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Zur Aktualität von Jürgen Habermas’ "Die Moderne - ein unvollendetes Projekt"

Im Jahre 2023 strahlte ARTE die von mir als Regisseur und Autor in Zusammenarbeit mit dem ZDF und Vincent Productions gefertigte Dokumentation "Habermas -Philosoph und Europäer" aus. Ich hatte im Zuge der Fertigung Gelegenheit, den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, Joschka Fischer, Carolin Emcke, Axel Honneth und Rahel Jaeggi zu interviewen - eine durch und durch inspirierende und bereichernde Erfahrung, um diesen so überragenden Philosophen zu würdigen. Die Dokumentation wurde für den Adolf Grimme-Preis 2023 nominiert. Auch in meiner Doktorarbeit "Docutimelines - zur Produktion von Musikdokumentationen" bildet die "Theorie des Kommunikativen Handelns" den Bezugsrahmen. Grund genug, einen der berühmtesten Aufsätze von Jürgen Habermas hier zu würdigen.

 Jürgen Habermas' Rede zur Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt 1980[1] (Öffnet in neuem Fenster) entfaltete Wirkung. Ganz gewaltige Wirkung sogar. Sie fungierte einst als einer der Auslöser der "Postmoderne"-Diskussion. Diese flammt immer wieder mal auf. Dann, wenn "die Postmoderne" und ihre Rezeptionsgeschichte hin zu angeblich total gewordener "Beliebigkeit" ein für allemal sämtliche Wahrheitsbezüge einebnen würde und so von Trump über den Islamismus bis hin zu "woke" sowieso an allem schuld sei, weil sie alles universell Gültige zerstört habe.

Es ist jedoch nicht dieser Teil der Wirkungsgeschichte, die dem Text meines Erachtens entnommen werden sollte. Seine Aktualität gewinnt er aufgrund der pointierten Konservatismus-, nicht der dort formulierten Postmoderne-Kritik. Manche der Ansätze von Michel Foucault oder Jean-François Lyotard können diese sogar ergänzen. Das soll hier nicht Thema sein - stattdessen führe ich aus, wie Habermas das "Projekt der Moderne" und somit die Aufklärung gegen den Konservatismus verteidigte.

Denn Habermas' Aufsatz von 1980 verblüfft durch seine Aktualität. Treffsicher formuliert er, wie neue Formen des Konservatismus und Traditionalismus sich in Reaktion auf die Moderne entwickelten, zugleich jedoch rationale Potenziale der Moderne zugunsten einer ungestörten Entfaltung ökonomischer und administrativer Annexionen von Lebenswelten ausgeblendet wurden.

In der "Theorie des Kommunikativen Handelns" arbeitete Habermas diese Konzeption später weiter aus. Was diese "Annexion" jedoch konkret heißen kann, sei anhand eines brandaktuellen Textes aus dem "Theorieblog" aufgezeigt. "Zerstörung durch die kapitalistische Moderne", dies war in den frühen 80er Jahren anders als heute eine gängige Formulierung. Das, was damit gemeint ist, wird jedoch heute noch intensiv diskutiert. Johannes Haaf zeigt anhand des in internationalen Abkommen vereinbarten "Investitionsschutzes" auf, wie Menschenrechte anhand rein ökonomischer Parameter, - Habermas würde schrieben "ökonomischen Systemimperativen" folgend -, schlicht ausgehebelt werden:

 "Zum einen werden die normativen Bestimmungen des Investitionsschutzes dafür kritisiert, ökonomische Interessen zu privilegieren. Der Investitionsschutz ist dabei Ausdruck als auch Katalysator globaler hegemonialer Machtbeziehungen, insbesondere zwischen den kapitalexportierenden Staaten im Globalen Norden und ökonomisch schlechter gestellten Staaten im Globalen Süden. Er fungiert als ein Instrument des neoliberalen Kapitalismus, der auf Deregulierung, Freihandel und insgesamt auf einen weitreichenden Schutz von Eigentumsrechten ausgerichtet ist, während die Menschenrechte, wie eingangs angedeutet, dieser Politik des „freien Marktes“ wenig entgegenzusetzen haben. Zum anderen haben wir es hier mit einer weitreichenden Verknüpfung von ökonomischer und staatlicher Macht zu tun: allein die ausländischen Investor*innen können in diesem System Schadensersatzforderungen einklagen, ohne selbst aufgrund etwaiger Menschenrechtsverletzungen zu Rechenschaft gezogen werden zu können."  (Öffnet in neuem Fenster)

