Wann redet er endlich?
Ich hole Lukas vom Kindergarten ab. Seine Integrationskraft sagt, dass alles in Ordnung sei, aber sie müsse mich doch mal fragen, ob man nicht noch was an Lukas‘ Sprache machen könne? „Was soll man denn daran machen?“
Lukas ist mein mittleres Kind, er ist 4,5 Jahre alt und kam mit dem Down-Syndrom zur Welt. Er ist bis heute weitestgehend non-verbal. Er spricht einige Wörter und deutet andere mit einzelnen Silben an. Außerdem beherrscht er passiv 50 und aktiv ungefähr 25 Gebärden. Und für alles andere reichen „Ja“, „Nä“ und Beharrlichkeit. Wenn er mehr Frischkäse möchte, klopft er zum Beispiel sehr laut mit dem Löffel auf den Rand seines Tellers. Oder wenn das Ketchup zu den Pommes fehlt, drückt er den Daumen auf einen freien Platz auf dem Teller und ruft „papapapa (damit meint er mich und meinen Mann), da!“. Wir als seine Eltern wissen natürlich, was er meint. Weil wir ihn kennen und weil wir uns viel Mühe geben, ihn zu verstehen. Und trotzdem gibt es Situationen, in denen er uns nicht das mitteilen kann, was er sagen möchte. Da sind wir dann alle frustriert und er am meisten, schmeißt Dinge nach uns, haut auch mal. Mein Mann und ich schauen uns dann mit traurigem Gesicht an. Und würden so gern. Ihm so gern helfen, ihm so gern den Tag besser gestalten, so gern mit ihm kommunizieren. Auch mal mehr als nur Abfragen, was er möchte. Mit ihm über seine Träume sprechen. Über seine Gedanken. Warum er gerade so lacht oder warum er wütend ist.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass diese Situationen im Kindergarten noch öfters vorkommen als daheim. Der Unterschied zwischen uns und dem Personal im Kindergarten ist aber der Erwartungshorizont. Für die Erzieher:innen ist die Norm ein Kind, das viel spricht, einen bestimmten Wortschatz vorweist und dies auch noch in einem bestimmten Alter oder einer Zeitspanne nach Eintritt in den Kindergarten. Wenn diese Annahme aber als Norm gewertet wird, kann mein Kind ja nur als Mängelperson gesehen werden. Als ein Kind, das „noch“ nicht „richtig“ spricht. Als ein Kind, das sich einfach noch mehr anstrengen muss, um den Standard zu erfüllen. Als ein Kind, das „vielleicht einfach noch mehr Logopädie braucht“, um dahin zu kommen, wo andere Kinder sind. Mehr Förderung, mehr Willen, mehr von allem. Um endlich in die Norm zu passen.
Diese Einstellung teilen mein Mann und ich nicht. Wir holen Lukas da ab, wo er steht. Er spricht nur wenige Worte? Also füllen wir das, was „fehlt“, mit allem anderen auf. Lukas ist für uns eine vollständige und wertvolle Person. Wir finden nicht, dass es ihm an etwas mangelt. Er kann auf so vielen Ebenen kommunizieren, die non-verbal und eben sehr viel leiser sind als Worte. An der Stelle müssen wir eben genauer hin hören, genauer hin schauen. Fühlen und Vertrauen.
Er zieht beim Fernsehen meine Hand in seine. Wenn ich ihn auffordere, aufzuräumen, guckt er gelangweilt in die andere Richtung. Wenn er wütend ist, schreit und schimpft er. Die Personen, die behaupten, dass sie ihn nicht verstehen, sind diejenigen, die sich keine Mühe geben. Und nicht er.