Eins vorweg: Ich versuche inkludierende Sprache zu verwenden. Ich verzichte aber auf * wie in Autist*innen, das w/m/d einschließt , weil einige Autisten – darunter ich selbst – starke Probleme haben diese Texte zu lesen. Für den Begriff Autisten finde ich im Moment keinen besseren Begriff als das generische Maskulinum. Autistische Menschen hat – für mich zumindest – eine abwertende Note. Zudem läse sich ein Text, in dem das Wort autistische Menschen ständig vorkommt, anstrengend. Autisten und Autistinnen schließt nicht binäre Menschen aus. AutistInnen ebenfalls. Seht es mir bitte nach, wenn ich für das Plural von Autisten noch keine adäquate Lösung gefunden habe. Ich suche danach. Und natürlich schließt mein Text weibliche, männliche, und nicht binäre Menschen ein.
Immer wieder stößt man in Artikeln, die das Thema Autismus behandeln, über Formulierungen wie „leichter betroffen vom Autismus/nur ganz leicht auf dem Spektrum“ „milde Form von Autismus wie das Asperger-Syndrom.“ „Mein Sohn hat eine milde Form von Autismus“. „Mein Kind ist schwer autistisch.“ „Ich rede jetzt von stark betroffenen Autisten. Die können xy nicht ...“ „Du autistisch? Nee , biste sicher? … mein Cousin hat das ganz schlimm, da merkt man das aber auch.“ Die Beispiele könnten vermutlich noch Seiten füllen.
Das sind Formulierungen, die nicht nur in Deutschland zu Diskussionen führen. Auch im englischsprachigen Raum, wo überwiegend „autistic“ benutzt wird statt „Autist“, also im Sinne von „I’m autistic“ statt „I’m an autist“ (was ich persönlich so gut wie nie lese).
Aber auch dort wird von mild autism und severe autism gesprochen. Und mit mild ist Asperger gemeint. Mit severe frühkindlich.
Viele Autisten, die ich online kennengelernt habe – und mich eingeschlossen – mögen diese Formulierung „milde Form“ nicht, weil sie ein falsches Bild von der Autismus-Spektrum-Störung wiedergibt.
Autismus ist nicht linear. Es gibt viele Facetten, manche Autisten haben stärkere Einschränkungen im Leben als andere, bei vielen sieht man diese Einschränkungen nicht auf den ersten oder gar zweiten Blick. Nicht alle verspüren einen Leidensdruck und mögen den Begriff „am Autismus leiden“ gar nicht. Einige Autisten schaffen es besser, ihre Umwelt so zu gestalten, dass ihre Symptome kaum auffallen. Sie haben evtl. auch ein verständnisvolleres Umfeld, das dabei helfen kann. Manche wirken schwer betroffen, haben nach außen hin auffallende Symptome wie ständiges Stimming* in der Öffentlichkeit , eine auffallend monotone Art zu reden, starre Rituale, deren Einhaltung streng befolgt werden muss. Aber dennoch müssen sie nicht gleichzeitig einen Leidensdruck verspüren. Einige führen ein nach außen hin fast normales Leben. Sind Glücklich. Trotz ihrer starken Auffälligkeiten. Das können sich neurotypische Menschen oft schwer vorstellen. Und das kann man ihnen auch nicht wirklich vorwerfen, so viel Unsinn, wie man inzwischen über Autismus liest. Ob von Nicht-Betroffenen, selbst ernannten Autismus-Experten, die immerzu über, aber nie mit Autisten reden, von Journalisten, die einfach irgendwas aus schlecht recherchierten und/oder veralteten Quellen übernehmen etc.
Viele Autisten beherrschen ein so gutes und gleichzeitig schädliches Masking (Verdecken von auffallenden Autismus-Symptomen) und werden als kaum autistisch wahrgenommen.
Oft bekommen diese Personen dann Sprüche zu hören, wie „Na ja, bei dir ist das ja nicht so schlimm, mein Sohn hat aber ganz schlimmen Autismus ...“.
Dabei wird nicht bedacht, wie anstrengend dieses Maskieren ist. Dieses Anpassen an die Umwelt. An die „Norm“. Nicht auffallen. Nicht ständig anecken, weil das einsam und irgendwann müde macht.
