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Wäre unsere Gesellschaft ein Körper … eine Anregung zur Leibesübung

Ein Essay darüber, wie wir aus der Verstockung herausfinden können.

“Gewiss ist die Masse oft verbrecherisch, aber auch oft heldenhaft.”

Gustave le Bon (1)

Die kontinuierliche Problemlage

Aus der Gesellschaft auszusteigen, funktioniert nicht. Wir sind die Gesellschaft. Sie ist um uns. Geschriebene und ungeschriebene Gesetze bestimmen den Rahmen unseres Handelns. Wir können nicht aussteigen aus der Gesellschaft. Wir können woanders hingehen, aber auch dort ist Gesellschaft (mit anderen Gesetzen und Rahmenbedingungen). Es ist eine Zumutung! Aber wir müssen uns, egal ob hier oder da, auseinandersetzen mit diesem Leib namens Gesellschaft, dessen Teil wir sind.

Es gibt aber eine Frage, die wir stellen können als Gesellschaft: Wie werden wir der innewohnenden Gefahr der Gesellschaft habhaft? Sprengmeister gab es immer und wird es immer geben. Der Umgang mit ihnen fordert eine Gesellschaft jedes Mal aufs Neue heraus. Vernichten? Ignorieren? Tolerieren? Herausschneiden? Isolieren?

Eine Frage, die wohl so alt ist wie die Gesellschaft. Und natürlich ist es je nach Standpunkt eine andere Figur, die den Sprengmeister gibt. In der demokratischen Gesellschaft waren wir uns jedoch bis in die 2010er hinein sicher, dass - gerade wir Deutschen - den ultimativen Sprengmeister, egal welcher politischen Couleur und Prägung wir sind, im Blick haben. Dirk Kurbjuweit schrieb Anfang Februar im Spiegel-Leitartikel:

“Politischer Kampf ist heute komplexer als in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, als die Öffentlichkeit nach anderen Kriterien funktionierte. Damals war die gesamte Wählerschaft für die Politiker erreichbar. Die Debatte lief zum großen Teil über die Medien, die ein Lagerfeuer für fast alle waren. Zugleich achteten die Medien als eine Art Türhüter darauf, dass das öffentliche Meinungsspektrum im Rahmen des Nie-wieder-Gebots blieb.” (2)

Der Kampf gegen den Sprengmeister war in jener - für die Generation Boomer im Übrigen prägenden - Zeit verhältnismäßig einfach: Rechtsextremistische Strömungen waren verpöhnt und relativ gut erkenn- und ausschließbar. Von dieser Sichtweise geprägt ist auch die Bezeichnung “Rattenfänger” (Steinmeier), die der Bundespräsident gegenüber der AfD verwendet hat, was nicht nur auf Zustimmung stieß. eine verführerische Persona einer ahnungslosen Gruppe. Dazu später mehr.

Die Frage, wie umgehen mit dem Feind der Gesellschaft ist derzeit brisanter denn je. Auch deshalb, weil wir in einer Zeit, in der die Vorstellung über das, was jene Gesellschaft denn sei, sich nicht mehr aus sich selbst heraus ergibt. Wer sind wir? Sind wir noch eine Gesellschaft? Oder viele kleine Gesellschaften, zusammengehalten durch nationale Grenzen? Die Feinde der Gesellschaft haben sich vervielfältigt. Dies äußert sich unter anderem durch eine Unverbundenheit zur sozialen Umgebung. Wir spüren sie in unserer Lebenswirklichkeit immer häufiger, Familien, die sich über Pandemie-, Kriegs-, und Gendersternchen entzweit haben. Freundschaften, die zerbrochen sind, weil sich kein Common Ground in grundsätzlichen oder tolerierbare Distanz in den praktischen Fragen mehr herstellen ließ.

Wir sprechen über das Gleiche, meinen aber nicht mehr dasselbe. Etwa:

Dialoge von Heute

“Die Demokratie ist bedroht.”

“Ja.”

“Dagegen müssen wir etwas tun.”

“Ja.”

“Also müssen wir die demokratischen Institutionen wie Parlamente, unabhängige Medien und Gerichte stärken.”

“Genau da Gegenteil ist wahr! Der Journalismus ist tot, die Parteien sind tot und die Gerichte sind Marionetten.”

“…”

“…”

“Wie wollen wir die Demokratie bewahren, wenn wir sie zerstören?”

“Ich will sie nicht zerstören. Ich will sie bewahren.”

Ende

Ohne Klärung

Solche Diskussionen unter Freunden endet derzeit ohne Klärung. Selbst wenn wir Freundschaften aufkündigen, steht die Frage, was wir als Gesellschaft sein wollen, im Raum. Neulich fragte mich jemand: “Was mach’ ich denn jetzt?” Einer seiner Lieblingskünstler wurde gecancelt. Er klang aufgebracht, denn die Musik bedeutet ihm viel, wichtige Momente passierten unter dem Einfluss dieser Werke, die sein Lebensgefühl von damals transportieren. Die Musik dieses Künstlers ist sein akustisches Gedächtnis. Und jetzt hat er etwas falsches gesagt.

Ja, was macht man da? Die Kunst existiert auch ohne den Künstler, cool down. Oder anders gefragt: Willst du deine Erinnerung auch canceln?

Solche Diskussionen gehen weit hinter unsere Errungenschaften als demokratische Gesellschaft zurück. Wir verhandeln mit unseren Mückengehirnen große Fragen, auf die wir uns als Gesellschaft nicht mehr einigen können (sorry, Mücke). Kein Wunder: individuelle Entscheidungen (impfen oder nicht?) wurden vergesellschaftet, soziale Fragen (Bürgergeld, Umgang mit Minderheiten, Klimaschutz) argumentativ ins Reich von “Bild dir deine Meinung” verschoben. Sie sind Triggerpunkte in unseren Konversationen geworden, die - wie Steffen Mau empirisch nachweist - den immer noch hohen Normenkonsens unserer Gesellschaft überdecken. (3) Sprich: Eigentlich sind wir uns einig, aber wehe du nimmst das Wort GENDERN in den Mund. Wären wir als Gesellschaft ein Körper, so wären wir ziemlich verknotet. Kein Vorankommen ist möglich.

