Die Monster kommen
Ungezwungen #7 anhören:
„Sie machen Ihre Mitmenschen zu Monstern“, stellte meine Therapeutin fest. Ich stutzte. Zu Monstern? Die anderen? War nicht eher ich das Monster, vor das gewarnt werden musste?
Meine Therapeutin drückte damit aus, dass ich von meinen Mitmenschen oft das Schlimmste erwarte. Keine Grauzonen. Keine Überraschungen. Einfach Mord und Totschlag. Also blanke Aggression.
Wie das kommt, hat natürlich mit Erfahrungen zu tun, die ich so im Leben gemacht habe. Ablehnung, Beleidigung, Zorn. Um mich selbst zu schützen, kann es vorkommen, dass ich andere präventiv zu Monstern mache. Dadurch möchte ich mich vor Verletzungen schützen. Wenn andere Monster sind, ist das ein guter Grund, sich nicht zu sehr einlassen zu müssen, potenziellen Gefahren, seien sie auch nur imaginiert, aus dem Weg zu gehen.
Monster-isierung
Die Monster, die wir erschaffen, sagen mehr über einen selbst aus, als über die Person, die zum Monster gemacht wird. Ob individuell oder gesellschaftlich, Monster zeigen uns an, wovor wir Angst haben. Egal ob sie körperlich von einer Norm abweichen oder ihr Verhalten potenziell eine herrschende soziale und moralische Ordnung zum Wanken bringen könnte.
Gesellschaftlich werden oft 'die Anderen' zu Monstern gemacht. All jene, die vermeintlich 'nicht dazugehören' und daher als Fremde, als Abweichende, eben als Monster markiert werden. Sie gelten als gefährlich, aggressiv oder grotesk. Für mich sind Monster oft Männer und Unbekannte. Aber durchaus auch Menschen, die ich kenne und von denen ich erwarte, abgelehnt zu werden.
Für mich ist es keine Option diesen, meinen inneren Prozess zu ignorieren. Einerseits, will ich nicht so durch die Welt gehen. Ich will nicht dauernd erwarten von anderen abgewertet zu werden, mich minderwertig zu fühlen, will meinen Alltag nicht von diesem alten und möglicherweise neuen Schmerz regieren lassen. Andererseits, ist das fehlende Vertrauen in meine Mitmenschen ein Hindernis für politische Organisation und, geht es auch nur einer weiteren Person so wie mir, das Erreichen einer sozialen Revolution.
Das ganze Wesen
Alexander Berkman schrieb in 'ABC des Anarchismus':
„Es gibt Revolutionen und Revolutionen. Die eine verändert nur die Regierungsform, indem sie eine Gruppe neuer Herrscher auf den Platz der alten setzt. Das ist eine politische Revolution und als solche trifft sie oft auf wenig Widerstand. Die andere Revolution aber, die darauf abzielt, das gesamte System der Lohnsklaverei abzuschaffen, muss auch die Macht einer Klasse beseitigen, die andere unterdrücken zu können. Das heißt, dass es sich nicht mehr um einen reinen Austausch der Herrschenden, der Regierung, nicht um eine politische Revolution handelt, sondern um eine, die das ganze Wesen der Gesellschaft zu verändern sucht. Das wäre eine soziale Revolution.“ (S. 40)
Die anarchistische Idee ist es, alle Aspekte des Lebens zu revolutionieren. Alle Machtverhältnisse sollen verändern werden, um den Menschen ein gutes Leben zu bieten. Daher glauben Anarchist:innen klassischerweise ganz fest an das Gute im Menschen. Das hört sich jetzt so religiös an, aber ist es nicht. Im Gegenteil, sind die meisten Weltreligionen ja fest davon überzeugt, der Mensch sei schlecht und könne im Diesseits keine Erlösung von seinen Sünden finden, müsse sich deshalb der Herrschaft eines Gottes unterwerfen, der dann über dessen Verbleib im Paradies entscheide. Anarchist:innen wollen nicht, dass Menschen sich irgendeiner Herrschaft unterwerfen, auch nicht einer 'guten', wie jene der Arbeiter:innen. Sie appellieren vielmehr an ihre Vernunft, gehen davon aus, dass Menschen intuitiv friedlich und kooperativ agierten, würde man ihnen nur die Möglichkeit dazu bieten. Deshalb muss alles geändert werden, was dem im Weg steht. Das wäre eine Welt, ohne Privateigentum und Profit, ohne Zwang, jedoch durchaus mit Verpflichtungen und Verantwortungsbewusstsein.
