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"Die Mitte der Woche" - der Bettges-Newsletter Nr. 2 zum Normalismus nach Jürgen Link und dem Massenmord in Solingen

Der Name dieses Newsletters versteht sich explizit kritisch. Nicht, weil er - wenn möglich - immer Mittwochs erscheinen soll.

 Vielmehr gilt: Gesellschaften, die sich über eine "Mitte" und "Ränder" definieren, stehen pluralen, ausdifferenzierten von Lebensformen im Rahmen einer auf Grund- und Menschenrechten basierenden Verfassung oft feindlich gegenüber. Wie aktuell akut überall zu beobachten ist. “Die Mitte der Woche” wählt so immer auch Themen aus eben dieser gesellschaftlichen “Mitte” un betrachtet sie kritisch.

 Der Normalismus nach Jürgen Link

 Ein diesen Grundgedanken ausarbeitendes Modell: der "Normalismus" von Jürgen Link. In meiner Dissertation "Docutimelines (Opens in a new window)" verband ich Links Ansatz mit der Kritik der funktionalistischen Vernunft in Jürgen Habermas' "Theorie des Kommunikativen Handelns". Er passt gut zu dessen Ansätzen, Gesellschaft als System zu begreifen.

Links Grundgedanke baut der in Statistiken als Filter eingesetzten Normalverteilung auf. Die berühmte Glockenkurve:

"Die Normalverteilung verwendest du, um Häufigkeiten von Daten und Beobachtungen darzustellen." (Opens in a new window)

 Was auch immer verteile sich so, dass in der "Mitte", Scheitelpunkt der Kurve, der Durchschnitt residiert - der Mittelwert. Falls deutsche Männer durchschnittlich 1,80 m groß sind, so bildet dieser Wert den Gipfel des virtuellen Berges. Die Wahrscheinlichkeit besagt, dass, je weiter entfernt von dieser Länge des Leibes reale Körpergrößen im wahren Leben auftauchen, desto geringer die Anzahl der Männer, die z.B. nur 90 cm groß sind.

 Dieser statistische Filter bildet jedoch ggf. auch die Struktur gesellschaftlicher Selbstwahrnehmungen. Er wirkt hinsichtlich dessen, was als "normal" angesehen wird und sodann indirekt normativ wirkt. Link folgt hier Ansätzen von Michel Foucault. Dieser hatte vor allem in "Der Wille zum Wissen - Sexualität und Wahrheit 1" ausgeführt, wie in den Sexualwissenschaften all das zum Untersuchungsgegenstand wurde, was vom zur Fortpflanzung dienenden heterosexuellen Genitalsex abweicht. So seinen Unmengen humanwissenschaftlichen Materials erzeugt worden. Um Abweichungen therapieren, also normalisieren zu können. Das "Normale" hingegen blieb unbefragt - das, was sich zugleich als "die Mitte" versteht.

 Jürgen Link greift diesen Gedanken auf und vertieft ihn in verschiedenen Veröffentlichungen - unter anderem in "Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart (Opens in a new window)". Ich kann allen die Lektüre nur ans Herz legen. Es ist ein sehr locker geschriebenes und in Teilen amüsantes, in manchen Passagen auch erschreckendes Werk. Unter anderem setzt er sich intensiv mit den Schriften von Thilo Sarrazin auseinander. Kerngedanke seiner Krisendiagnostik:

"Wo Verlust von Normalität beklagt wird, da läuten die Alarmglocken unserer modernen Kulturen am schrillsten – da besteht nämlich »Handlungsbedarf«. Es sieht so aus, als ob  »Handlungsbedarf« gleichbedeutend wäre mit »Normalisierungsbedarf«, und je ernster eine Krise, umso größer solcher Normalisierungsbedarf."

 Link, Jürgen. Normale Krisen?: Normalismus und die Krise der Gegenwart (S.17). Konstanz University Press. Kindle-Version.