Dass wir uns nicht mehr einigen können, in welche Richtung es gehen soll mit uns als Gesellschaft, schreiben einige der Paradoxie der spätmodernen Gesellschaft zu. Auf Platz eins der Gründe sehen Sozialforscher*innen das uneingelöste Versprechen einer Wohlstandsgesellschaft für alle, zumindest die meisten (2). Was die einen dazu bringt, laut aufzuschreien: “WELCHE WOHLTATEN?” und die anderen “Seid halt fleißiger!”. Der soziale Fortschritt, eingeschrieben in moderne Demokratien, stellt sich als enttäuschend heraus.

Scheinbewegung Aufstieg

Und ist möglicherweise auch nicht gewünscht? Alt-Bundespräsident Gauck zumindest stellte jüngst fest: “In jedem Land gibt es nachweislich einen erheblichen Teil der Bevölkerung, der strukturkonservativ geprägt ist. Diese Menschen finden Sicherheit wichtiger als Freiheit.” (4). Die normative Haltung von Konservatismus wird klarer, wenn man sich vor Augen führt, dass die Welt immer voranschreitet. Eine Ordnung zu “bewahren” statt in einem steten Fluss der Ereignisse nach (besseren) Lösungen zu suchen, die (gesellschaftliche oder materielle) Errungenschaften auch unter veränderten Bedingungen bewahrt, sind zwei verschiedene Paar Stiefel. In der politischen Rhetorik wird das derzeit nicht immer deutlich. Natascha Strobl nach verfügt der politische Konservatismus “über ein eigenes ideologisches Inventar.” In Bezug auf die gesellschaftliche Ordnung bedeutet Konservatismus Stabilität. Und das hat Folgen: “Zentrale Bedeutung […] hat die Vorstellung, Ungleichheit sei für das Funktionieren einer Gesellschaft konstitutiv. Klare Hierarchien sichern die soziale Ordnung.”(5) Der gesellschaftliche Körper mag es stabil.

Ungleichheit ist also mehrheitsfähig als konstituierendes Moment der Gesellschaft. Denn ansonsten droht der Gesellschaft, wie Strobl schreibt, aus konservativer Sichtweise Ungemach: “Gerät sie in Schieflage, kommt es zu Krisenerscheinungen.” (5 ebda)

So lange genug für alle da war, hat die Gesellschaft Ungerechtigkeit abfedern und das Wesen von Ungleichheit sublimieren können. Konnten Boomer im leeren Deutschland ein Aufstiegserlebnis vor dem Hintergrund existenzieller Krisen erreichen, haben jüngere Generationen, allen voran Millenials oder Gen Z eher apokalyptische Visionen vor dem Hintergrund existenzieller Überversorgung (6). Je weniger reale Aufstiegschancen sich ergeben, desto schriller allerdings werden sie eingefordert und vermarktet. Social Media kann ein lustiger Zeitvertreib sein - oder die Hölle auf Erden, denn du findest immer eine*n, der genau das hinbekommen hat, was du längst wolltest. Was, wenn es bei dir nicht klappt?

Der gesellschaftliche Aufstieg ist zu einer Scheinbewegung geworden: falsche Versprechen, unklare Worte, politische Hybris, die die Sprengmeister und Rattenfänger angezogen haben.

Denn aus latenter Unzufriedenheit kann, bei geeigneter Führung und einem politischen Sinn-Vacuum wie derzeit, aus akzeptabler Ungleichheit sein ruchbarer Bruder, die “Ungleichwertigkeit” (7) werden. Spätestens dann haben wir das mühsam beackerte Feld der Meinungsfreiheit verlassen, jenes hohe Gut, das allen in dieser Gesellschaft das Recht einräumt, seine Gedanken frei zu äußern - so lange dadurch die Demokratie, auf der dieses Recht beruht, eben nicht verletzt wird. Oder die Würde eines anderen verletzt. Der Kampf zwischen demokratischen Gruppen, in denen man sich gegenseitig den Bruch der Meinungsfreiheit vorwirft und “totalitäre” Denkweisen vorwirft, gehört zu den Symptomen dieser Zeit. Die Frage, ob die Beförderung von Gleichberechtigung über einen Zustand der Übergerechtigkeit (Quote, Affirmation Act) erreicht werden solle oder nicht, mag demokratisch auf verschiedene Art beantwortet werden. Die Frage indes, ob manche Menschen aufgrund ihrer biologischen Herkunft mehr wert seien als andere, kann nur außerhalb des demokratischen Spektrums beantwortet werden - sie mit NEIN zu beantworten, ist systemimmanent.

Versuche dieser Faschisierung unseres Denkens hat es immer schon gegeben, einschließlich der aktuellen Rädelsführer der #noAfD und ihrer Brüder im Geiste. Und sie scheinen alle Gustave le Bon gelesen zu haben.

Ehrenmann zum Verbrecher, Hasenfuß ein Held

Gustave Le Bon gilt als Begründer der Massenpsychologie. Sein auf Deutsch erstmals 1911 erschienenes Werk “Psychologie der Masse” ist zwar in Ton und Metaphern veraltet. Lässt man sich in Anerkennung seines Erscheinungsdatums auf diese Analyse ein, ist man jedoch überrascht über dessen Aktualität. Sein Urteil über die Masse als handelndes Objekt ist deutlich. Le Bon schreibt: “Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab. Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar.” Andererseits schreibt er der Masse, die in der Lage sei, Dinge zu tun, die er als Einzelne nicht vermochte, großes Potenzial in der Geschichtslenkung zu, denn “der Ehrenmann wird zum Verbrecher, der Hasenfuß zum Helden”. (8)

Bundespräsident Steinmeier schoss sicherlich nicht unbedacht mit Schrot, als er die noAfD als “Rattenfänger” bezeichnet. Ein starkes Bild - das zu entsprechenden Reaktionen führte, unter anderem zu jener, dass diese Verunglimpfung die Anhänger der in Teilen, möglicherweise bald gänzlich gesichert rechtsextremen Partei weiter in deren Arme triebe. “Wer will bitte eine Ratte sein?”, schrieb mir empört mein Freund Kristian, dessen luzide Gegenwartsanalysen ich sehr schätze. Meine Antwort: “Aber sie sind es doch, Rattenfänger!”

