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Gesundes Leiden oder  Belastungsstörung der Arbeitswelt?

Was ist Gesundheit, was ist Krankheit? Diese scheinbar triviale Frage ist im Bereich der Neurodiversität gar nicht so einfach zu beantworten.

Zunächst einmal ein Prolog zum Anlass : 

Ich arbeite ja in einer Klinik, die nun keinen expliziten ADHS-Schwerpunkt hat. Aber die "Aufnahmen" der letzten Tage waren nun Patienten, die irgendwie im Bereich der Selbstregulation und Alltagsorganisation nicht so richtig Fuß fassen können.  Und dann interessante Wege gefunden habe, sich nicht den Anforderungen des Lebens und speziell der Arbeitswelt stellen zu müssen, bzw. zu können. Ohne sich dabei glücklich zu fühlen. Und sicher nun auch nicht ganz "freiwillig". Also eher "finden mussten" und dazu letztlich gezwungen wurden.

Und immer häufiger treten hier elementare Probleme im Bereich der Selbstregulation und Selbstmanagement in Hinblick auf die Erfüllung von "Anforderungen" der Gesellschaft auf.  



Es kommt irgendwie zu einer Diskrepanz zwischen den Bedingungen und Anforderungen eines Studiums oder eines Arbeitgebers und dem Können (oder vielleicht auch Wollen) meiner Klienten.

Es geht hier explizit nicht unbedingt um ADHS, da die übrigen diagnostischen Kriterien und auch die Selbsteinschätzung dagegen sprechen. Aber sehr wohl um Probleme in der Alltagsbewältigung und dem Erfüllen von Erwartungen. 

Und häufig damit auch um Bewertungen und eine Angst vor einer "erneuten" negativen Bewertung / Abwertung.


Worin besteht das Problem für mich?

Den Leuten geht es ja irgendwie schlecht, sonst hätten sie sich nicht für eine Klinikaufnahme beworben bzw. einen Arzt gefunden, der eine Einweisung ausstellt. Vereinfacht ausgedrückt : Wer die Schwelle der Klinik überschreitet, definiert sich ja quasi selber als Patient mit einem Problem bzw. Leiden.


Meistens mit einer Diagnose "Depression", die aber dann eigentlich seit frühester Kindheit besteht. Oder Soziale Phobie, weil man sich in sozialen Situationen wie Studium oder Arbeit unwohl fühlt.
Manchmal mit Diagnosen wie PTBS, weil es einzelne oder dauerhafte Belastungsereignisse wie suchtkranke Eltern, Gewalt, Umzüge etc in der Kindheit gab. Oder andere Faktoren. Aber eben dann nicht mit wirklichen PTBS-Symptomen nach den Klassifikationssystemen.

Und es beschleicht mich dann manchmal das Gefühl, dass eigentlich eher aus dem Symptom "Leistungsminderung" auf Ptbs zurück geschlossen wird. Ohne aber wirklich Symptome nach den Diagnosekriterien der Psychologen zu erfüllen.

Ich muss aber als Facharzt dann auch feststellen, ob nun wirklich eine (behandelbare) Krankheit vorliegt bzw. eine stationäre Behandlungsbedürftigkeit vorliegt. Zumindest sollte ich das, weil sonst die Kostenträger uns den Medizinischen Dienst der Krankenkassen auf den Hals schicken und das selber überprüfen. 


Und da reicht dann nicht das subjektive Gefühl "Ich komme nicht klar" mit dem Leben und der aktuellen Belastungen der Arbeitswelt?

Was ist Gesundes Leiden? 

Der Begriff stammt wohl von Prof Michael Linden und führt zur provokativen Diskussionen. Gemeint ist damit, dass allgemeine Lebensprobleme und Anforderungen von der Gesellschaft bzw. von der Arbeitswelt nicht als "Krankheit" im Sinne der sozialrechtlichen Bezahlsysteme gewertet werden sollten.



