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November bis Januar

Judith Hermanns Frankfurter Poetikvorlesung „Wir hätten uns alles gesagt“ trägt den Zusatz Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben und das lässt mich seit Wochen nicht los, hält mich fest im Griff, schmiegt sich aber auch an mich. Ein warmer Rücken, eine harte Kante. Sie berühren mich: der Text, besonders der Zusatz. Warum, das lässt sich gar nicht so leicht greifen. Aber ich habe eine Ahnung. Vielleicht sogar eine Idee.

Bewusst etwas für sich zu behalten, für sich ganz allein, das fühlt sich für mich erst einmal fremd an, weit entfernt. Es liegt mir nicht nahe, es entspricht nicht meiner Intuition. Für die, die mich kennen, bin ich ein offenes Buch – sofern sie es lesen wollen. Ich verrate viele meiner Gedanken ohne die Konsequenzen abzuwägen. Ich behalte andere Geheimnisse, diese, die mir anvertraut wurden, für mich. Aber ich selbst habe kaum Geheimnisse. In meiner Kommunikation steckt sehr wenig Kalkül, man müsste es suchen. Auch in meinen Protokollen.

Seitdem ich also Judith Hermann lese, überlege ich mir öfter, was ich weglassen kann. Was nicht gesagt werden muss. Was in den Zwischenräumen steht und von anderen dort zu finden ist. Es fordert Aufmerksamkeit, sowohl von mir als Schreibende und von den Lesenden natürlich auch. Ich übe also gerade, wieder aufmerksamer zu sein. Meinen Blick durch keine harten Kanten zu fokussieren, sondern an den Rändern weich werden zu lassen. Ein Blick, der aufnehmen darf und soll. Ein Blick, der versucht, verschiedene Perspektiven einzunehmen, aus denen ich ableiten kann, was klar ist, was nicht noch einmal erzählt werden muss. Und was unbedingt. Es gelingt mir schleppend und oft ist es anstrengend. Denn zur Wahrheit gehört auch: Ich wiederhole mich oft. Ich lasse nichts weg, ich sage Dinge sogar doppelt. 

Vielleicht reißt die These, es sei mindestens genauso wichtig, was man im Schreiben (und für mich: im Reden) weglässt, deswegen so an mir, weil dahinter ein Wunsch steckt: Nicht so viel reden, nicht so viel teilen, nicht so oft in Vorleistung gehen. Mehr Strategie.

Vielleicht reißt diese These so sehr an mir, weil ich weiß: So bin ich nicht, aber so wäre ich gerne – zumindest ein wenig. Ich kann ja üben. Und mich dabei trotzdem für mich behalten.

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Aufmerksam auf die Poetikvorlesung wurde ich durch den Newsletter Fragments & Artefacts von Katrin Huth. Ich lese und empfehle ihn gerne. Hier (Öffnet in neuem Fenster) könnt ihr ihn abonnieren.

Da sind zurückgelassene Radieschen im Plastikbeutel auf dem linken der Sitze an der Bushaltestelle Holteistraße. Kommt die Person wieder, die sie vergessen hat? Vielleicht hat sie sie dort mit Absicht abgelegt.

–Ich will alles zu allem wissen. –Ja, darauf habe ich auch keine Antwort.

Die Verabschiedung von S. an der Ecke Libauer Straße/Wühlischstraße. Eine Wiederentdeckung: Outsmarted von The Hives in der M13, eine Rückblende auf die eigene Jugend und dann ist da plötzlich auch die Gegenwart – das alles in nur 30 Sekunden.

Wie rettet man eine Beziehung, die nicht in Gefahr ist?

Ich habe das Gefühl, ich musste diese Minuten festhalten, aber ich weiß nicht, warum. Der Moment ist ein ganz gewöhnlicher. Aber nein, da ist die Ruhe: in mir, in der Wohnung. D. und R. im Schlafzimmer, draußen schneit es langsam, fast statisch. Und ich bin einfach nur hier.

Ein Bäcker in der Tucholskystraße. Vielleicht ist er 18 oder gerade 19 Jahre alt geworden. Rote Haare, schwarzer ausgeblichener Adidas Pulli, Schürze von Wiener Brot, so steht er hinter der Theke und verkauft einer Frau, einer Freundin seiner Großmutter, Brötchen und Croissants. –Und hast du schon was gehört? –Ja, gestern. Ich bin angenommen worden. –Glückwunsch! Herrje, ich würde zu gerne wissen, wofür.