Der Rattenfänger von Hameln gehört zu jener Gattung Märchen, die die Moral von der Geschicht’, wie seinerzeit üblich, ohne viel Sublimität vermitteln wollte: ein Flötenspieler, der ahnungslose Kinder aus Ärger über seine Kunden entführte. Die Kunden, Bürger, hatten ihm zuvor den Lohn verweigert, weil seine Art, die Stadt von Ratten zu säubern (sie mit seiner Pfeife zum Fluss zu führen und zu ertränken), nicht gefiel. Das machte den Pfeifer so sauer, dass er als grausiger Rächer zurückkehrte und willenlose Minderjährige irgendwo hin entführte. So stark finde ich die Geschichte im Übrigen nicht, aber Wikipedia meint, dass besonders Japaner und die USA diese “deutsche Sage” liebten.

Von Hamelenser - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0,

Diese Rattenfänger, Sprengmeister und Rädelsführer haben sich lange vorbereitet auf dieses Jahr, in dem die halbe Welt wählt, auch Europa und mit den drei Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg gleich 3 deutsche Hochburgen einer Partei, die - Correctiv zeigte es - Freunde von Deportationen die ihren nennt und in Form des Oberrädelsführers Höcke vom Systemsturz träumt. Wie es Höcke gelungen ist, weite Teile der Medienlandschaft zu paralysieren, dass sie sich die Zähne an ihm ausbeißen, ist noch nicht ganz geklärt. Für mich persönlich gäbe es nur eine Frage an Herrn Höcke: “Sind Sie rechtsextrem?”, die so lange wiederholt werden muss, bis er den Raum verlässt oder mit Ja antwortet. Denn sein “Nein, natürlich nicht” (in langwindigen Phrasen) muss so penetrant mit Fakten gekontert werden, damit der eigenen rattenfängerischen Erzählung kein Raum gegeben wird. Journalist*innen sollten die Wadenbeißer sein in diesem Spiel, nicht umgekehrt! (9)

Wie aber gehen wir als Gesellschaft um mit diesem Zustand, in dem wir schon angefressen sind von den Rattenfängern und Sprengmeistern? Wäre unsere Gesellschaft ein Körper, stünden wir unter extremer Spannung. Zwei gegenläufige Bewegungen, in denen wir verharren. Wo sollen wir hin?

In guter Gesellschaft

Wir stellen diese Frage mit Blick auf die #noAfD derzeit neu - privat, in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Als Medien und Parteien. Ich persönlich glaube, dass die Antwort in uns liegt und möglich ist und auch nicht meilenweit entfernt. Aber dafür müssen wir uns an einer Stelle ehrlich machen:

Die #noAfD lebt allein von Aufmerksamkeit. Ob sie gut oder schlecht ist, ist ganz egal. Schlechte Presse belegt den AfD-Wählenden lediglich, dass die Presse schlecht ist.

Wie das passieren konnte? Aus meiner Sicht mit einem Taschenspielertrick, auf den wir hereingefallen sind. Das Dumme ist: je weiter weg wir von einem autoritären Denken sind, das Gesellschaften lange Zeit in mehr oder weniger starker Ausprägung zusammengehalten hat, desto eher tappen wir in die Falle.

Die Zumutung als demokratisches Prinzip

Aber von Beginn an:

Eine aufgeklärte Gesellschaft braucht ein gerüttelt Maß an Toleranz und Einsicht, an Kompromiss- und Leidensfähigkeit, Verzeihen und ein gewisses Maß an (lakonischem) Humor.

Ich muss also bestimmte Menschen nicht leiden können, um sie zu ertragen. Es ist vom demokratischen Code of Conduct abgedeckt, dass ich mich mit Inbrunst aufregen oder einfach für “doof” erklären. Ich muss sie nicht leiden können. Es ist Teil meiner gemeinschaftlichen Erfahrung in einer demokratischen Gesellschaft, dass andere - gar befreundete- Menschen diese Person “cool”, “beeindruckend” oder “gut” finden. Eine gewisse Spannung steht unserem gesellschaftlichen Leib gut. Solange wir wissen, dass wir alle voneinander abhängen. Sich mit jemandem zu streiten, ehrt das Anliegen, das jener andere vorbringt.

Wer politische Entscheidungen oder Gerichtsurteile unter der Brille einer permanente Mini-Zumutung liest, die uns als Gesellschaft in Bewegung halten soll, kommt weit: Ja, man kriegt nicht einfach etwas geschenkt, nur weil wir Teil dieser Gesellschaft sind. Ja, ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit ereilt uns im Tun und Handeln. Ungelöst in den marktwirtschaftlichen Demokratien ist aufgrund des autoritären Charakters des Gegenmodells, wie man soziale Fairness herstellen kann, ohne den positiven Charakter kompetitiven Verhaltens zu beschädigen. Oder anders: wie funktioniert fairer Wettbewerb für alle? Eine gute Antwort ist schwer. Die Folge: wachsende Ungleichheit, bereitet nun den Boden für die aktuelle Überspannung unseres Leibs. Das ist eine politische Aufgabe, die gesamtgesellschaftlich diskutiert werden sollte.