In einer Gesellschaft, wie der unsrigen – sie ist sexistisch, rassistisch, antisemitisch, queer- und transfeindlich, kolonial und kapitalistisch – machen Menschen sich gegenseitig zu Monster. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es leicht geworden ist, den Nachbarn, die Mitmenschen als Monster zu sehen, weil es einer Herrschaft, die auf Gewalt basiert, erleichtert, bestehen zu bleiben. Wir leben in einer gewaltvollen Gesellschaft und schauen ihr gerade dabei zu, wie sie noch gewaltvoller wird. Wenn die anderen, wer sie auch immer sind, keine Menschen sind, sondern Monster, ist es leichter vor sich selbst und vor der Mehrheit zu rechtfertigen gewaltvoll zu handeln.
Fehlendes Vertrauen ist aber nicht gut für uns. Das stimmt auf so vielen Ebenen. Insbesondere aber hindert sie uns an sozialer und politischer Organisation. Dabei ist sie deren Grundlage. Kooperation braucht Vertrauen und Vertrauen bringt Kooperation hervor.
Vertrauen fehlt uns, aus teils widersprüchlichen Gründen. Sie fehlt, weil wir als hyper-individualisierte Einzelne bewusst und unbewusst ständig in Konkurrenz zueinander stehen. Sie fehlt, weil wir verlernt haben nach Hilfe zu fragen (Scham), Hilfe zu leisten (Ichbezogenheit) oder es durch Vereinzelung und Vereinsamung niemanden gibt, den man fragen könnte. Sie fehlt, weil uns ein halbes Jahrhundert Neoliberalismus zwar eingetrichtert hat, wir wären autonome Akteur_innen unserer selbst, wir aber kein Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten haben und lieber darauf warten, dass Staat, Regierung und dessen Institutionen es für uns richten.
Kurze Erinnerung: die Welt ist nicht schwarz oder weiß, sie ist nicht polar. Klar gibt es Leute, die das Vertrauen immer wieder aufbringen, sich selbst weiterbilden, ein aktives Leben leben, handeln. Die innerlich und äußerlich dagegen revoltieren auf ein Dasein als Konsument_in reduziert zu werden. Offensichtlich spreche ich nicht über all jene, die wissen, dass eine politische Revolution nicht ausreicht, um auf diesem Planeten zu überleben und es gut zu haben.
Ich spreche von Kultur und politischer Berechnung. Für wen ist es von Interesse, Gemeinschaft nicht zu fördern, bestimmte Menschen abzuwerten, keine echten politischen Lösungen durchzusetzen, Krieg zu treiben? Für all jene, die davon profitieren. Auf die ein oder andere Weise.
Freie Geister
Ich habe diesen Sommer zum zweiten Mal Freie Geister von Ursula K. Le Guin gelesen (The Dispossessed, im Original). In der Geschichte verlässt der Anarchist Shevek als erster Bewohner seit über 150 Jahren Anarres, einen Mond des Planeten Urras. Besiedelt wurde der Himmelskörper von all jenen, die auf Urras eine soziale Revolution herbeiführen wollten. Um das zu verhindern, schenkten die Machthabenden den Revolutionär_innen Anarres. Dort lebt die Gesellschaft als dessen Rohstoffkolonie, aber nach den eigenen Regeln: es gibt kein Geld, keine Regierung, keine institutionalisierte Macht, die unterdrückt und ausbeutet. Seitdem die Anarchist_innen dort leben gibt es nur wenig Kontakt mit Urras, dem Planeten der Profiteure. Shevek möchte das ändern. Aus einer Art Hoffnung heraus. Er ist Temporalphysiker (also theoretischer Physiker) und hat einen Weg gefunden, Raum und Zeit zu überbrücken. Was technisch daraus folgen würde, würde Kommunikation und Koexistenz (bei Le Guin gibt es Leben im All) revolutionieren.