Solche bereits in den 70er Jahren einsetzenden Entwicklungen bilden den Ausgangspunkt der bereits 1980 erstmals veröffentlichten Rede von Habermas. Der Text führt hinein in die Auseinandersetzung mit jener historischen Entwicklung, in der Margaret Thatchers und Ronald Reagan ihre Wirkung zu entfalten begannen: Eine konservative Revolution von oben. Eine, die mit den Methoden des Neoliberalismus vor allem Lebenswelten traditioneller Arbeiterschaften zertrümmerte, Gewerkschaften zerlegte, auf Entsolidarisierung zielte ("es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen"), alles Sozialstaatliche attackierte und auch vor rassistischer Agitation nicht zurückschreckte. Stuart Hall sezierte diesbezüglich Thatchers Agitation in seinem Werk; der Kampf Ronald Reagans gegen schwarze "Welfare Queens" kann hier ebenso angeführt werden - eben jene ihm zur Wiederwahl verhelfende Unterstellung, manche würden nur Kinder bekommen, um anschließend Sozialleistungen abzugreifen. Die "geistig-moralische Wende" proklamierte Helmut Kohl 1980 noch nicht, und doch, sie zeichnete sich ab. Damals nannte Habermas das, was später so heißen würde, "Tendenzwende"; eine Abkehr vom sozialliberalen Klima der 70er Jahre hin zu, ja, "traditionellen Werten". Wie beides zusammen hing, neoliberale Wirtschaftspolitik, die auch Massenarbeitslosigkeit in Kauf nahm, und Konservatismus, eben das ist Thema in der Rede von Jürgen Habermas.

Das oben von Haaf Skizzierte fügt sich hier heute noch ein: ein totalisierter Eigentumsschutz kann auf das andere Erbe der Aufklärung, die Allgemeinen Menschenrechte, schlicht verzichten. Die entrechten Menschen, eingewoben in die Netze ökonomischer Verwertungszusammenhänge, können jedoch zunehmend nicht mehr auf jene soziale Geflechte zurück greifen, die z.B. in den sozialdemokratischen Alltagskulturen der 70er Jahre - so z.B. auf die zwischen Gewerkschaften, Lebenshilfe, Arbeiterwohlfahrt gespannten sozialen Netze, die in gewachsenen Nachbarschaften zum Teil noch intakt waren.

 Wie für Habermas typisch gelang es ihm in dem Aufsatz, zur Wiedergewinnung solcher sozialen Sphären Begriffe, die in Sonntagsreden konservatives Gemeingut sind, derart zu fassen, dass sich in ihnen ein scharf formulierter, kritischen Gehalt bündelte: Moderne, Vernunft, Aufklärung.

 Seine Diagnostik beginnt mit der Feststellung, dass Neokonservative die oben skizzierten Folgen einer kapitalistischen Modernisierung (z.B. auch Urbanisierung im Zuge des 19. Jahrhunderts) nicht mehr in Ökonomie (Unternehmen, Banken, Aktienfonds, also Eigentums- und Produktionsverhältnisse) und Gesellschaft (z.B. Institutionen des Rechts, der Verwaltung, der Bildung, Vereine) selbst zu lösen versuchten, wie es im Falle betrieblicher Mitbestimmung noch versucht wurde. Sie zögen sich stattdessen in Kulturkämpfe zurück, die lediglich kompensierten, was ökonomisch vollstreckt wurde mit allen destruktiven Folgen. Neokonservative ignorierten konkrete Arbeitsverhältnisse, stachelten Konsumgewohnheiten an, um zugleich die Lohnentwicklung zu deckeln, Beschäftigungsverhältnisse zu flexibilisieren. Sie attackierten zugleich jedoch den Hedonismus derer, die dagegen opponierten - in den frühen 80ern vor allem "Null Bock" und "No Future"-Subkulturen wie auch eine sich formierende Alternativbewegung, die auf andere Lebensformen setzte als Nine to Five-Jobs.

 Diese lägen nur auf der faulen Haut, pflegten ihren Narzissmus und verweigerten dabei Tugenden wie Arbeitsethos, Fleiß und Disziplin - analog zu dem, was heute noch manche zum Bürgergeld äußern, formierten sich damals Plädoyers für "Sekundärtugenden".

 Schuld an alledem seien, wer sonst, die Jugend verderbende Intellektuelle sowie die "elitären Gegenkulturen der künstlerischen Bohéme" (S. 39). Manche schreiben heute in solchen Fällen vom "Prenzlauer Berg" und attackieren dort vermeintlich residierende "Eliten", die doch nur die Volksseele malträtierten und wie Fettaugen auf der Gesellschafts-Suppe schwömmen in ihrem "Genderwahn".