Der gute Streit

In der Tradition des guten Streits steht auch die parlamentarische Auseinandersetzung. Sie ist nicht ohne Grund ein hohes Gut in einer Demokratie. In der jüngsten General-Debatte zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz zeigte sich, dass der harte sachliche Disput beide besser macht. Diesen Kontrapost brauchen beide - Kanzler und Oppositionsführer - um ihre Aufgabe gut zu machen. We are watching you - gut so! Es zeigt, wie beschädigt unser demokratischer Diskurs ist, wenn wir a) den offen ausgetragenen Diskurs über die beste Lösung in der Ampel ausschließlich negativ bewerten und b) die große Koalition (wobei sie so groß wahrscheinlich nicht wäre) zur einzig denkbaren Option erklären, um aus dem aktuellen Schlamassel zu kommen. Ich frage stattdessen: Ist der offen ausgetragene Diskurs in der Ampel schlicht der Diskurs in der “Mitte der Gesellschaft”? Ist das Ringen um die Frage, wer wir morgen sein wollen, zurzeit nun mal die zentrale?

Vielleicht sollen wir uns um das Feuer dieser Debatte versammeln und mit debattieren anstatt beleidigt auf die einzuhacken, die unserem politischen Gusto nicht entsprechen. Es kann gut sein, dass die Ampel eine Übergangsregierung ist und sich in dieser Konstellation nicht wiederholen wird. Aber vielleicht ist sie derzeit die ehrlichste Koalition - die ja mitnichten ineffektiv oder gar schlecht regiert, wie Zahlen belegen -, weil unser gesellschaftlicher Leib eben in zwei Richtungen laufen will. Und das geht nicht.

Und möglicherweise ist das - hoffentlich dereinst rückwirkend - das große Verdienst der #noAfD und Autokratie-Fans wie Trump oder Órban, uns als gesellschaftlichen Corpus in eine derart große Spannung zu versetzen, dass wir schlussendlich, zu Teilen murrend vielleicht, wieder in eine Richtung gehen. Und zwar voran. Hin zu einer modernen Gesellschaft, die die Bedürfnisse der Zurückgebliebenen besser integriert. Warum Fortschritt und Regression die zwei Spannungszustände sind, in denen moderne Gesellschaften sich bewegen, legt Rahel Jaeggi in ihrem neuesten Buch “Regression und Fortschritt” eindrücklich und überraschend verständlich dar. Es hilft, zu verstehen, dass ein gewisses Maß an Beharrungsvermögen Teil von Fortschritt ist - es gibt keine geradlinige Entwicklung und die Diskussion “welcher Fortschritt” denn der richtige sei, ist notwendiges Schmieröl. Oder, um im Bild des Körpers zu bleiben: unser Energielieferant. Das Aushandeln ist die Nahrung, mittels der wir als demokratische Gesellschaft lebendig bleiben. (10)

Die Regression, wie sie US-amerikanische, österreichische, deutsche oder argentinische Autokraten verkörpern, hat mit Konservatismus nichts zu tun. Das hat Natascha Strobl schon 2019 in ihrem Buch nachgezeichnet. Natürlich gibt es auch einen konservativen Fortschritt, wie ihn hierzulande die CDU verkörpert. Dass sie sich jetzt ungewollt oder unbedacht oder toleriert mit ihren Thesen zur Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik plötzlich im Fahrwasser einer rechten Revolutionspartei befinden, gehört zu den notwendigen Einsichten, die uns die enthemmte #noAfD vor die Füße gelegt hat. In einer Transformation, die längst begonnen hat (der Klimawandel hat längst angefangen), liegt die Definition von “Fortschritt” außerhalb der politischen Gestaltungsmacht. Vergleichen wir es mit dem Ende des Nationalsozialismus: Fortschritt war nur in eine Richtung denkbar und wurde in dem Moment erfolgreich, als sowohl konservative als auch progressive Strömungen die Grundlage des Fortschritts (Marktwirtschaft) mehrheitlich akzeptierten. Es gab Ränder, aber ihr Einfluss auf unseren gesellschaftlichen Körper lag zwischen einem Ausschlag, der bisweilen juckt und dem Gefühl, sich den Zeh an der Tür angeschlagen zu haben (sehr kurz sehr schmerzhaft). Jetzt hat die Gesellschaft Hexenschuss - mindestens! Und was hilft da? Richtig, Bewegung.

Wir müssen uns also klar machen: Die Alternative zum Progressiven für die Gesellschaft ist nicht das Konservative, sondern das Reaktionäre. Nicht das Bürgerliche, sondern das Rohe*. Nicht die langsame Erneuerung, sondern der Niedergang der modernen Gesellschaft.

*Ein so wunderbar treffender Begriff bei Natascha Strobl, die “rohe Bürgerlichkeit” - das ist ein sichtbarer Unterschied zu konservativ eingestellten Menschen, die ich stets anständig empfinde. Also: wollt ihr das? Diese Rohheit in eurer Mitte?

Und die Alternative zur Wahrheit? Ist Emotion.

Zumindest im politischen Raum.

Die Alternative zur Wahrheit? Emotion

Das ist einigermaßen irritierend in einer Zeit, in der wir viel Positives über Emotionen gelernt haben: Sie zuzulassen. Anderen ihre zuzugestehen. Ich-Aussagen zu formulieren, denn was man fühlt, ist immer wahr. Auszeiten nehmen und sich neu sortieren dürfen. Emotionsarbeit. Die Möglichkeit zu sagen: ich habe mich verändert.

Doch jener Aufstieg der Emotion als kommunikative Währung im Privaten brachte im Schlepptau die Emotionalisierung sachlicher Diskurse mit sich. Eine Emotionalisierung des Politischen. Als wir anfingen, unseren Seelenschmerz zu benennen, wurde er für politische Zwecke gekapert. Ganz vorne mit dabei: kühle Politikertypen an den politischen Rändern.

Noch einmal: die unvollkommene Bedürfnisbefriedigung ist Teil des Menschseins. Noch nicht einmal der reichste Mensch der Welt “hat” alles …

… und vielleicht erkennen wir in der aktuellen Trump-Schmelze auch den hohen Anteil von Angeberei im wirtschaftlichen Erfolg, ihn abzubauen, wäre doch eine Erleichterung für alle anderen.

