"Das war schon immer so"
Zum Gewöhnungseffekt und der Normalisierung sexistischer Rollenbilder.
"Das war schon immer so", nutzen Menschen gerne als Verteidung ihrer Routinen, wenn sie trotz Kritik daran festhalten wollen. "Das war schon immer so", meldet unser Gehirn zurück, wenn wir etwas sehen, bei dem wir eigentlich laut aufschreien und schockiert sein sollten. Aber weil wir es so oft schon gesehen haben, ist der Alarm-Sensor abgenutzt. Wenn es um traditionelle Rollenbilder geht, ist beides miteinander verschmolzen:
Es ist einfacher, an alten Rollenbildern und stereotypen Routinen festzuhalten, denn Veränderung und Aussortieren von Überholtem ist so viel anstrengender, als ins Sofa zurückzuplumpsen und alles beim Alten zu belassen: "Das haben wir schon immer so gemacht", bedeutet auch: "Lass mich in Ruhe damit!"
Obendrein ist ja ganz offensichtlich unser aller Alarm-Sensor in Bezug auf Medien, Marketingkampagnen und Werbebilder im öffentlichen Raum in den letzten Jahren, Jahrzehnten abgestumpft: zu viel Info, zu viel Empörungspotential - zurecht! -, aber das hält in der Fülle kein Mensch aus.
“Lass mich in Ruhe damit!”
Obwohl Ferrero und das rosa Ü-Ei, als es 2012 auf den Markt kam, damals noch laute Gegenwehr (Öffnet in neuem Fenster) bekommen haben, gibt es die geschlechtergetrennten Eier heute immer noch, “kenn ich - lass mich”, es lohnt kaum, darüber zu schreiben, dabei hat sich am Grundproblem ja nichts geändert. Und so viele weitere faule Eier sind dazugekommen im Gendermarketing, dass es schwierig ist, Produktbereiche zu finden, die NICHT gegendert sind. Alles ganz normal geworden, Jungs müssen nun mal wild, Mädchen mögen eben kein MINT … großes Schulterzucken links und rechts. Vorlesebücher "for girls only", Kugelschreiber für Jungs … und kein Hahn kräht danach. Naja, schon, aber mit dem Team vom Goldenen Zaunpfahl (Öffnet in neuem Fenster), zusammen mit Pinkstinks und dem Werbemelder (Öffnet in neuem Fenster) werden wir langsam heiser.
PINK
MINT-GirlsCamp, Handwerk-Aktionen, Infotage, Programmierkurse "for girls" … immer und immer wieder muss Pink herhalten, wenn um den weiblichen Nachwuchs geworben wird: "Wir wollen die Zielgruppe da abholen, wo sie steht" - als gäb’s nicht genug Frauen, die nicht auf Pink stehen, die sich genau dadurch inzwischen entnervt abwenden. Kein Bedarf an Assoziationen zu MakeUp, Party und Heidi Klum. Ja, Empowerment ist der Hintergedanke (auch dafür steht Pink, aber eher nicht, wenn der Absender ein Unternehmen ist). Deshalb werden am Weltmädchentag Gebäude pink angestrahlt, deshalb enthält der Anmeldezettel zum Girls’Day mehr rosa als der für den Boys’Day etc. Alles gut gemeint, doch am Ende wirkt der #StereotypeThreat, und anstelle eines Miteinanders steht das Anderssein im Vordergrund:
hier die Norm, dort die Variante mit pinkem Schleifchen.
Hier die ‘typischen’ goldenen Osterhasen, dort die Version mit Wimpern - Abweichung von der Norm (Öffnet in neuem Fenster). Und natürlich macht die Trennung nicht halt, wo pädagogische Fachkräfte zur Zielgruppe gehören: “Jungs tauchen unerschrocken in die Dino-Welt ein, während Mädchen zwischen Malutensilien und Puppen hin- und herwechseln”, textet der Insta-Account @erzieher.helden im Februar 2024, die Antwort auf unsere Kritik kommt aus dem Tal des ewigen Deja-vu: “wir haben Humor und Ihr versteht eben den Witz nicht”. - Als die kritischen Kommentare dann zunahmen, wurde der Post gelöscht.