 Habermas sieht hierin Symptome für eine gesellschaftliche Umwälzung. Ökonomische Parameter wie die Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum und deren administrative Flankierung seien in gewachsene Lebensverhältnisse vorgedrungen und hätten diese wirtschaftlichen Systemimperativen unterworfen, jenen totalisierter Nützlichkeit - und genau da, wo dieses geschehe, entstünden zugleich Protestpotenziale.

 Ein Beispiel, das Habermas wohl aufgrund der Frankfurter Häuserkämpfe selbst gewählt hätte, ist die Gentrifizierung in großen Städten. Man könnte viele Nachwendeprozesse in der Ex-DDR so beschreiben, und das, ganz ohne dabei in Antiamerikanismus oder sonstige Verschwörungstheorien abzutauchen. Wo zuvor noch organisierte Nachbarschaftshilfe in zivilgesellschaftlichen Institutionen wirkten, greift nun nur noch Markt. Sportvereine z.B. könnten kompensieren. Doch als aktuell breit diskutiertes Beispiel zeigen auch die Proteste gegen den Einstieg von Investoren bei der DFL, der Vereinigung der Profifußball-Vereine, um was für Protestpotenziale es sich handelt: die Investoren würden noch halbwegs demokratisch organsierte Vereinsstrukturen in Systeme rein ökonomischer Verwertungslogik umwandeln und so soziale Infrastrukturen zerstören. Administrative Macht - z.B. die Flankierung von Gentrifizierungsprozessen mit Hilfe von Polizei und Bebauungsplänen -  und ökonomische Systemimperative annektierten so kommunikative Infrastrukturen, die zuvor für die Sozialisation von Personen und das Entstehen geteilter Zukunftsentwürfe zuständig waren.

 Auf diese Prozesse kapitalistischer Modernisierung antwortet Habermas mit seinem Verständnis von moderner Aufklärung. Diese enthalte auch das Gegengift zu den bereits von Marx beschriebenen Zerstörungsprozessen. Diese sei das "unvollendete Projekt".

 Im Anschluss an Immanuel Kant (implizit) und Max Weber (explizit) skizziert Habermas in dem Aufsatz eine Ausdifferenzierung verschiedener Rationalitätstypen.

 Grob: Wahrheit ("es ist der Fall, dass p"), Ästhetik und normative Richtigkeit könnten nach der Erosion religiöser Weltbilder ohne Rekurs auf "Höhere Wahrheiten" in Argumentationen Hinsichten in Begründungen bereitstellen, wieso etwas so oder so sei oder aber sein sollte oder gelungen gelten könne. In der "Theorie des Kommunikativen Handelns" arbeitet Habermas diese Trinität als "Theorie der Geltungsansprüche" aus. Solche, die erhoben werden, um in intersubjektiven Verständigungsprozessen sich mit Anderen über und auf etwas zu verständigen (oder auch nicht).

"Max Weber hat die kulturelle Moderne dadurch charakterisiert, daß die in religiösen und metaphysischen Weltbildern ausgedrückte substantielle Vernunft in drei Momente auseinandertritt, die nur noch formal (durch die Form argumentativer Begründung) zusammengehalten werden. Indem die Weltbilder zerfallen und die überlieferten Probleme unter den spezifischen Gesichtspunkten der Wahrheit, der normativen Richtigkeit, der Authentizität oder Schönheit aufgespalten, jeweils als Erkenntnis, als Gerechtigkeits-, als Geschmacksfragen behandelt werden können, kommt es in der Neuzeit zu einer Ausdifferenzierung der Wertsphären Wissenschaft, Moral und Kunst." (S. 41)

Dass hinsichtlich aller Fragestellungen bezogen auf "Kunstwahrheit" Begriffe wie Authentizität, Geschmack und Schönheit zu kurz greifen, sei hier übergangen. Pointe ist, dass diese dreigeteilte Vernunft, die Fragen des Seins (Erkenntnis), des Sollens (Moral) und der sinnlich-produktiven Gestaltung (Ästhetik) je unterschiedlich behandelt und das so, dass sie aufeinander bezogen werden können im Medium der Vernunft. Eben diese stets falliblen Prozess bezeichnet Habermas als Aufklärung. Deren Entfaltung, ihr Vollzug auch in der Kritik von Traditionen ist das Projekt der Moderne, das sich den rein funktionalen Erfordernissen kapitalistischer Modernisierung kommunikativ zugleich zu widersetzen vermag. Es kann Ständegesellschaften als ungerecht, tradierte Sexualmoral ebenso und Chemtrail-Theorien in  je unterschiedlichen Argumentationsformen als falsch ausweisen, um zugleich mit Mitteln der Kunst Selbstverständnisse kreativ zu überschreiten und zu modifizieren.