Emotion existiert, in uns allen, und an schlechten Tagen neigt selbst der reflektierte Mensch zum Selbstmitleid. Die Kernfrage, wie viel Unwohlsein demokratisch abgedeckt ist, lässt sich objektiv nicht lösen. Sie ist Teil von Parteiprogrammen und jenem Hin- und Herwogen zwischen konservativeren und progressiveren Gesellschaftsentwürfen. Es ist allerdings ein großes Missverständnis, wenn die #noAfD und die in dieser Hinsicht ähnlich fischende BSW-Partei ihrer Wählerklientel suggeriert, ihre Wut “gegen das Establishment”, ihre Entrüstung angesichts der Zumutungen und ihre Angst vor Überfremdung, diese Emotion sei sachpolitisch lösbar. Denn sachlich gilt:

  • Demokratie ist kein Konsumprodukt. Wir können gegen euer Unwohlsein Dinge verbessern, aber nicht abschaffen; und von Vereinen über Petitionen bis zu Bürgerräten existieren auch zivilgesellschaftlich etablierte demokratische Prozesse der Einflussnahme jenseits von Wahlen.

  • Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft. Ökologische und ökonomische Krisen lassen gar nichts anderes zu, unser relativer Wohlstand als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt bedingt eine hohe Attraktivität und der Fachkräftemangel in Deutschland und die Tatsache, dass eine gewisse Multikulturalität dem Vorankommen von Gesellschaften eher nutzt als schadet, sind die Grundlage für Debatten zu Möglichkeiten und Grenzen zur Integration. Ja, es gibt Probleme. Aber diese lassen sich nicht durch den unrealistischen Wunsch einer Abschottung (nice “ethischer Pluralismus”, mhm) oder gar Deportationsfantasien lösen. Punkt.

  • Putin ist ein Autokrat, mit dem Kompromisse zu schließen, keinen Frieden bringt. Herr Höcke sowieso und auch Frau Wagenknecht: ist ein autokratischer Verdachtsfall.

Sorry, aber: die Demokratie hat nicht DIE Lösung für all deine Probleme

Die politische Antwort auf die Angst, Wut und Unzufriedenheit der Umstände liegt, wenn sie nicht an die Vernunft appelliert, zwangsläufig außerhalb des Demokratischen. Die politische Antwort der Ränder, die ein Auflösen negativer Emotionen auf demokratisch inhärente Missstände verspricht, MUSS damit revolutionär sein.

Revolutionär. Das klingt halt auch sexy, wenn man diesem trägen Leib namens Gesellschaft angehört, von dem man nicht wegkann. Die Welt ist voller selbsternannter Revoluzzer, die nur so lange lächerlich sind, bis der erste applaudiert (wer erinnert sich noch an seine erste Reaktion, als Trump seine erste Präsidentschaftskandidatur angekündigt hat? Ich habe “jajaschonklar” gedacht). Es gibt außerdem, insbesondere und konkret in Deutschland Beteiligte einer als unvollendet verstandenen Revolution, und, seit Corona, mehr und mehr von alternativen Medien Erweckte, die mal seriös, mal marktschreierisch verkünden, DIE Wahrheit entdeckt zu haben.

Revolution ist sexy. Und es fühlt sich einfach zu gut an, abseits dessen, was - wie man denkt - alle wissen, mehr zu wissen. Das Gefühl, die Wahrheit zu besitzen, ist möglicherweise natürlicher als der ewige Zweifel. Ich weiß, das ich nichts weiß. Dieser Satz von Sokrates ist, ernst genommen, ähnlich einschneidend wie die Jesus zugeschriebene Aussage: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Zu wissen, dass man nichts weiß, ist die erste Voraussetzung des Wissens. Sich selbst zu lieben, ist die Voraussetzung für Liebe. Auf unser Thema übertragen, bedeutet dies: unruhig zu werden, wenn man sich zu sicher ist, that’s the game. Und: verehrt keine Führer. Wirklich nicht. Das gilt im Übrigen für alle, blindlings folgen und denken, es gäbe sie, DIE Wahrheit: führt immer in die falsche Richtung. Dass es recht einfach ist, zeigt die Geschichte. Nochmal Le Bon: ….

Wesentlich scheint mir die Triebfeder. Der Wunsch nach Bedeutsamkeit. Sind wir narzisstischer geworden? Weniger fähig, unsere Wünsche einer Gemeinschaft unterzuordnen, damit wir zusammen vorankommen? Fühlen wir diese Gemeinschaft möglicherweise überhaupt nicht mehr?

Stuck - flow - Marschieren - Bewegen

Interessant in diesem Zusammenhang ist doch: Wir sind ALLE unzufrieden. Grundsätzlich immer (der beste Seelenzustand sei “heiter bis wolkig”, las ich einst). Und aktuell besonders. Im letzten Jahr haben wir verschiedene performative Demokratieakte erlebt, die mit “Blockade” zu tun hatten. Landwirt*innen und Klimaaktivist*innen kamen, meine These, mit derselben, zwischen Wut und Erschöpfung changierenden, Emotion zu der Erkenntnis, den Betrieb aufhalten zu müssen, um ihr Anliegen vorzubringen. Es ist ein starkes Bild: Wir kommen nicht voran, wir sind stuck, fühlen uns blockiert. Unser Leib kann eben nicht in zwei Richtungen marschieren. Wir spüren diese Zerrissenheit als Gesellschaft. Den Betrieb anzuhalten, ist daher nur konsequent.