 Meines Erachtens ein Volltreffer. Ja, ich steuere behutsam auf Solingen zu. Jürgen Link unterscheidet zwischen Formen des Normalismus - dem eher "toleranten" flexiblen Normalismus und dem rigiden Protonormalismus. In ihrer flexiblen Form ist die "Mitte" bereit, Abweichungen vom Eigenen noch auszuhalten, teilweise auch gutzuheißen. Sie weiß zwar um ihre Machtposition als Mehrheit, geht aber gerne chinesisch essen und schaut sich auch den "Karneval der Kulturen" an. Die Anderen, die Ränder, bleiben Ränder, sollen möglichst auch über keine Macht verfügen. Sie gelten jedoch als akzeptable Bereicherung in den Umfeldern der Lebensformen, die der Normalismus generiert.  

 Der rigide Protonormalismus hingegen wehrt alles ab, bekämpft aggressiv, was nicht ist wie er selbst. Als Beispiel können die Drohungen gegen CSD-Demonstrationen in Bautzen und Leipzig dienen (hier meine Antwort darauf in Form der Long-Version meines weitgehend unbekannten Smash-Hits "Dance is resistance against fascism" (Opens in a new window)). Ob Martin Sellner, die AfD, BSW, die Autoren der "Sezession" oder Verfechter von Gendern-Verboten, sie alle zielen auf durch und durch homogene Gesellschaften im Sinne des Protonormalismus.

 "Historisch waren es vor allem Normalfelder wie Demografie/Sexualität, Armut, Behinderung und »Leistungs«-Defizite, insbesondere »Dummheit« (»Intelligenz«-Defizite), an denen der rigide  Protonormalismus seine aggressive Exklusionsstrategie entwickelte."

 Link, Jürgen. Normale Krisen?: Normalismus und die Krise der Gegenwart (S.41). Konstanz University Press. Kindle-Version

 Am Beispiel Sarrazins führt Link aus, wie dieser Datenmengen on top in völkisch-rassistischer Manier mit Drall zur Eugenik mit dem "Intelligenztopos" kombinierte, ganz in der Tradition der berühmten "Bell Curve" (Opens in a new window) - was ja nichts anderes heißt als Glockenkurve, also Normalverteilung. Der libertäre Politikwissenschaftler Charles Murray erarbeitete zusammen mit dem Psychologen Richard Herrnstein ein von Kritiker*innen anschließend zerfetztes Modell , das nachweisen können sollte, dass schwarze Menschen über eine geringere Intelligenz verfügten als Weiße. Trotz vernichtender Erwiderungen und Kontextualisierungen ploppt die "Bell Curve" immer wieder in "White Supremacy"-Diskursen auf und diente vermutlich auch Sarrazin als Vorbild.

 Das, was Link als "Protonormalismus" bezeichnet, operiert dabei mit einem Muster, das der Soziologe Norbert Elias einst diagnostizierte: die Generalisierung von Positivstereotypen der eigenen Gruppe und Negativstereotypen der Fremdgruppe.

Das mörderische Messerattentat von Solingen und Ansätze zur Islamismus-Prävention

 Womit ich in Solingen gelandet wäre. Um die 1 Million Syrer leben derzeit - Twitterquellen zufolge - in Deutschland. Einer griff zum Messer und beging einen Mehrfachmord. Der IS bekannte sich dazu, Strippenzieher zu sein.

 Die nun folgende Diskussion generalisiert diese Tat zur "kulturell bedingten Charaktereigenschaft" von Syrern und von Afghanen gleich mit. Über die Opfer berichten Medien erstaunlich wenig - einer derer ist Iraner (Opens in a new window).

Messerattacken durch als "deutsch", also Mitte, eigene Gruppe, identifizierte Täter hingegen gelten als Einzelfälle. Hier versichert sich der Scheitelpunkt der Normalverteilung eigener Überlegenheit und konstruiert Migrantisierte und Flüchtlinge als "Ränder", die im Sinne einer protonormalitären "Stauchung" der Kurve auszuscheiden wären. Denn: Je flacher die Kurve, desto ausdifferenzierter präsentieren und verstehen sich Gesellschaften, je steiler, desto homogener sind sie.