Dass Erzieher*innen einen pädagogischen Auftrag haben, dass es, wie in den Lehr- und Bildungsplänen der Bundesländer aufgeführt, zu ihrem Job gehört, Geschlechterstereotype zu thematisieren und aufzubrechen - geschenkt. Informationen über die Folgen der Geschlechtertrennung von Kindergruppen? “Uninteressant”, urteilen jede Menge Kita-Fachkräfte, was interessiert uns der Bildungsauftrag. (Mehr dazu mit Fokus auf den Kita-Alltag im Blogartikel “Rote und Blaue” auf rosa-hellblau-falle.de (Öffnet in neuem Fenster))
Die Zweiteilung nach Geschlecht hat Tradition
… und wird deshalb nur selten in Frage gestellt. Dafür braucht es dann schon einen größeren Shitstorm, damit ein bisschen reflektiert wird, ob denn der Vorwurf des Sexismus nicht vielleicht sogar eventuell doch gerechtfertigt sein könnte. Einen richtig großen gab es mal 2012, der Spot zur Kampagne #scienceitsagirlthing wollte Mädchen für MINT-Fächer begeistern:
Die EU-Kommission zog den teuer finanzierten Spot zurück (Öffnet in neuem Fenster), als ein Shitstorm über sie hereinbrach: Lippenstift ist nicht Science!
Aber wie die Freund*innen von Lego (Öffnet in neuem Fenster) ist auch das ZDF geschichtsvergessen. Deshalb macht @ZDFtivi seit 2020 munter Princess-Science (Öffnet in neuem Fenster) (immerhin ohne Pink), als hätten sie mit dem Claim was Positives erfunden. Aber klar, “gut gemeint”.
Geschichtsvergessen
Es war eben nicht schon immer so! Gendermarketing gibt es als gezielte Werbestrategie in Deutschland erst seit 2006. Noch nie gab es so viel Werbung im öffentlichen Raum, und noch nie waren Kinder, wir alle, so vielen medialen Einflüssen ausgesetzt wie seit 2006, mit der Einführung und Etablierung der Smartphone-Technologie und Sozialen Netzwerke.
Eine synonyme Formulierung für 'Das war schon immer so!' ist: 'Das ist doch normal'. Das Gefühl von Normalität entsteht durch ständige Wiederholung und allmähliche Gewöhnung. Das rosa Überraschungsei oder Lego-Friends sind nicht schon immer gewesen und deshalb normal, sie wurden gezielt entwickelt, auf den Markt gebracht und dann mit millionenschweren, bildmächtigen und langfristigen Werbekampagnen normalisiert. Auch Rosa war nicht ‘schon immer’ eine weiblich konnotierte Farbe, ganz im Gegenteil, die frühere Farbe der Könige und der Papst-Roben wurde in den letzten 30 Jahren mit Hilfe vieler Marketingmaßnahmen zur Trennung missbraucht - um Spielwaren geschlechtergetrennt anbieten zu können und so den Umsatz zu steigern (Öffnet in neuem Fenster). Und nur weil wir uns daran gewöhnt haben, ändert es nichts daran, dass diese Werbebotschaften nachweislich eine einschränkende Wirkung haben auf die Entwicklung von Kindern, auf ihr Weltbild und die Vorstellung, wie ein richtiges Mädchen, ein echter Junge zu sein habe.
“Hat mir auch nicht geschadet”
Und nur weil etwas normal scheint, vielleicht schon immer so war, ändert das nichts daran, dass es trotzdem grundsätzlich (gesundheits-)schädigend sein kann: Alkohol, Zigaretten, körperliche Gewalt … - hat dir auch nicht geschadet? Und die mangelnde finanzielle und gesellschaftliche Wertschätzung deiner Care-Arbeit? Die Blicke, die dir verbieten, anzuziehen, was und zu lieben, wen Du magst? “Ich kenne das Problem nicht, also ist es auch keins” - diese Haltung nutzt am Ende jenen, die die normierenden Regeln aufrecht erhalten, weil sie ihnen nutzen. Geschichtsvergessenheit jedenfalls nützt in diesem Fall den Unternehmen und Werbeagenturen, so können sie an einem lukrativen Geschäftsmodell festhalten und die Verantwortung auf Eltern abschieben.
Hiermit kehren wir die Forderung, doch die Schädlichkeit von Gendermarketing wissenschaftlich, objektiv und dezidiert nachzuweisen (was längst geschehen ist (Öffnet in neuem Fenster)) umkehren: bitte welchen gesellschaftlichen und individuellen Nutzen bringt es, die Zielgruppe Kinder zu unterteilen in Mädchen und Jungen? Welchen gesellschaftlichen und individuellen Nutzen bringt es, Puppen explizit und hartnäckig an Mädchen zu vermarkten und Jungen aus dem Spielbereich rund um Pflege und Versorgung auszuklammern?
Was haben Kinder davon, auf ihr soziales Geschlecht reduziert, in Zielgruppen unterteilt, normiert zu werden?
#RosaHellblauFalle
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Bücher aus der Wort & Klang Küche von Almut Schnerring und Sascha Verlan