Und dann die Demos. Eine überraschend große Gruppe verabredet sich, um sich zu bewegen. In eine Richtung zu gehen und dabei zu singen, zu rufen oder zu schreien. Das gemeinsame, vokal unterstützte Marschieren ist eine alte Übung. Wir eignen uns in den “Massendemos” derzeit aber auch ein Bild an, das andernorts wehrbehaftet oder gar faschistisch ist. Eine gemeinsame Bewegung einer großen Menge in eine Richtung: Hier kreuzen sich der Sport als gesunder Bewegung und Gruppenaktivität mit Sport als Ertüchtigungsprozess für Verteidigung und Krieg, wie er in “Wehrsportgruppen” noch bis heute in rechtsextremen Kreisen gelebt wird. Alte Bilder oder auch die Aufmärsche in autoritären Ländern wie Russland zu Jahrestagen setzen wir eine etwas chaotische, in ihrer Ausübung nicht immer einige und zu Teilen sich politisch widersprechende Massenbewegung gegenüber. Die sich dennoch in der Lage ist, in Bewegung zu setzen.

Das ist bemerkenswert, denn ist es undurchschaubarer denn je geworden, zu wissen, ob mein sonor klingendes Gegenüber nicht doch schon ein rechtsradikaler A* ist. Semantische Entrophie könnte man jenen Zustand nennen, in dem wir uns befinden: es fühlt sich so an, als ob die Bedeutung der Worte, die wir bis vor wenigen Jahren eindeutig dechiffrieren konnten, unaufhaltsam ins Rutschen gelangt ist. Der Wortschatz von Rassisten klingt ähnlich zu unserem. Was gesagt ist, kann empathisch oder menschenverachtend, toleranzbewehrt oder rassistisch, emanzipatorisch oder anti-emanzipatorisch sein. Beispiel “Demokratie” bewahren: Das wollen auch jene, die einen revolutionären Ausstieg aus derselben im Sinn haben. Wie viel Sorgen sich Herr Chrupalla um die Demokratie macht, da seine Partei im Gegenwind steht! - Leider sind fast alle Journalist*innen in den letzten Wochen daran gescheitert, den Parteivorsitzenden aus Sachsen seine Rolle als sorgenvoll dreinblickender, optisch als Sparkassenabteilungsleiter daherkommender Hetzer streitig zu machen. Egal, ob Deutschlandfunk, ARD oder Privatfernsehen: Da man jedes Wort, das er sagt, anhalten und nach konkreter Bedeutung hinterfragen müsste: Welches Volk meinen Sie? Warum Altparteien? Ist das ein Grund, rechtsextrem zu wählen - denn das sind Sie doch? - ist es nahezu unmöglich, ein Live-Interview mit diesem (oder auch fast jedem*jeder anderen, offenbar längst geschulten) #noAfD-Politiker*in der ersten Reihe zu führen, ohne das Gespräch ad absurdum zu führen.

Rassismus im Namen der Demokratie

Denn: Ihre Revolution erfolge im Namen der Demokratie. In ostdeutschen Regionen beliebt ist die Erzählung, dass die unvollendete Revolution (von 1989) erst mit ihr vollendet würde. Konkrete Forderungen passen dazu: Volks-Herrschaft wird durchaus konkret gedacht - wer in die Tiefen der Geschichte rund um die Deutsche Einheit taucht, erkennt den basisdemokratischen Movens der Bürgerrechtler*innen, der ihnen in der repräsentativen Parteiendemokratie in Deutschland nicht wiederentdeckten - eine alte Forderung, die die #noAfD, aber auch regionale Splitterparteien z. B. in Sachsen breit am Revers tragen: Mehr Mitspracherechts fürs Volk - also das Richtige. Dasselbe fordert die neu gegründete Werteunion, die keine Brandmauer zur #noAfD aufbauen möchte.

Die Rechtsextremen fordern also: Mehr Basisdemokratie. Ein Ansinnen, bei der sie auf jeder Antifa-Veranstaltung Punkte sammeln würde.

Die perfekte Persiflage zur neuen semantischen Entropie dazu brachte nun Mai Thi Nguyen-Kim: Die “Sorge” über die “Zustände in der Politik” führten in einem TV-Auftritt zu einer, zu ihr nicht passenden, ominös raunenden Ankündigung, dass sie nun vielleicht selbst in die Politik gehen “müsse”, um etwas zu ändern. Ehrlich: ich fand es etwas kurios, aber ich habe es ihr abgenommen. Die Auflösung wenige Tage später, uns mit diesem Auftritt ein auf rechtsextremer Seite übliches Verfahren, die Demokratie jetzt in die Hand zu nehmen, vorgeführt zu haben, beschämte wohl nicht wenige: Recht hat sie. Absender und Botschaft müssen wir genau im Blick haben, denn an den Worten selbst erkennen wir den Unterschied nicht mehr!

Es geht auch andersherum: nehmen wir die Frage, wie wir ohne rassistische Vorwürfe auf uns zu laden, über die Grenzen von Integration diskutieren wollen? Auf diese Schwierigkeiten hat neulich ein Social-Media-Format hingewiesen, in dem eine Frau und ein Mann, denen man optisch einen Migrationshintergrund zuordnen würde, zwei gegensätzliche Positionen einnahmen: die Frau formulierte klare Forderungen an Einwanderer und Geflüchtete, der Mann reagierte darauf mit Entsetzen, weil sie klänge wie eine Rechtsradikale (leider finde ich den Link nicht mehr, wer weiß, wovon ich spreche: schickt es mir gern). Oder: Den Vorwurf einer zu geringen demokratischen Einbettung müssen sich fast alle reifen Demokratien gefallen lassen, zu sehr verselbstständigt haben sich im Lauf der Jahre die Strukturen. Georg Diez benennt daher nicht zu Unrecht in der ZEIT intrinsische Erneuerungsoptionen für die Demokratie, die sich aus dieser Forderung ableiten ließen (11)

Ein Ergebnis dieses Re-Framings? Die Binnendifferenzierung in Diskussionen, in denen wir den sozialen Fortschritt verhandeln könnten, scheint uns als Gesellschaft derzeit abhanden gekommen. Das Gefühl, nichts würde sich bewegen, widerspricht unserem Gefühl als moderne Gesellschaft, uns stets voran zu bewegen (wenn auch in verschiedenen Geschwindigkeiten).