 Das Fatale - vielleicht von manchen Beabsichtigte - ist, dass einem Phänomen wie "Islamismus" - der Begriff ist umstritten, eine profunde Zusammenfassung verschiedener Strömungen findet sich auf der Seite des Innenministeriums (Opens in a new window) - so nun gerade nicht sinnvoll oder effektiv begegnet werden kann. Ganz im Gegenteil: genau diese Reaktionen des Protonormalismus stärken ihn eher.

 Das sage ich nicht so dahin. Vor ein paar Jahren, also auch noch vor dem Gaza-Krieg, verdiente ich mein Geld damit, die Dokumentation eines anderen Autoren zu überarbeiten. Der Film kam nicht durch die Abnahme beim Sender. Ich stand nie im Abspann, verlieh dem Werk aber eine neue Struktur.

 Das Thema: Salafisten. Im Zuge dessen hatte ich Zugang zu umfangreichen Interviews. Die Gesprächspartner*innen reichten vom furchtbaren Hassprediger Anjem Choudary über Vertreter der English Defense League bis hin zu einem Sufi-Imman, auf dessen Moschee ein rechtsextremer Anschlag verübt wurde; von Hans-Georg Maaßen, damals Leiter des Verfassungsschutzes, über die Feminismusbeauftragte einer muslimischen Organisation in Österreich bis hin zu der Mutter eines weißen Konvertierten aus Toulouse, der zur Unterstützung des IS nach Syrien reiste und dort ums Leben kam. Zusätzlich standen mir umfangreiche Interviews mit französischen Sozialwissenschaftlern zur Verfügung auch mit Aussteigern aus der Salafisten-Szene.

 Die geballten Informationen gingen sehr weit über den medialen Feld-, Wald- und Wiesendiskurs hinaus. Ich lasse internationale Bedingungen wie den Irak-Krieg, den Afghanistan-Einsatz oder den aktuellen Krieg in Gaza hier außen vor.

 Das Bild, das sich ergab, bestand aus vor allem folgenden Kompenenten:

 - die interviewten Muslime hatten selbst eine Mordsangst, buchstäblich, vor radikalen Hetzern wie Anjem Choudary (Opens in a new window) - um sich und um ihre Kinder. Das Interview mit ihm warf mich fast vom Stuhl. Tatsächlich tauchten in ihm Vulgärversionen auch postkolonialer Theorie auf als Rechtfertigung für Mord und Terror, Forderungen nach Todesstrafen für Homosexuelle inbegriffen. Das können diese Wissenszweige nicht völlig ausblenden und tun das ja auch nicht. Sie forschen deshalb in der Regel spezifisch und lokal. Es schadet trotzdem nicht, sich mit diesen Gestalten zu beschäftigen, deren Opfer global vor allem andere Muslime sind. Die vor solchem Denken und Handeln dann flüchten - unter anderem nach Deutschland.

 - die Rekrutierung findet stark über das Internet statt und dort auch mit Hilfe von hypnotischen Gebetsvideos, mit Musik unterlegt; ergänzend mit bedauerlicherweise ziemlich poppigen Videos zur Rekrutierung für den IS, die aussehen wie MTV-Clips voll mit sexy Ninjas. Solche habe ich unter anderem in die zweiteilige Dokumentation "Peace & Pop" (ZDF/ARTE) montiert; zur Abschreckung, versteht sich. Auf die Rolle des Netzes, auch Telegram & Co, verweist ebenso Lamya Kaddor in einem Interview bei t-online:

 "Aber sich in zwei Jahren online zu radikalisieren, ist problemlos möglich, das wissen wir aus anderen Fällen. Und zwar inklusive der nötigen Instruktionen, wie man möglichst viel Schaden anrichten kann. Heute kann man im Netz problemlos lernen, eine Bombe zu bauen. Die Bedeutung der Turboradikalisierung wird noch immer unterschätzt, auch in der Politik." (Opens in a new window)