Andere Beispiele wären hier Situationen, bei denen man am Arbeitsplatz in Konflikten mit Vorgesetzten oder Arbeitskollegen verwickelt ist und dann häufig über Monate krankgeschrieben wird. Wenn beispielsweise eine Fachkraft aufgrund von Personalmangel täglich 12 h arbeiten muss und ihr dann mitgeteilt wird, sie erledige ich Arbeit nicht gut (genug), dann wird das naturgemäss zu Frust und Konflikten führen.  Und zu Stressfolgestörungen wie Schlafstörungen, Verspannungen oder sonstigen "Körpersignalen". Also auch klinisch relevanten Symptomen.  

Nicht selten ist es auch so, dass durch einen neuen Vorgesetzten oder struktuelle (negative) Veränderungen in der Abteilung die bisherige gut funktionierende Nische nicht mehr aushaltbar ist. Die eigene hohe Empfindsamkeit bzw. Reizoffenheit kann dann den ständigen Druck von Konflikten von toxischen Arbeitkollegen, Kritik bzw. andere Formen von Abwertung nicht mehr lange Zeit aushalten. Das mag man Mobbing nennen und  natürlich verurteilen. Das kann man als Burnout empfinden, wenn man ständig dagegen ankämpfen muss und letztlich erschöpft. Aber es sind (zumindest nach Prof. Linden) eben alles Faktoren bzw. Einflussfaktoren, die so erstmal nicht in den Bereich "Krankheit" fallen.

Leider werden in diesem Zusammenhang aber eben auch "Altlasten" aus der Vergangenheit von früheren Arbeitsplatzkonflikten bzw. auch Hilflosigkeitserfahrungen aus dem gesammten Leben (bis hin zu Traumata) re-aktiviert. 

Häufig geht es hier um Bewertungssituationen in der frühen Kindheit. Manchmal auch um fehlenden Respekt seitens von Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen bzw. andere ungünstige Sozialisationserfahrungen, die dann quasi wie eine Vielzahl von Computer-Fenstern aufploppen und zur Verwirrung und Handlungsunfähigkeit führen.

Aber häufiger erscheint mir die Bewertung der Situation seitens der Klienten sehr angemessen. Und nicht wirklich durch ihre Biographie und negative Life-Events erklärbar.

Gesunde Reaktionen von empfindsamen Menschen auf ungesunde / toxische Bedingungen in unserer Welt

Zwickmühlen - kranke Situation aushaltbar machen?


Die Situation macht krank. Aber raus kann man (abgesehen von der Krankschreibung) nicht, weil man am Ort sicher keinen neuen gleichbezahlten oder nahen Arbeitsplatz findet, zu alt oder vielleicht einfach auch nicht wirklich mit Abschlüssen etc "qualifiziert" ist.
Gesundes Leiden (Öffnet in neuem Fenster) ist also keinesfalls gesund. Es ist vielmehr häufig eine Zwickmühle, die die eigene Lebensqualität bzw. Gesundheit massiv beeinträchtigt. 

In meinen frühen Tätigkeiten in Reha-Kliniken gab es üble Beschimpfungen gegen mich und meine Kollegen, wenn wir dann keine Erwerbsminderungsrente befürworten (dürfen) und darauf verweisen, dass hier die Arbeitsbedingungen bzw. Arbeitsplatzsituation dazu führt, dass man leidet.

Dies ist aber kein Risiko, dass die Krankenkasse bzw. die Rentenversicherung absichert. Sondern eher die Arbeitslosenversicherung bzw. eben ein Risiko des allgemeinen Lebens ist, das man (leider?) selber trägt.

Neulich habe ich beispielsweise in einem Forum gelesen, dass ein Autist Erwerbsminderungsrente beantragte. Schön und gut und sein gutes Recht.  Gleichzeitig schrieb er, dass Autismus natürlich für ihn keine Krankheit sei. Es ist eine ganz normale Konstitution, die aber eben zu Benachteiligungen, Beeinträchtigungen und eben Störungen im Sinne einer Behinderung der beruflichen Teilhabe führte.

Auch richtig.

Aber gerade deshalb könne er nicht in diesem System arbeiten.  

Finde den Fehler..