Mir hängt das Buch nach. Immer wenn ich daran denke, fühlt es sich wie eine ethnographische Vignette an. Das heißt, es fühlt sich echt an. Ich ertappe mich dabei, wie ich in Gesprächen erzählen will, wie bestimmte Probleme auf Anarres gehandhabt werden, was Shevek erlebt hat und denkt. Ich muss mich dann zügeln, weil ich natürlich weiß, dass es sich um eine fiktive Geschichte handelt. Unterm Strich bedeutet das für mich: ich will mehr solche Geschichten lesen! Von den real existierenden anarchistischen Versuchen auf unserer Erde, aber auch als Roman. (Schickt mir Tipps!)
Jedenfalls ist Shevek dann auf Urras, obwohl seine Genoss_innen das für keine gute Idee halten. Da auf Anarres aber jede_r nur dem eigenen Gewissen verpflichtet, Urheber_in des eigenen Handelns ist und absolute Verantwortung dafür trägt, ging er. Was nicht heißen soll, dass sie nicht versucht hätten ihn davon abzuhalten.
Er ging also. Und sinniert dann darüber, wie es auf Urras nicht möglich ist, etwas zu tun, „ohne dass Profit mitspielt, und Verlustangst und Machtstreben.“ (S. 380) Er bewegte sich in einer Gesellschaft, „in der die Menschen einander nicht trauten und der moralische Grundkonsens nicht gegenseitige Hilfe war, sondern gegenseitige Aggression.“ (S. 223) Und er reflektiert, dass er selbst immer die Gewohnheit behielt, „Leute automatisch für hilfsbereit zu halten. Er vertraute ihnen.“ (S. 226)
Für Shevek war es ein Schock zu sehen, dass Vertrauen wenn, dann im Privaten möglich ist, aber nicht im öffentlichen, gesellschaftlichen Leben. Nun ist Urras nicht die Erde (dafür gibt es in Le Guins Versum Terra, das ist unser zerstörter Planet in der Zukunft), aber unserer jetzigen Wirtschafts- und Lebensweise sehr ähnlich: ausgebeuteter Überfluss an Ressourcen, der für Profit verbraucht wird. Menschen müssen für ihr Leben zahlen, dass heißt arbeiten, um Geld zu verdienen und leben in Hierarchien, die soziale Mobilität mal mehr, mal weniger zulassen. Es gibt Länder mit autoritären sozialistischen Regierungen und mit liberalen kapitalistischen Regierungen, alle bereit jederzeit Krieg zu treiben.
Ich kenne solche Menschen wie Shevek im wahren Leben. Menschen, die anderen erst einmal vertrauen schenken. Auch Linke! Die haben meist auch einfach nicht so irrationale Ängste wie ich. Ich kann oft nicht verstehen, wie das geht, aber ich bewundere es. Ich wünsche es mir.
Denn welcher moralische Grundkonsens soll der Gesellschaft zugrunde liegen, die wir erschaffen möchten? Ich denke wohl, jener der gegenseitigen Hilfe, Solidarität wie auch Autonomie und freie Entfaltung. In unserer jetzigen Gesellschaft sind diese Werte allerdings für den Ausnahmezustand reserviert. Strukturen der Solidarität und Unterstützung kommen oft nur dort zum Tragen, wo der Staat versagt oder die Situation nur verschlimmert, bei Armut, Vertreibung und Gewalt. Autonomie und Entfaltung existiert oft nur dort, wo es Geld gibt.
Vertrauen braucht Grundlage
Doch Vertrauen bedarf einer Grundlage. Darin unterscheidet sie sich mehr vom Glauben, als etwa die Hoffnung. Denn ist diese Grundlage nicht gegeben, wird das Vertrauen entzogen.