 - viele der späteren Täter werden empfänglich für die Rekrutierung durch biographische Krisen, ja, auch Flucht, und Abwertungserfahrungen. Sie radikalisieren sich nicht nur in den Herkunftsländern, sondern oft erst unter Bedingungen, die sie in Europa vorfinden. In Frankreich gab es so lange Zeit eine rege "Knastmissionstätigkeit". Islamisten wussten zu nutzen, wenn Täter komplett demoralisiert und ggf. gebeutelt von Schuldgefühlen eine Hand gereicht bekamen, wieder "anständig" zu werden, indem sie den "Gesetzen Allahs" folgten - allerdings in radikal salafistischen Interpretationen, denen der Großteil der Muslime vehement widerspricht.

 Mit anderen Worten: auch das System von Konzentration in Flüchtlingszentren, Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit angesichts drohender Abschiebungen kann Dispositionen produzieren, sich zu radikalisieren. Gerade wenn sie sich buchstäblich "wie ein Haufen Scheiße" fühlen und auch so behandelt werden, steigt die Gefahr, dass sie der Propaganda aus dem Internet auf den Leim gehen.

 Das arbeitete auch der ehemalige Generalsekretär der CDU auf X, ehemals Twitter, Ruprecht Polenz treffend heraus:

Tatsächlich verweist das von Polenz Formulierte auf einen Theoriepfeiler in der "Theorie des Kommunikativen Handelns" von Jürgen Habermas. Dieser unterscheidet zwischen System- und Sozialintegration. Systemintegration heißt: Integration in die am Leitfaden ökonomischer Systemimperative agierenden Subsysteme im Bereich der Wirtschaft. Kurz: Arbeiten, Geld verdienen, Miete zahlen, konsumieren. Oder Integration in die Mechanismen administrativer Macht: Asylantrag und -verfahren, Flüchtlingsunterkunft, Aufenthaltsstatus, drohende Abschiebung, Bezahlkarte.

Systemintegration allein kann jedoch nicht gegen mögliche Radikalisierung steuern. Es ist gerade diese Konzentration unter Herabgewürdigten, die Rekrutierung begünstigt. Auch Polenz verweist bei X diesbezüglich auf die Terrorismusforschung.

Sozialintegration erfolgt mittels kommunikativem, also in wechselseitiger Akzeptanz gründendem verständigungsorientierten Handeln. Dieses geschieht im besten Fallen in Schulen, Vereinen, zivilgesellschaftlichen Strukturen. Andeutungen dessen gab es, als der FC St. Pauli die Lampedusa-Gruppe unter seine Fittiche nahm und in den Messehallen sich Anwohner um - sehr viele - Geflüchtete kümmerten. Menschen also nicht als "Ränder" der Normalverteilung behandelt und mit generalisierten Negativstereotypen konfrontiert wurden, sondern Menschen ein soziales Band knüpften.

Letztlich verweisen die Konflikte bis in die französischen Banlieues hinein auf ungelöste soziale Fragen. DAS wurde deutlich auch bei all den Interviews zu der Dokumentation, von der ich oben geschrieben habe.

 Dadurch, dass nur noch auf Systemintegration gebaut wird, stoßen Rechtsradikale, vor allem in Ostdeutschland, und Islamisten gleichermaßen in die Lücken vor, die der Sozialabbau, der mangelnde Einfluss von Gewerkschaften, der Abbau von Zivilgesellschaft allgemein hinterließ. Es braucht Institutionen zur Sozialintegration.

 Nunmehr die soziale Frage wie das BSW, die AfD, in Teilen die CDU nur völkisch zu beantworten, ganz im Sinne des Protonormalismus, oder durch Systemintegration (oder auch noch deren Abschaffung durch Abschottung), das dürfte gute Chancen für die Rekrutierung neuer islamistischer Täter durch Akteure des IS eröffnen.

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Topic Gesellschaft

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