Weitere Erwerbsminderungsrente bzw. Krankschreibungen lösen das Problem nicht. Solange man nicht selber eine Veränderung umsetzt (so schwer es auch fällt), wird man eher immer unglücklicher, immer mehr angespannt und immer kränker und handlungsfunfähig. Aber dennoch nicht "krank" im Sinne der Regelungen im Sozialgesetzbuch. 

Zumindest sehen das dann viele Gutachter so, die sich an die Gutachtenrichtlinien halten müssen

Warum sich einer nicht gesunden Studien- und Arbeitswelt aussetzen ?

Zunehmend habe ich aber jetzt Patienten, die eigentlich gar nicht im Studium oder in der Arbeitswelt klarkommen bzw. dort jemals ankommen . Und das häufig auch aus dem Erleben heraus, dass sie mit den dortigen Strukturen, Vorgaben sich nicht identifizieren können oder wollen.

Wenn ich "Soziale Arbeit" studiere, aber in unsoziale Arbeitsbedingungen komme, dann löst das einen Konflikt und negative Stimmung (Dysphorie) aus. Wenn ich dann zwei oder drei Arbeitsplätze ähnlich negativ empfinde (weil sie vielleicht auch so sind, wie sie sind), wird der Antrieb für eine neue Bewerbung nicht besser. Und die Stimmung sicher auch nicht. Aber ist das Krankheit?


Aber sehr häufig könnten sie die intellektuellen Anforderungen meistern, scheitern aber an den Dingen und Aufgaben der Selbstständigkeit und Übernahme von Verantwortung im Alltag. Bei den Kleinigkeiten, die sich so aufsummieren. Und damit vermutlich eher an den höheren Handlungsfunktionen (Exekutivfunktionen).

Da habe ich den "ewigen Studenten", der das Studium eigentlich gut abgeschlossen hat, aber unter Corona und Remote-Bedingungen eine abschliessende Studienarbeit und Praktika seit 2 Jahren nicht macht / machen kann. 


Ist das eine Krankheit ?

Da habe ich zudem (viele) jüngere Frauen und Männer, die unter extreme emotionalen Schwankungen leiden. Den einen Tag sind sie lebendig, sprühen vor Ideen und Lebensfreude, treffen sich mit Freundinnen und Freunden. Häufig sehr intelligent, mit einer Vielzahl von Talenten und Interessen. Aber immer wieder mit Abbrüchen in der Schule, in Jobs, in Beziehungen, in Kontakten zum Elternhaus oder anderen sozialen Kontakten.


Und dann am nächsten Tag geht gar nichts mehr. Sie kommen nicht aus dem Bett, sind von Angst / Anspannung geplagt und verirren sich in negativen Gedanken über die Anforderungen in der Zukunft. Finden aber irgendwie nicht eine Balance, eine sichere Basis. 


Die Vorstellung, sich um das eigene Leben mit einer eigenen Wohnung, Finanzierung von Miete bzw. Beantragen von Wohngeld, Sozialhilfe oder Regelungen der Arbeitsagentur zu kümmern, Versicherungen, Einkäufe, Arztbesuche und das Abholen von Medikamenten (wogegen oder wofür eigentlich?) Alles zuviel. Alles ohne Plan oder Prioritäten. Keine Selbstregulation bzw. fehlendes Selbstmanagement.

Konstant ist nur, dass ihr Leben keine rote Linie bzw. Konstante hat.  Und leider dann auch mit der Gefahr, sehr üble Kontakte und Erfahrungen durch fürchterliche Peer-groups zu haben. Sicher eine Störung. Aber kann man diese durch Psychotherapie "ändern" ? Noch dazu in einem kurzen Zeitraum von 5-8 Wochen? Sicher nicht.

Aber helfen muss man doch

Eine Antwort habe ich nicht 

Sicher auch viele Fragen. Aber keine eindeutigen Antworten.

Je empfindsamer man dann sein mag und je stärker man von einer wie auch immer definierten "Normalität" abweicht, desto herausfordernder die Situation.
Hier beisst sich irgendwo die Definition bzw. Aufgaben von medizinischem System mit unserer Realität in der Gesellschaft.

Welche Auffassung hast du dazu? Polarisiere ich zu stark? Grenze ich aus?

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5 Kommentare

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