 Mit diesen "Wertsphären" korrespondieren Expertenkulturen in Medien, Recht und Politik, ebenso in der Wissenschaft und im Kunstmarkt mitsamt seiner begleitenden Kritikerstimmen. Diese entkoppelten sich Habermas zufolge von lebensweltlichen Zusammenhängen, in denen doch alle Rationalitätstypen sich im kommunikativen Handeln auf den Alltag bezogen permanent verschränkten, immer auch das problematisierend, was unbefragt als selbstverständlich gilt und doch vielleicht gar nicht mehr vernünftig ist.

 Die welterschließende Kraft von Sprache stellt so ein verfügbares, kulturelles Hintergrundwissen bereit, dass dann, wenn es explizit in Geltungsansprüchen problematisiert wird, Begründungen für Sollen, Sein und Kunst bereit stellt. In seinem neuesten Werk "Spiele der Sprache" fasst Martin Seel diese Ansätze von Habermas so zusammen:

 "»Welterschließung« steht bei Habermas für das »determinierende« Geschehen der Sprache, für den »Hintergrund impliziten Wissens«, der sich in ihren Verwendungen formiert und sie stillschweigend–wie ein im Rücken sprachlicher Bewegungen sich ausdehnender »Kontinent«–konturiert. (TkH I, 449 u. 452) »Geltungsorientierung« steht für die Fähigkeit zur expliziten, auf Gründe gestützten Stellungnahme zu Lebenslagen jedweder Art. Die sprachliche Welterschließung bietet ein Reservoir solcher Gründe an, auf das von Fall zu Fall zurückgegriffen werden kann, jedoch unter dem grundsätzlichen Vorbehalt ihrer Gültigkeit steht."[2] (Öffnet in neuem Fenster)

 Diese Bindung an die vor-erschlossenen Alltagssprachen ist für Habermas der Hintergrund, vor dem Aufklärung stattfindet - indem das "Reservoir" von Sinn und Bedeutung rational zugänglich und somit ggf. auch kritisierbar wird. Kappt man sie, so entfremden sich die Expertenkulturen vom Alltagshandeln.

 Doch auch die moderne Kunst werde da selbstreferentiell, wo sie diese Rückbindung an die konkreten Lebensverhältnisse preisgäbe. Habermas bezieht sich hier eher auf die einstigen Avantgarden wie - implizit - den abstrakten Expressionismus und explizit den Surrealismus.

 Habermas plädiert seinerseits für die Möglichkeit einer "Überlieferung auf ganzer Breite" (S. 47). Eine Verengung des von Ökonomie und Administration verarmten Alltags auf die Befreiung durch eine totalisierte, eigensinnige Ästhetik ignoriere dabei die Trinität des Vernünftigen. Sie greife lediglich einen Aspekt heraus.

 Vielmehr müsse, wolle man die Folgen kapitalistischer Modernisierung emanzipatorisch aufheben, eben die Vernunft als ganze, wahr, gerecht, ästhetisch gelungen, ihren Raum in kommunikativen Alltagspraxen finden. Nur so könnten die Zerstörungskraft des, marxistisch geschrieben, Zusammenwirkens von Produktivkräften und Produktionsverhältnisse begrenzt und gestaltet und zugleich ein unreflektierter, stagnierender - heute sich rund um Schnitzel, Sprache und Winnetou gruppierender - Traditionalismus überwunden werden (S. 51).

 Die Aussichten, dass das gelänge, stünden Habermas zufolge nicht gut.

 Er zeigt drei Konservatismen auf, die das verhinderten.

 Die einen nutzten dabei die bereits erwähnten Entgrenzungen, die eine totalisierte Ästhetik als Modell der Freiheit böte, um ins egomanisch Dionysische zu flüchten und aus dieser Sicht alles als Macht zu denunzieren, was dem widerstünde. Ich vereinfach hier ein wenig das, was Habermas schreibt und auf Foucault, Bataille und Derrida münzt. Nicht, weil ich seine Einschätzung im Bezug auf diese Autoren teile, sondern weil aktuell in manch neurechter Publizistik solche Ansätze widergängerisch ihr Unwesen treiben. Autor*innen, die aus ähnlicher Sicht, selbst ihre Agitation marktförmig gestaltend, Moral nur noch als Schimpfwort kennen und Porschefahren zur Lebenskunst verklären, sind gemeint.