Das ist Thema Masking ist so komplex, das es darüber verschiedene Artikel geben wird, in dem auch andere Betroffene zu Wort kommen.
*Stimming dient der Selbstregulation und Beruhigung und kann besonders in Stresssituationen vermehrt auftreten. Autisten nehmen viel mehr an Reizen von der Umwelt wahr, als Neurotypische Personen (nicht autistische Menschen - kurz Nts).Um uns vor einer Reizüberflutung zu schützen, die zu einem Overload*, Meltdown* und Shutdown* führen kann (auch das äußert sich bei jedem Autisten anders. Manche bekommen Panikattacken, andere wirken, als hätten sie einen Wutanfall, andere bekommen Heulkrämpfe und ein Shutdown ist wie ein PC-Absturz. Bei mir funktioniert dann manchmal Reden nicht mehr. Gar nichts, dann brauche ich absolute Ruhe.) Stimming: Diese Handlungen sind z.B Wippen, Springen, mit den Händen klatschen, Hände flattern, Lautäußerungen wie Summen, das ständige Drehen von bestimmten Gegenständen etc. Nicht wenige Autisten unterdrücken zu auffälliges Stimming in der Öffentlichkeit oder im Beisein von Personen, was zu noch mehr Stress/Unruhe führen kann. Zum Stimming gibt es noch mal einen extra Artikel hier, wo ich über persönliche Erfahrungen berichte
Overload*: Absolute Überforderung. Kann durch alles Mögliche ausgelöst werden. Ist auch oft tagesformabhängig. Beispiel: Ich habe schon einen stressigen Tag hinter mir, weil der Handwerker 3 Stunden in der Wohnung war und meinen Tagesablauf somit durcheinandergebracht hat. Dann muss ich noch einkaufen, weil heute Einkaufstag ist oder der Kühlschrank leer, oder an dem Tag, an dem normalerweise Einkaufstag ist, ein wichtiger Arzttermin ansteht. Das alles bedeutet schon so viel Veränderung und Stress. Für einen Einkauf keine guten Voraussetzungen. Dann ist der Supermarkt vielleicht voller als sonst. Jemand rückt mir ständig so dicht auf die Pelle, dass die Person mir mit dem Einkaufswagen mehrmals in die Hacken fährt. – ein weiterer Reiz zu dem grellen Licht, der Musik, der Lautsprecherdurchsagen, des Gepiepes aus den Backautomaten. Des Gepiepes der Scanner -Kassen. Ich kann Geräusche nicht oder schlecht ausblenden. Auf mich prasselt all das gleichzeitig ein. Im worst case wurde dann noch irgendwas umgestellt. Veränderung. Überforderung. Ich steh da, weiß nicht mehr, wo vorne und hinten ist. Starre auf den Einkaufszettel, um mich zu orientieren, doch die Wörter ergeben keinen Sinn. Ich finde die Sachen nicht, die sonst immer an einem anderen Platz stehen. Werde immer unruhiger. Knete unauffällig in der Jackentasche ein Fidget Toy, Igelball etc. Versuche mich mit meinem Lieblingshörbuch, das ich über Kopfhörer höre, runterzufahren. Aber es war einfach zu viel an dem Tag. Ich steh da und heule aus Überforderung (Meltdown*) Ich sehe nichts mehr richtig, kann die Artikel in den Regalreihen nicht mehr zuordnen, es ergibt keinen Sinn, ich renne planlos durch die Gegend und breche den Einkauf schließlich ab. Mein Hirn ist wie ein PC-Absturz in dem Moment - > Shutdown. Zu viele Prozesse, zu geringe Speicherkapazität. Es laufen zu viele Programme gleichzeitig im Hintergrund ab, der PC ist dafür gar nicht ausgerüstet oder veraltet. So kann man sich das vielleicht vorstellen.
