“ als öffentlich-rechtliche Drag Show erfuhr keine Skandalisierung, weil beide als reiner Witz aufgefasst wurden. Der schwule Kuss in Folge 224 der Lindenstraße 1990 sorgte für Bombendrohungen. Es gab und gibt immer gute Gründe für Mitläufer*innen, mit so was wie “Homosexualität” lieber nicht kontaminiert zu werden. Auch deshalb sei das Schmidt angeführt: die in jeder Hinsicht sexpositive und queere Schmidt-Mitternachtsshow, ausgestrahlt auf dem NDR, zeigte sich in den frühen 90ern als immens avanciert.

Mittlerweile rechnen Macher*innen rund um queere Themen beinahe, okay, beinahe nur, aber bald vermutlich tatsächlich, wieder mit Bombendrohungen, zeigen sie „so was“ im Fernsehen. Auch dieser permanente Shitstorm in den sozialen Medien, in den Rezensionen bei Amazon, die zunehmende Gefahr für Queers auf den Straßen erzeugen ein Klima der Angst, das Verhalten reguliert. Ich bekomme das zu spüren, wenn ich Sendern Themen anbiete. Sie sind vorsichtiger geworden. Meta, also Instagram, Whatsapp und Facebook, erlaubt zumindest in den USA mittlerweile die offene Pathologisierung von Queers und entfernt Pride-Flaggen aus ihrem Layout-Werkzeugkasten. Die finanzielle Unterstützung der AIDS-Forschung durch die Regierung in den USA wird eingestellt.

Da der Widerstand überschaubar bleibt - in den USA, hier gehen Millionen auf die Straßen und Fussballvereine stimmen ein - scheinen die von Gessen skizzierten Mechanismen, deren brutale Rationalität, tatsächlich zu greifen. Sie haben in Russland erlebt, wie Putin Schritt für Schritt Queers aus der Öffentlichkeit verdrängte. Heute gelten dort Menschen quasi von Geburt an kraft sexueller (bzw. erotischer, geht ja nicht immer gleich ums Ficken) Orientierung und geschlechtlicher Identität als Extremisten. Aufgrund ihrer Seinsweise. Ganz wie all die brutalem neuem, alten Rassismus Unterworfenen in den USA und überall auf der Welt. Wobei Queers sich zumindest noch tarnen und verstecken können.

Masha Gessen schließen mit einer sehr bitteren Pointe. Die Autokratien des 20. Jahrhunderts gründeten in „Mass Terror“. Jene des 21. Jahrhunderts hätten diesen gar nicht mehr nötig. Die ihnen Unterworfenen ziehen freiwillig mit.

Hierzulande regt sich noch massiv Widerstand, in den USA beginnt er sich zu formieren.

Ob das gegen den durch und durch rationalen, vorauseilenden Gehorsam ausreichen wird? Gegen die Anpassungsprozesse jener, die glauben, es würde sie schon nicht treffen?

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Kategorie Gesellschaft

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