Hungern? In Österreich? Niemals!
In Österreich muss niemand hungern…
Seit einer Diskussionssendung ist dieser Satz einer Journalistin überall zu lesen. Und wird zurecht kritisiert. Viele sind ob der Empathielosigkeit schockiert, andere regen sich über die Privilegienblindheit auf. Doch – Aussagen wie diese sind für Armutsbetroffene Alltag und mit ein Grund weshalb man sich immer mehr zurückzieht. Nein, in Österreich wird eher niemand verhungern. Aber hungern – das kennen viele. Es gibt 1,5 Millionen Armutsbetroffene, jedes 4. Kind in diesem Land lebt unter der Armutsgrenze. Diese Kinder kennen es wenn der Mangel an Geld tägliches Thema ist. Wenn immer und überall die Kosten im Vordergrund stehen. Armut bedeutet im Alltag zum Beispiel, die Wohnung morgens ohne Frühstück zu verlassen. Aber dazu später mehr…
Ich werde nie den Anruf einer der Schulen der Kinder vergessen. „Sie müssen in Zukunft Gesundes mitgeben. Toastbrot ist keine gesunde Jause. Es muss hochwertig sein“. Und: „das muss Ihnen ihr Kind doch wert sein, oder?“. Damals hatte ich nicht den Mut offen über Armut zu sprechen. Damals haben diese Sätze puren Stress ausgelöst. Weil – 1 Euro mehr oder weniger pro Tag machen den Unterschied ob ich in der nächsten Woche noch einkaufen kann oder nicht. Oder ob man als Elternteil Mahlzeiten auslässt und die Reste, die die Kinder übrig lassen, isst. Übrigens – unser Beispiel ist kein Einzelfall. Nur weil man es in der Öffentlichkeit nicht mitbekommt, weil niemand darüber spricht, macht es Armut nicht weniger wahr. Und auch nicht weniger schlimm für die Betroffenen.
Doch darüber sprechen bedeutet dich mit all den Vorurteilen und Abwertungen konfrontiert zu sehen. Dafür fehlt dir aber neben dem stressigen Alltag, den Armut nachweislich verursacht, die Kraft. Also schweigst du und versuchst dich so gut wie möglich durchzukämpfen. Ohne aufzufallen. Noch mehr Stress. Der typische Teufelskreis.
Warum also kann es passieren das nicht mal mehr genug fürs Frühstück im Haus ist? Wo wir doch in einem relativ guten Sozialstaat leben? Nun…es gibt einerseits Menschen die entweder keinen Anspruch auf Zuschüsse oder Untersützungsleistungen (meist bei prekärer Beschäftigung, also mehrfach geringfügig, Scheinselbständig, EPUler*innen…) haben (so ging es zB uns) oder die aus Unwissenheit oder auch aus Scham keine beantragen (es gibt in Österreich über 60.000 sogenannte Non-Takers, also Menschen, die aus welchen Gründen auch immer keine Sozialhilfe beantragen obwohl sie einen Anspruch darauf hätten). Manche Monate kommt man knapp aber doch über die Runden. Eng ist es immer, aber es geht sich aus. Fixkosten sind bezahlt, Lebensmittel finanzierbar. Es darf nur nichts dazu kommen. Doch genau das geschieht fast immer. Sei es die Anzahlung für Projektwochen (nicht immer können Elternvereine einspringen), sei es eine unerwartete Rechnung, eine Reparatur, sei es die Brille, die ersetzt werden muss, die Öffikosten zur Physiotherapie, die dir ein Riesenloch ins Budget reißen. Wir haben das alles durch. 18 Euro für die Busfahrt in die Stadt bedeuten dann halt die nächsten Tage kein Frühstück zu haben oder die Jause ausfallen lassen zu müssen, aufs Abendessen verzichten….weil 18 Euro den Unterschied machen. Weil das einzige, bei dem Armutsbetroffene noch einsparen können die Lebensmittel sind. Es gibt sonst nichts.
Nein, verhungern wird in Österreich wahrscheinlich niemand. Aber hungern – das kennen viele. Mangelerscheinungen sowie Konzentrationsstörungen sind die Folgen davon. Und damit haben viele zu kämpfen. Plus der Stress den du hast. Denn du willst deinen Kindern Gutes tun. Aber du hast einfach nicht die Möglichkeit dazu.
Kinderarmut sieht man meistens nicht. Sie wird versteckt. Wie generell Armut. Weil niemand in dieser Schublade sein möchte. Deshalb glauben auch viele niemand hier müsse hungern. Was macht denn Armut mit Kindern? Sie bewirkt Unsicherheit und sozialen Rückzug. Nicht nur wegen der fehlenden Möglichkeit der Teilhabe sondern auch um Fragen, Sticheleien oder Abwertungen aus dem Weg zu gehen. Manche werden leise, andere sagen „ich hab vormittags nie Hunger“. Was meistens genauso wenig stimmt wie „ich will nicht mit auf die Projektwoche“ oder „nein Mama, ich möchte nichts zu Weihnachten, ich bin wunschlos glücklich“. Sätze, die ich selbst von meinen Kindern zu oft gehört habe. Sätze, die so nicht stimmen. Es sind Schutzbehauptungen. Für sich selbst oder um die Eltern vor zusätzlichem Stress zu bewahren. Denn jede zusätzliche Ausgabe bedeutet Stress. Kinder lernen sehr schnell: Alles was etwas kostet verursacht Stress. Viel Stress. Und sie versuchen, die Eltern nicht noch mehr zu belasten. Kein Kind sollte so denken müssen. Keins. Kein Kind sollte auf eine Jause verzichten müssen weil mal wieder andere Kosten das Budget für Lebensmittel geschmälert haben.
Nein, kein Kind wird in Österreich verhungern. Aber zu viele leben in diesem reichen Land mit regelmäßigem Hunger. Jedes 4. Kind ist armutsgefährdet. Über 23% der Kinder und Jugendlichen in diesem Land. Armut ist nicht sichtbar. Zumindest nicht wenn man nur oberflächlich hinsieht. Sie versteckt sich gern. Auch in fehlenden Mahlzeiten. Ändern wir das bitte endlich.
Seit 5 Jahren kläre ich über die Folgen von Armut und Beschämung aus Sicht einer Armutserfahrenen auf. Wer mithelfen möchte, dass ich weiterhin unabhängig arbeiten kann, kann dies gerne hier unterstützen:
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