Vielleicht deshalb unsere Sehnsucht nach einer Revolution. Vor dem Hintergrund einer Politisierung von Emotionen, einer permanenten Sprachverwirrung und mangelnder Differenzierungslust in der konkreten Auseinandersetzung, dem Gefühl, steckenzubleiben, scheint eine Revolution der einzige Ausweg.

Machen wir doch eine! Wir sind, wie wir gelernt haben, immer noch Land of the “many” (12). Wir können nicht hinaus aus “der Gesellschaft”, aber wir sind auch nicht so disparat, wie wir uns fühlen. Um das, was uns zusammenhält zu spüren, müssen wir aber wieder in Bewegung kommen.

Revolutionsgymnastik - ein paar Übungen

Was wir üben könnten wäre etwa:

  • Unseren Umgang mit Emotionen. Lasst uns endlich drüber reden: wo gehören Emotionen hin und wo nicht, wann stärken sie, wann schwächen sie? Wann ist eine Emotion eine Befindlichkeit, die andere einschränkt und wann ein notwendiges Mittel, um Betroffenheit auszudrücken? Politik ist emotional, aber Emotionen sind kein Inhalt von Politik.

    • Im Beifang gerne auch: good old Fehlerkultur. Ist nicht alles #workinprogress? Also: nur mit Fehlern können wir lernen. Unvollkommenheit bringt voran, nicht die Angst, einen Fehler, darob nichts zu tun.

  • Unser Verständnis als Bürger*in eines demokratischen Landes: Das ist nichts zum Kaufen. Man IST Teil einer Gesellschaft, mal gibt man, mal nimmt man. Sozialer Zusammenhalt nützt allen, denn - QED - eine Gesellschaft ohne sozialen Kitt ist dem Untergang geweiht. Also redet auch immer wieder mal mit denen, die euch nerven. Beide Seiten. Danke.

    • Unterpunkt: Zu viel Eitelkeit in der Politik schadet, weil ihre einzige Funktion ist, unseren Laden hier zusammenzuhalten! Je glaubwürdiger und ansprechbarer für alle Politiker*innen sind, desto besser. Unseren Respekt für ihre Arbeit haben sie verdient - wir müssen wissen: als Volk sind wir bisweilen eine Zumutung!

  • Stete Aufmerksamkeit als Wir. Uns als Gruppe verstehen: Wir sind verführbar. Aber wir sind auch wunderbar. Wir müssen nicht zu 100%, noch nicht einmal zu 50% alle das Gleiche wollen, damit etwas geschieht. 30%, die wirklich engagiert sind, können viel bewegen. Im Guten WIE im Schlechten. Unsere Aufmerksamkeit uns selbst gegenüber, ohne “die da” zu sagen, sondern eben “wir”, Verantwortung übernehmen, etwas tun, dran bleiben und wissen, was die Alternativen sind (Rattenfänger zum Beispiel), das ist in einer satten Gesellschaft wahrscheinlich auch ein revolutionärer Aufruf.

    • Im Beifang: Politische Rhetorik. Denn natürlich hat mein Freund Kristian recht, wenn er sagt: Sind die #noAfD-Wähler*innen also Ratten, das geht nicht, dass ein Bundespräsident einen Teil des Wahlvolkes so verunglimpft. Wenn wir von den Neuen Rechten etwas lernen können, dann das Sprache klar und einfach sein muss, um zu jedem und jeder vorzudringen. Ganz klar: hier habe ich, wie viele Feuilleton-Schreiberlinge, selbst einiges aufzuholen. 😅

Meine Wette: wenn wir das tun, links wie rechts, wenn wir als gesellschaftlicher Körper versuchen, aus diesem verknoteten Stillstehen in Bewegung zu kommen, weil jede*r ein bisschen nachgibt, dann geht es - vielleicht gar entfesselt - voran.

P.S. Die letzte Erkenntnis deckt sich mit meinen ersten Aha-Momenten aus der Weiterbildung als systemische Organisationsberaterin (bei WIBK (Öffnet in neuem Fenster)): die soziale Dynamik in Systemen ist wesentlich - und beeinflussbar. Ich verstehe diesen Eintrag auch als ersten in meinem Tagebuch “Systemisch voran”, das ich jetzt beginne.

© Anja Mutschler, 4. Mä (Öffnet in neuem Fenster)rz 2024 anja.mutschler@20blue.de (Öffnet in neuem Fenster). Darf nicht, auch nicht in Teilen, ohne Genehmigung veröffentlicht werden.

Quellen

(1) Le Bon, Gustave (2023): Psychologie der Masse, 28. Auflage, S. 39.

(2) Kurbjuweit, Dirk (2024): Warum es falsch wäre, der AfD ein Verbotsverfahren zu ersparen, in Spiegel 06/2024: S.50 - online: Kampf gegen Rechtsextremismus: Warum es falsch wäre, der AfD ein Verbotsverfahren zu ersparen - DER SPIEGEL (Öffnet in neuem Fenster) (abgerufen am 26.2.2024). Wie Natascha Strobl in ihrem lesenswerten Buch “radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse.” 2019 aufzeigt, beginnt die Nouvelle Droite/Neue Rechte allerdings schon in den 1960er Jahren in Frankreich mit der Zivilisierung ihres Auftritts, des Re-Framings rechtsextremen Vokabulars und dem Aufbau politischer Vorfeldinstitutionen. Richtig Fahrt aufnimmt dieses Projekt des “Kulturkampfs von rechts” in den 2010er-Jahren. (Strobl, Natascha (2021): S. 53).