Eine Dokumentation (Öffnet in neuem Fenster) von Samantha Sanders für The New Yorker über drei Frauen, die während der Pandemie begonnen haben, zu schwimmen. Sie haben damit einfach nicht mehr aufgehört. Sie nahmen jedes Wetter mit. Ich sitze in der M10, Höhe Eberswalder Straße, und schaue auf diesen kleinen Bildschirm in meiner Hand, schaue den Frauen zu, schaue dem Wasser zu, dem Winter, der amerikanischen Stadt in der all das geschieht, kann nicht wegschauen. Diese Solidarität untereinander, diese Verbundenheit, mein Bedürfnis danach. 15 Minuten Schwerelosigkeit, fast ganz abgeschirmt, fast so, als wäre ich auch in einem Meer, untergetaucht.

Neues Ziel: So zu leben, dass man das Leben genießen kann. 

Sieben Momente aus diesem Jahr, gemalt auf kleinen Seiten. Fast, als würde sich ein Kreis schließen: Die ersten Zeichnungen ganz am Anfang unserer gemeinsamen Jahre, und jetzt, nach diesem Jahr, das keinen Vergleich kennt und zulässt, wieder welche. Sieben Zeichnungen, die mein Leben markieren. Was für ein Glück. Was für ein Leben. 

Wir diskutieren die Playlist. Mir ist sie zu langsam, M. findet, sie ist zu wild. Er sagt: Die Musik ist wie wir: manchmal peppig, aber meistens melancholisch. 

Vielleicht suche ich mir in diesem Jahr ein Geheimnis und behalte es – ja, wirklich – ganz alleine für mich, trage es mit mir herum, teile es mit niemandem, passe gut darauf auf. 

Plötzlich weiß ich, dass ein lang geliebtes Projekt seinen Endpunkt gefunden hat. Das kenne ich noch nicht, ist neu für mich. Probieren wir es mal: Loslassen, Platz schaffen, dadurch überhaupt erst wieder die Möglichkeit bekommen, Raum einzunehmen. Auf Wiedersehen, fünfpluszwei.

Die freie Zeit, die mir zur Verfügung steht, verlagert sich in die Dunkelheit. Die späten Abendstunden, ab neun, ab zehn Uhr. Im Wohnzimmer angekommen ein tiefes erleichtertes Luft holen – sie schläft. Da sind jetzt Ruhe und Stille, und dann: die Erschöpfung, die Müdigkeit. Ich lege mich also doch direkt zu R., nehme ihre kleine warme Hand. Zwischen Ablegen, Zähne putzen, Hemd anziehen und mich zu ihr legen, die zu kurze Decke über meine nackten Beine, habe ich sie schon vermisst. Es ist eine seltsame Beziehung. Ich staune immer wieder. Eine so bereichernde, aber eine, die mich auch irritiert: Diese ungewohnte Verbindlichkeit, die sich leicht anfühlt, die kaum Arbeit ist, die ich so genießen kann. Aber die Sehnsucht nach produktiven Stunden im Tageslicht, und was damit eigentlich gemeint ist, die Sehnsucht nach Energie, die ist auch da. Bald werden die Tage wieder merkbar länger und mit den hellen Stunden verändert sich erneut alles.

D. bringt das Päckchen, auf das ich schon seit Tagen warte, einfach so mit ins Wohnzimmer. Vier Magazine in grün, eine Geschichte von mir, die mir so viel bedeutet. Sie beweist mir, dass andere lesen wollen, was ich schreibe. Nachdem ich in den vergangenen zwei Jahren so viele Absagen für mein Schreiben bekommen habe, ist diese Geschichte abgedruckt. Ich drehe das Magazin in meinen Händen. Auf dem Magazinrücken plötzlich eine Entdeckung: Ein Zitat aus meiner Geschichte. Alles kribbelt. Die Nacht ist ein geschlossener Raum. (Öffnet in neuem Fenster)

Ich freue mich über jede Rückmeldung, jede Kritik, jedes Lob, jeden Gedanken. Schreib mir gerne, schreib mir irgendwas, schreib mir von dir und deinen Beobachtungen. Es tut gut zu wissen, dass man nicht in den luftleeren Raum hineinschreibt. 

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