Wie diese Grundlage für Vertrauen geschaffen wird, darüber hat etwa Brené Brown viel gesprochen und geschrieben. Sie verwendet das Akronym BRAVING, um zu benennen, was es braucht: Boundaries, Reliability, Accountability, Vault, Integrity, Nonjudgement, Generosity. Also: persönliche Grenzen, Zuverlässigkeit, Rechenschaftspflicht, Verschwiegenheit, Integrität, nicht beurteilt zu werden und Großzügigkeit.
Für mich fällt auch darunter: ein gemeinsames Ziel.
Vertrauen zu schenken, bedeutet, sich verletzlich zu machen, weil sie dort ins Spiel kommt, wo wir uns voneinander abhängig machen. In Situationen, die das Risiko bergen, enttäuscht zu werden. Doch im Falle politischer Organisierung kann ich mir nicht leisten, das Risiko nicht einzugehen. Ich kann mir nicht aussuchen, ob ich Vertrauen schenke, will ich nicht nur darauf hoffen, aus dieser gesamtgesellschaftlichen Misere wieder herauszukommen. Ich muss aktiv vertrauen. Und dazu braucht es Mut.
In dem Wort Vertrauen steckt nämlich auch das Verb trauen. Man traut sich etwas, wenn man Vertrauen schenkt. Ich finde, um das zu schaffen, könnte man es sich auch leichter machen. Schwer ist eh schon genug. Etwa indem man Räume z.B. so einrichtet, dass es für Neuankömmlinge leichter ist, Anschluss zu finden. Eine Art Welcoming Squad, zum Beispiel. Ein Awareness Team fürs Willkommen heißen. Das wurde und wird mancherorts bereits so gemacht und wie ich hörte, wurde es sehr gut aufgenommen, hat Menschen den Zugang zu linken Räumen erleichtert. Und das ist wichtig, denn Vertrauen basiert auch auf Gegenseitigkeit. Gegenseitiges Verstehen und gemeinsamen Erfahrungen.
In sich selbst
Das Gegenteil von Vertrauen ist Misstrauen. Während Vertrauen mehr Kooperation fördert, wirkt sich Misstrauen umgekehrt aus, sie reduziert Kooperation. In beiden Fällen aber sind es Erwartungen und Bewertungen, die zum einen oder anderen führen. Wenn wir den anderen gegenüber gleichgültig sind, gibt es auch kein Vertrauen oder Misstrauen. Daher ist auch dieses 'ich mag keine Erwartungen' oder 'es stresst mich, wenn andere Erwartungen an mich haben', was ich in meinen Zwanzigern häufig von Freund_innen gehört habe und mich immer zutiefst verwundert hat, auch nur Ausdruck einer kapitalistischen, hyper-individualisierten Kultur. Ohne Erwartungen, die erfüllt werden oder nicht, ist die Grundlage für Vertrauen nicht gegeben. Und letztlich sind Strategien, die auf Vertrauen basieren, meist erfolgreicher, als jene, die es nicht tun.
Was heißt das für mich und meine irrationalen Ängste? Ängste, die Mitmenschen zu Monstern machen. Wie überwinde ich die? Oder kann es mir gelingen, die anderen zumindest zu zottelingen, ungefährlichen, liebenswürdigen Monster zu machen?
Sich zu organisieren, heißt Vertrauen. Und dafür braucht es letztlich Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Fähigkeiten. Ich kann meine Ängste überwinden, mit ihnen umgehen. Therapie hilft, aber auch neue Erfahrungen. Und so kommen wir vom Individuum zur Gesellschaft und wieder zurück und versuchen als Anarchist_innen eine Balance in dieses Verhältnis zu bringen.
Foto: Anarchie&Cello
Mehr zu
Den Text ‘ABC des Anarchismus’ von Alexander Berkman lesen wir gerade im Podcast (Öffnet in neuem Fenster), Teil 1 bis 3 sind bereits online, Teil 4 und 5 folgen bald.
Ein bisschen was über meine Lektüre des Romans Freie Geister (Öffnet in neuem Fenster) von Ursula K. Le Guin habe ich auf Instagram geschrieben. Evtl. kommt da im Newsletter nochmal mehr.