 Andere Konservative begäben sich, wie heute Putin oder DeSantis "Kirche, Familie, Vaterland" variierend, in prämoderne Zeiten und verzichteten darauf, das noch zu begründen, was sie mit nackter Macht brutal durchsetzten. Sie setzen auf Moral traditionellen Typs, somit Überlieferung, Religion, Nationales, und entziehen sich so den Mühen, Normen zugleich auch als Kritik des Tradierten zu begreifen. Ästhetisch setzen sie nur auf Altherbegrachtes, alles andere sei zu "woke", wahlweise z.B. als queer darauf angelegt, das, was angeblich doch schon immer so war und "natürlich", zu zerstören. Gekoppelt an Nationalismen erheben sie sodann z.B. den Vorwurf des "Unamerikanischen" gegen alles, was ihnen kulturell nicht in den Kram passt. Diese Konservativen verbannen Bücher aus Bibliotheken (z.B. zur Geschichte der Sklaverei als Teil historischer Aufklärung), attackieren Drag-Lesungen und begreifen alles, was von weißen und heteronormativen Modellen abweicht, als "extremistisch". All das, um zumeist ihre rücksichtslose Anbindung an z.B. fossile Industrien zugleich zu tarnen und zu flankieren.

Dritte aus dem konservativen Lager begrüßten den Fortschritt, den die kapitalistische Modernisierung bewirkt habe - das jedoch nur hinsichtlich wirtschaftsdienlicher technischer Entwicklungen, für die, und ausschließlich dafür, Wissenschaft zuständig sei, stets von einer zweckrationalen Verwaltung flankiert. Für sie stelle Kultur, Kunst, Houellebcq, Neo Rauch noch eine Kompensation von durch Ökonomisierung zerstörten Alltagsverhältnisse dar, solle aber gesellschaftlich nichts bewegen - und Moral schon mal gar keine Rolle mehr spielen.

 Die kulturelle Moderne hingegen, die sich z.B. auch den Neuen Sozialen Bewegungen der 70er Jahre zeigte, Frauenbewegung, Black Power Schwulenbewegung und anderer dissidenter Subkulturen, sei zu entschärfen, oder gleich zu verbieten. Gendern-Verbote sind dafür ein Beispiel.

 Kunst könne versteigert und verkauft werden oder an der Wand hängen, solle sich aber nicht anmaßen, Terrain jenseits des Tradierten oder formatiert Bürgerlichen zu erobern. Schön privat als Geschmackserlebnis rezipiert lindere sie die Anstrengungen inmitten der kapitalistischen Modernisierung und habe von jeglichem utopischen Gehalt befreit zu werden. Retropien oder konservative Kulturkritik im Medium der Kunst selbst hatte Habermas noch nicht im Blick.

 So bleibe von den kritischen Potenzialen der Moderne nur zurück, was, von Expertenkulturen und Kuratoren verwaltet und bei Auktionen versteigert, jegliche Emanzipation oder Verständigungsleistung im Alltäglichen gar nicht erst ermöglichte, jedoch Tradition vorspiegele. Alle mal hin zur Caspar David Friedrich-Ausstellung, das aber so, dass alles bleibt, wie es ist und von allen weiteren Begründungsansprüchen entlastet wird (S. 53).

 Was dabei verschwindet, erstickt wird, ausgegrenzt wird ist eben das, was die Moderne auch ausmachte: Fragen, was denn moralisch richtig im vernünftigen Sinne, was Wahrheit jenseits von Industrien antreibender Forschung sei und wie Kunst und Leben nun wirklich zusammenhängen könnten. Aufeinander bezogen, nicht voneinander separiert - und nicht auf Expertenkulturen beschränkt, sondern ganz alltäglich.

 Und das nicht, um den Trachtenfetisch niederbayerischer Provinzpolitiker zur einzig maßgeblichen Leitkultur zu erklären, auch nicht, um diese abzuschaffen - sondern, um die Möglichkeit von Räumen für solidarisch geteilte Zukünfte überhaupt diskutieren und gestalten zu können.

 Dieses Modell taugt zu Gesellschaftskritik und Zukunftsentwürfen auch weiterhin. Es sind die so in immer neuen Begründungszusammenhängen prozedural einzubindenden Potenziale des Vernünftigen, die Bürgerbewegungen und zivilgesellschaftliche, eben demokratische Prozesse inspirieren und vorantreiben können. Wie, das hat Habermas 1992 in "Faktizität und Geltung" ausgearbeitet.

[1] (Öffnet in neuem Fenster) Habermas, Jürgen, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt in ders., Sammelband mit dem gleichen Titel, S. 32 ff., Leipzig 1990

[2] (Öffnet in neuem Fenster) Seel, Martin, Spiele der Sprache, Frankfurt 2024, S. 84

Kategorie Gesellschaft

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