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Wir dürfen Karim nicht vergessen. Karim bedeutet Gastfreundschaft. Er sitzt in der Ecke und kuckt: wie geht es allen. Er hat das im Blick. Er selbst trinkt keinen Alkohol, aber wenn andere Alkohol trinken, freut er sich: er hat gelernt, dass das heißt, dass sie sich wohlfühlen in diesem Moment.

Karim einzuschätzen ist schwierig, er ist breiter, als er müsste und wirkt dadurch größer. Stellt man sich Rücken an Rücken zu ihm, stellt man fest: er ist nur so groß wie ich auch. Aus Karim aber sprießen die Haare überall; nicht nur am Kopf, auch an den Armen, an den Beinen. Karim hat überall Antennen, sagen die einen, die anderen sagen: da krauchen die Zecken entlang. Das ist gefährlich für Gesundheit und Wohlbefinden, müssen wir da so nahe ran. Karim lächelt, wenn er dergleichen hört: er weiß, dass ihm das nichts anhaben kann. Er weiß auch, dass er nicht allen Menschen zuhören kann. Er könnte, wenn man ihn ließe: aber es gibt eben jene, die es nicht wagen, über sich zu sprechen. Das sind dann jene, die sich darüber aufregen, dass andere in Zeitungen Interviews geben, weil sie selbst schweigen müssen, als würden die Alliierten noch herrschen. Oder die Menschlichkeit. Jedes Gespräch birgt die Möglichkeit eines Verrats; eines Verrats an der Vergangenheit. Haben nicht alle Väter furchtbares getan, nicht alle Mütter dazu geschwiegen? Karim weiß, dass dem nicht so ist, aber es wäre auch einfacher daran zu glauben, dass dem so wäre, wäre Karim nicht.

Karim ist aus Kairo, er hat ein Auge um den Hals, ein lidloses ägyptisches Auge. Niemand weiß, dass er Ketamin nimmt, um das alles auszuhalten: das Schweigen, die Schuld, reich zu sein. Sein Vater ist Diplomat. Er weiß, dass er mit allem durchkommt. Es ist gar nicht so sehr wichtig, was er tut, es wird für ihn immer einen Weg geben. Er weiß auch: wenn jemand sagt, dass Wasser sich immer seinen Weg bahnt, hat die Person den Nil noch nie gesehen. Im Nil bahnt sich das Wasser nicht, es fließt nicht; zumindest in dem Bereich, in dem er aufgewachsen ist, wo er schwimmen lernte. Ganz am Rand gibt es ein paar Wellen, die den Rand abtasten und sicherstellen, dass alles so weitergehen kann wie bisher; aber alles, was sich Tiefen hinabstürzte, was enge Schluchten grub, das liegt schon weit zurück. Das waren die Großeltern und Urgroßeltern, wenn überhaupt, trägt man noch ein bisschen Schlamm mit sich, das man dann dalässt am Rande dieser Wüste, die dieses Land ist, damit die Leute dort irgendetwas damit anfangen. Man spürt ihn nicht, diesen schlamm, den man transportiert; man ist selbst das alles: der Fluss, der Schlamm, der Wille zum Mittelmeer.

Wenn nichts wichtig ist, gilt jedes Detail: Man könnte etwas übersehen haben. Es gibt ja einen Grund, dass die Menschen leben. Der wird doch zu lernen sein. In den Fernsehserien bringen Leute, die wie Karim sind, andere um, um zu spüren, dass sie noch am Leben sind; wie Dexter halt oder diese ganzen Vögel. Das traut er sich noch nicht, er geht lieber in Kneipen und hört zu. Er möchte nichts dort, mit niemandem schlafen und mit niemandem reden. Er sitzt da, wie eine Diskokugel an der Decke hängt: einmal kurz alles beleuchten und dann weiterziehen.

Würde ihn jemand fragen, was sein Ziel ist würde er sagen: Nie mehr Angst zu haben fände er schön, aber nicht notwendig. Es geht auch so, Prost, würde er sagen, und dann nichts trinken.

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