(3) Ein breit diskutiertes Phänomen in der Forschung, das insbesondere in der Kritischen Theorie nach Adorno/Horkheimer die Dialektik des sozialen Fortschritts in den Blick nimmt und Grundlage von analytischen, philosophischen, aber auch empirischen Betrachtungen ist. Einige, die die Grundlage meines Artikels sind, aber kein abschließendes Bild zu dieser Thematik geben, im Folgenden aber zitiert werden, sind: Strobl, Natascha (2019): Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse. Jaeggi, Rahel (2024): Fortschritt und Regression; Reckwitz, Andreas/Rosa, Hartmut (2021): Spätmoderne in der Krise, was leistet Gesellschaftstheorie?; Amlinger, Carolin/Nachtwey, Oliver (2022): Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Die Kritik an der unerfüllten und damit gefährdeten Demokratie spielt auch in der klassischen Liberalismus-Forschung eine Rolle, wegweisend dafür ist Fukuyama, Francis (2020): Identität, dessen Kritik linker Cancel-Culture weniger ideologisch zu lesen ist, sondern insbesondere die Partikulasierung von Interessen in den Blick nimmt, die es schwer macht, sich als Gesellschaft mehrheitlich zu definieren. Dies mache es, wie er in seinem folgenden Buch ausführt, Trittbrettfahrern des Autokratismus zu einfach, den klassischen Liberalismus einzunehmen. Fukuyama, Frances: Der Liberalismus und seine Feinde (2022). Seine darin enthaltene harsche Kritik an linken Intellektuellen der Postmoderne stieß dabei nicht nur auf Zustimmung. Thomas Assheuer in der Zeit bezeichnete Fukuyamas Darstellungen als “Karrikatur”. Francis Fukuyama: Kampf der Ideen | ZEIT ONLINE (Öffnet in neuem Fenster) (aberufen am 25.2.2024).

(3) Mau, Steffen/Lux, Thomas/Westheuser, Linus (2023): Triggerpunkte. Eine ausführliche, aktuelle Einordnung liefert Mau im Gespräch mit den etablierten Politjournalisten Philip Banse & Ulf Burmeyer, die in ihrem wöchentlichen Podcast “Lage der Nation” politische Debatten einordnen und erklären. In Folge 369 sprechen Sie mit Steffen Mau: LdN369 Spezial: Wer spaltet unsere Gesellschaft? (Steffen Mau, Soziologe) – Lage der Nation (Öffnet in neuem Fenster) (abgerufen 25.2.2024).

(4) Kampf gegen Rechtsextremismus: Warum es falsch wäre, der AfD ein Verbotsverfahren zu ersparen - DER SPIEGEL (Öffnet in neuem Fenster) (abgerufen am 25.2.2024).

(5) Strobl, Natascha (2021): Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse, 5. Auflage, S. 11.

(6) Lohnenswert ist hier ein Interview mit dem Generationenforscher Heinz Bude. Er ordnet den Generationenkonflikt zwischen Boomern und Millenials ein, und zwar nicht nur mit der weithin bekannten, emotionalen und materiellen Verlusterfahrung als ausgemusterte Generation in einem dysfunktionalen Sozialstaat (Stichwort: Pflege). Bude verweist auch auf die Krisenresilienz und Gestaltungsfähigkeit der zwischen 1955 und 1970 geborenen Boomer, die unter prekären Umständen und als Gruppe der “Vielen” pragmatische Zukunftsentscheidungen getroffen haben. Er verweist auch auf deren Fähigkeit, sich als Gesellschaft zusammenhängend zu begreifen.

https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.html?mdm:audio_id=dira_DLF_5a3ff720 (Öffnet in neuem Fenster)

(7) Le Bon (2008): S. 38.

(8) Strobl, Nat (Öffnet in neuem Fenster)ascha (2021): S. 15. Dies ist im Übrigen der Kern der Kritik an allem “Rechten”. Dass es gedanklich mit angelegt ist im Konservativen, da Ungleichheit gewollt ist. In einer funktionierenden Demokratie ist dieser Vorwurf deplatziert, aber was sich m.E. sagen lässt: Parteien rechts der Mitte sollten sich noch klarer abgrenzen und ihren sozialen Fortschrittsgedanken gut im Blick behalten. Merz scheint mir mittlerweile aufgewacht zu sein, die letzten Reden (Stand Anfang März) waren diesbezüglich klarer.

(9) Es gäbe einiges dazu zu sagen, zahllose Medienartikel über Medien zeugen davon. Mein Beitrag hierzu war die Moderation eines gemeinsamen Nachdenkens mit Medienvertreter*innen im Rahmen meines Ehrenamts beim Deutschen Journalisten Verband, Landesverband Sachsen.

https://youtu.be/PZ1hTsK55qA?si=1h6mM9o1r-uDKa2M&t=1 (Öffnet in neuem Fenster)

Ich möchte hierbei auch auf die Warnung von Dr. Fiona Kalkstein hinweisen, nicht “fasziniert” zu sein von rechtsextremen Politiker*innen, deren Aussagen zwischen Wahn und Pöbelei menschlich verständlich daran zweifeln lassen, ob dieser Mensch echt sei. Ja, ist er. Und ihm unerschrocken mit medialer Autorität gegenüber zu treten, weil es nun mal die Aufgabe von Medien in der Demokratie ist, den “Mächtigen auf die Finger zu schauen”. Dazu gehört der aus meiner Sicht performative Akt der sich wiederholenden Reizfrage unbedingt dazu.

(10) Jaeggi, Rahel (2024): Fortschritt und Regression.

(11) Demonstrationen gegen die AfD: Eine neue Revolution (abgerufen am 4.3.2024)

https://www.zeit.de/kultur/2024-02/demonstrationen-gegen-afd-demokratie-zivilgesellschaft-effekte (Öffnet in neuem Fenster)

(12). "Land of the many": Das ist die Gewinnerarbeit der ADC-Aktion für Freiheit - HORIZONT:

https://www.horizont.net/agenturen/nachrichten/land-of-many-das-ist-die-gewinnerarbeit-der-adc-aktion-fuer-freiheit-218227 (Öffnet in neuem Fenster)

(abgerufen am 5.3.2024)

Kategorie Blog: Politik

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