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Elterntagebücher

Jetzt! Festhalten! Es ist so schön gerade. Alle sitzen am Tisch, die Kinder erzählen, keins klappert mit dem Besteck, beschwert sich übers Essen, es ist lustig bei uns. Idyllisch. Allerliebst. Kitschig. Zum Erinnern geeignet. Und jetzt? Was soll ich ins Tagebuch schreiben…um in 10 Jahren das Jetzt von heute zu erinnern? > "Heute saßen wir alle zusammen am Tisch und es war allerliebst" ?

Heute sind diese 10 Jahre um. Das "Ich" bin in dem Fall tatsächlich Ich selbst, die drei Tagebücher liegen hier. Wir haben nicht nur unsere eigenen wieder ausgegraben, sondern auch viele Tagebücher anderer Eltern gelesen, aktuelle, ältere und sehr alte. Was ist das Anliegen derer, die sie schreiben? Wie unterscheiden sie sich? Wozu gab es sie im 19. Jahrhundert und gibt es sie heute noch? Auf Papier? Mit eingeklebten Ultraschall-Bildern?

Foto mehrerer, übereinandergestapelter Tagebucher (Öffnet in neuem Fenster)

Vielleicht schreibst Du selbst Tagebuch für Deine Kinder? Für dich? Ja, für wen eigentlich?

Die meisten hoffen, dass das heute kleine Kind, die elterlichen Gedanken 20 Jahre später nachvollziehen möchte und wertschätzen wird. - nur ein Gedanke, der uns beschäftigt (hat).

Für ein Radiofeature für den Deutschlandfunk über Elterntagebücher haben wir vor 10 Jahren das Manuskript geschrieben - dieses Jahr im Juni wurde die Sendung wiederholt und kann jetzt online nachgehört werden (Öffnet in neuem Fenster). Titel:

"Erinnern und Verklären. Elterntagebücher aus zwei Jahrhunderten" - Radiofeature von Almut Schnerring und Sascha Verlan.

Beim nochmal Durchlesen fällt uns auf: Wir waren offenbar noch wenig sensibilisiert für den ganzen Themenbereich der Geschlechterrollen. Heute würden wir nicht mehr im generischen Maskulinum schreiben. Und wir würden die vielen Hinweise auf überlastete Mütter und fehlende #EqualCare-Vereinbarungen bewusster wahrnehmen und im Text aufgreifen:

Die Recherche in und über Tagebücher hat uns sehr geholfen, in den Themenbereich der Geschlechterrollenbilder einzusteigen - heute der Schwerpunkt unserer Arbeit. Was uns damals überrascht hat, vllt war es deshalb mit ausschlaggebend, weiter zu dem Thema zu recherchieren: Väter heute schreiben auch mal ein paar Zeilen, aber wir haben keinen gefunden, der bewusst entschieden hat, ein Tagebuch über die Kindheit seiner neuen Familie anzulegen. Ganz anders im 19. Jahrhundert. Da waren es vor allem die Väter, die Tagebuch über ihre Kinder führten:

Screenshot aus dem Manuskript: "13. März 1895: Heute abend trug ich ihn, nachdem er gewaschen und in den Einbund gewicket war, eine Zeit herum, weil die Milch noch nicht die richtige Temperatur zum Trinken hatte. Ich setzte mich dabei - auch ans Klavier und spielte mit einer Hand die Melodie 'Goldne Abendsonne, wie bist du so schön', die Bassstimme mitsingend. Walther hörte erst sehr andächtig zu, dann sang er den Grundton Es (ich spielte in Es-dur) mit." (Tagebuch für Walther)

Seit Ende des 19. Jahrhunderts sind Elterntagebücher überliefert.

Neben Datensammlungen über die körperliche und geistige Entwicklung des Neugeborenen finden sich von Anfang an auch Reflexionen.

Im Rückblick erzählen diese Alltagsbeobachtungen, wie sich die Beziehung zwischen Eltern und Kind im Lauf der Generationen verändert hat. Natürlich sind wir in dem Kontext nicht an Johanna Haarers Erziehungsratgebern vorbeigekommen. Ihre gewaltvolle Haltung gegenüber Kindern spiegelt sich in vielen der alten Tagebüchern wieder. Umso schöner war es, auf ein besonders schönes zu stoßen, das 'Tagebuch für Walther', in dem ein Vater sehr empathisch über sein Kind schreibt.

Für die alten Tagebücher waren wir mehrere Tage im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen (Öffnet in neuem Fenster). Unsere Funde dort waren ausschlaggebend, dass wir eine Redakteurin im Deutschlandfunk von unserer Featureidee überzeugen konnten.

„Damit du nicht auf irrige Gedanken kommst, muss ich dir erklären, dass du keineswegs der Inbegriff der Schönheit warst. Als du, mein lieber Sohn, deinen Einzug in die Welt hieltst, warst du ein wenig verbeult.” (für Richard, 1906)

Screenshot von der Deutschlandfunk-Seite mit Link zum podcast der Sendung. (Öffnet in neuem Fenster)

„Jede große Zeit erfordert große und harte Menschen, groß im Können, im Charakter und im Glauben. Hierzu wollen wir Dich erziehen …” (für Hans-Martin, 1939).

Neben vielen Zitaten aus alten Funden kommen Eltern von heute zu Wort.

Ich durfte zum Beispiel die Lyrikerin Ulrike Draesner (Öffnet in neuem Fenster) kennenlernen, auch sie kommt mit ihren "Muttertagebüchern" in der Sendung zu Wort. Und wir haben, wenigstens virtuell, Andy Benz kennengelernt, ein Kontrabassist aus Dänemark (Öffnet in neuem Fenster), den wir wegen der Nutzungsrechte anschrieben, um seine Musik nutzen zu dürfen, die wir so wunderbar passend fanden.

Es freut uns, wenn wir Euer Interesse für dieses Thema wecken konnten. Vielleicht hört Ihr Euch die Sendung an und mögt uns Eure Gedanken dazu hier in die Kommentare schreiben?

Alles Gute,
Beste Grüße schicken Sascha und Almut

Foto mehrerer, übereinanderliegender, aufgeschlagener Tagebücher - die unterschiedlichen Handschriften zeigen, dass sehr alte und jüngere dabei sind. (Öffnet in neuem Fenster)

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