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Das gesunde Selbstvertrauen - Was ist zu wenig, wo beginnt zu viel?

"Wenn ich versage, habe ich Angst, dass ich vielleicht nicht genug Talent habe."

(Nachbetrachtung zu den aktuell veröffentlichten Ergebnissen zu einer Sonderauswertung der letzten PISA-Studie)

Ein Essai 

von Almut Schnerring und Sascha Verlan

In den vergangenen Tagen ist an verschiedenen Stellen* eine gesonderte Teilauswertung der PISA-Studie von 2018 (Öffnet in neuem Fenster) zitiert worden, wonach fünfzehnjährige Mädchen, insbesondere leistungsstarke Mädchen, weniger überzeugt seien von ihren Talenten als gleichaltrige Jungen. Mehr als 500.000 Schüler*innen in 72 Ländern waren dafür befragt worden. Da hätten wir's also, mal wieder gelangt ein weibliches Defizit in die Nachrichten, bedauerlich, gewiss, aber da müssen die Mädchen eben an sich arbeiten. Müssen sie?

(Foto @srz via unsplash (Öffnet in neuem Fenster))

Eine zentrale Frage, die in der Berichterstattung und den Kommentaren in den Sozialen Medien keine Rolle spielte: was ist denn eigentlich ein realistisches Verhältnis zu den eigenen Fähigkeiten, was genau bedeutet denn ein 'gesundes Selbstvertrauen'? Was ist zu wenig, wo beginnt zu viel? Unterschätzen die Mädchen tatsächlich ihre Fähigkeiten oder haben sie vielmehr eine angemessene Selbsteinschätzung, während sich die Jungen systematisch überschätzen und bisweilen gar zum Größenwahn neigen? Was ist also normal? Und was ist gesellschaftlich zukunftsfähig und damit unterstützenswert?

Sei es in der Politik, in Schule, Wissenschaft und Kultur oder bei der eigenen Karriereplanung: Zweifel an den eigenen Fähigkeiten scheinen unangebracht und hinderlich für den eigenen Erfolg, also besser noch einen draufpacken im Lebenslauf, Vorstellungsgespräch, öffentlichen Auftritt. Das Peter-Prinzip (Öffnet in neuem Fenster) lässt grüßen, aber Petra soll ins Empowerment-Seminar? Was, wenn dieses zur Schau getragene Selbstbewusstsein in Wirklichkeit bloß Selbstüberschätzung ist der eigenen Möglichkeiten, Probleme zu erkennen und zu lösen? 

Interessant in dem Zusammenhang, dass ca. 20% aller Menschen als hochsensibel gelten. Das sind besonders Feinfühlige, die unter Umständen schon als Kind als schüchtern und gehemmt, introvertiert oder ängstlich abgestempelt wurden. 

"In Studien mittels Magnetresonanztomographie zeigte sich, dass bei hochsensiblen Menschen manche Areale im Gehirn eine stärkere Aktivität als bei Menschen ohne Hochsensibilität zeigen, etwa eine stärkere Aktivierung der Inselrinde, die bei der Verarbeitung von nonverbalen Informationen wie Mimik und Körpersprache eine Rolle spielen, woraus man folgert, dass hypersensible Menschen positive aber auch negative Gefühle anderer Menschen stärker wahrnehmen als der Durchschnitt."
Stangl, W. (2022, 25. März). Hochsensibilität . Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik (Öffnet in neuem Fenster).