Manchmal kann ich dann einfachste Fragen nicht mehr beantworten. Manchmal ziehe ich den Einkauf trotzdem durch, weil ich dringend Getränke brauche, kaufe dann nur das absolut Nötigste. Doch dann gehen die Schwierigkeiten an der Kasse weiter. Ich bin langsam, völlig verpeilt, hab keine Konzentration mehr. Mir fällt nicht auf, dass die letzte Wasserflasche am Kassenband hinten hängengeblieben ist. Dann muss ich mit Karte zahlen, weil ich in dem Moment nicht mit Bargeld zurechtkomme, weil ich nicht mehr schnalle, dass ich einen Zehn-Euro-Schein abgeben kann, wenn ich was für 6 Euro kaufe. Manchmal gebe ich 5 Euro und brauchte endlos lange, bis ich kapiere, dass mir die Kassiererin sagt, dass noch Geld fehlt. Dann sind die Kassenbänder oft so kurz, dass man gleichzeitig einpacken, aber rechtzeitig darauf achten muss, mit Bezahlen dran zu sein. Noch mehr Überforderung. Dann die Karte richtig einstecken. Und die Pin erinnern. In der Hektik werfe ich dann die Sachen einfach nur in den Einkaufswagen und so landet dann nicht selten eine 1-Liter Flasche auf der Packung Tomaten. Oder auf weiches Brot, das ich dann nicht mehr essen kann, weil zu krümelig. Das stelle ich dann aber erst zu Hause fest, was die nächste Krise herausbeschwören kann, weil das geplante Essen ersetzt werden muss. Und das ist dann mild betroffen? Da sind kaum Einschränkungen? Das sieht man nicht?
Das ist jetzt ein Beispiel von mir. Bei mir kommt noch eine PTBS hinzu. Das macht es vielleicht noch mal schwieriger. So kann ich im Supermarkt keine NC-Kopfhörer tragen, weil ich dann nicht höre, wenn sich jemand zu dicht an mich heranstellt, mich von hinten an der Schulter streift und ich dann Panik bekomme. Dieses Beispiel ist Alltag. Manche Tage klappen mit dem Einkaufen besser. Manche nicht. Aber die wenigsten Menschen würden diese Probleme bei mir vermuten. Erst wenn ich es ausführlich erkläre, wird das Ausmaß bewusst.
Nach außen hin mag es auch nicht autistisch wirken. Das Fernsehen zeigt ja immer wieder den „Vorzeige-Klischee-Autisten“ wie in The Good Doctor etc., was den Eindruck erweckt, das ist wahrer Autismus. Aber das würde hier an dieser Stelle zu weit führen.
Die Menschen haben ein bestimmtes Bild von Autismus im Kopf.
Wer mich wie oben beschrieben im Supermarkt beobachten würde, würde denken, ich sei unfreundlich, leicht gereizt, verpeilt, manche haben mir auch unterstellt betrunken oder auf Drogen zu sein. Ich rede nicht so monoton wie in den Serien (wobei mir mein privates Umfeld schon regelmäßig Rückmeldung gibt, dass ich monoton rede und mein Gesagtes deswegen schlecht eingeschätzt werden kann). Aber es ist eben weit entfernt von dem, was in den Medien dargestellt wird.
Autismus ist oft viel „leiser“, unauffälliger. Weil viele auch bemüht sind, die Symptome zu maskieren. Da wird dann nicht im Supermarkt mit den Händen geflattert, gesummt, immer wieder dieselben Worte wiederholt, weil wir dann schief angeguckt werden würden.
Natürlich ist jeder Autist anders. Und es gibt gute und schlechte Tage. Und an manchen funktionieren Coping Strategien so gut, dass es zu keiner Überforderung kommt.( Zu recht leeren Zeiten einkaufen gehen z.B) Allerdings sind wir Einflüssen von außen ausgesetzt und manchmal ist es nicht möglich, sich den Alltag so zu gestalten, dass er relativ überforderungsfrei abläuft. Das kann am Handwerker liegen, am Zug, der plötzlich ausfällt, am Schneefall, an akuten Schmerzen, die zur Notfallsprechstunde beim Arzt führen etc.
Um den Artikel nicht zu unübersichtlich zu machen und zu viele Themen einzuwerfen, schließe ich den Einstieg in die Welt Autismus erst einmal an dieser Stelle und behandle die anderen Themen separat und hoffentlich geordnet. Über Kommentare würde ich mich freuen. Erzählt gerne von euren Erfahrungen oder was euch hilft.
Arwyn