Hochsensibilität bleibt bei Mädchen öfter unentdeckt als bei Jungen, denn zurückhaltend, ruhig, empfindsam und empathisch zu sein, gilt bei Mädchen eher als normal, sind das doch Eigenschaften, die seit jeher als typisch weiblich angesehen werden. Jungen fallen mit diesen Eigenschaften schneller auf, weil sie nicht zum gesellschaftlich erwarteten, hegemonialen Männlichkeitsbild passen. Für alle Geschlechter aber gilt: auf der Skala zwischen schüchtern und einfühlsam am einen und extrovertiert-draufgängerisch am anderen Ende fallen die Feinfühligen am äußeren Rand aus der Norm. Zu hohe Sensibilität wird schneller zum Therapiefall als zu hohe Rücksichtslosigkeit. Denn am anderen Ende der Skala gilt noch lange als souverän, selbstsicher und kompetent, wer durch die beigemischte Selbstüberschätzung und mangelnde Empathie längst Unterstützungsangebote bräuchte, um im sozialen Austausch mit anderen und bei weitreichenden Entscheidungen keinen größeren Schaden anzurichten. Denn immerhin besagt der Dunning-Kruger-Effekt, dass ausgerechnet inkompetente Menschen oft das größte Selbstbewusstsein haben. 

Womit wir zurück wären beim Defizit der Fünfzehnjährigen und der Frage, ob Zweifel an der eigenen Leistung, Zweifel am Ich, einmal mehr Zögern vor dem Sprechen nicht die wertvolleren Eigenschaften sind, auch angesichts der aktuellen und immer komplexeren Weltlage? Fragen zu stellen anstatt das Parieren im Antworten zu perfektionieren, weil Unsicherheit und In-Frage-Stellen womöglich die offenere Gesprächsgrundlage ist und einen Austausch auf Augenhöhe erst ermöglicht?

Mit diesem Blick auf Welt und Gesellschaft wäre es plötzlich überhaupt kein Problem mehr, dass Mädchen weniger Zutrauen haben in ihre Talente. Alles eine Frage der Perspektive und des sprachlichen Framing: Zum eigentlichen Problem wird dann nämlich, dass Männer sich von klein auf überschätzen. Deshalb ist 'Mansplaining' kein Modewort, sondern endlich gibt es einen Begriff für übergriffige Erklärbären, die das Zuhören nie so recht lernen mussten. 

Die pädagogische Herausforderung wäre also, Jungen gesunde Zweifel an den eigenen Fähigkeiten zu ermöglichen und damit mehr Dialogbereitschaft und Solidarität. Oder um es klar und deutlich zu formulieren: diese Welt braucht mehr Menschen, die Zweifel ehrlich zulassen und nicht überspielen. Menschen, die zugeben können und dürfen, wenn sie keine passende Antwort haben, die leise genug sind, um zuhören zu können, anstatt selbst gleich das Wort zu ergreifen.

Don't think about making women fit the world — think about making the world fit women.” Gloria Steinem

Nein, die Unsicherheit und Zweifel der Mädchen an ihren Talenten sind wahrscheinlich viel weniger ein Defizit und Problem, als ein wichtiger Teil der Lösung. Und so sollten wir es auch darstellen und nicht länger die Mär reproduzieren, dass das Männliche die wünschenswerte Norm sei. Sie sollte es zumindest nicht sein. Nicht in diesem Fall und auch sonst nicht. Und die passende Überschrift zur Nachbetrachtung der PISA-Studie lautet dann: 

"Fünfzehnjährige Jungen überschätzen sich und ihre Fähigkeiten in eklatanter Weise. Was können wir als Gesellschaft dagegen tun?" 

… nur so, als Vorschlag, als Essai.

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*

1) Die Zeit:

https://www.zeit.de/news/2022-03/10/weniger-maedchen-als-jungen-halten-sich-fuer-talentiert?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com (Öffnet in neuem Fenster)

2) Sat1:

https://www.sat1.de/tv/fruehstuecksfernsehen/video/studie-zeigt-weniger-maedchen-als-jungen-halten-sich-fuer-talentiert-clip (Öffnet in neuem Fenster)

3) Businessinsider:

https://www.businessinsider.de/leben/studie-maenner-ueberschaetzen-sich-frauen-stapeln-eher-tief-b/ (Öffnet in neuem Fenster)

4) … 

LMGTFY: 

https://lmgtfy.app/?q=m%C3%A4dchen+pisa+talent+2022+jungen+ (Öffnet in neuem Fenster)

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