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Das Ende entfremdeter Arbeit oder schlimmster Kapitalismus? Zur "Creator Economy" auf Youtube

BLOSS NICHT DIDAKTISCH WERDEN! BLOSS NICHT ANALYTISCH ANSETZEN! BLOSS NICHT INTELLEKTUELL! ORIENTIERE DICH AN DEM, WAS DURCHSCHNITTSZUSCHAUER MÖCHTEN! DIE MENSCHEN WOLLEN ENDLICH NICHT MEHR BELEHRT WERDEN!

 Mantren, die allen Fernsehmacher*innen geläufig sein dürften. Ja, auch auf Druck der Neuen Rechten - werden sie doch gerade von diesen Mobs bei X und anderswo derart aggressiv gestellt, dass sie wohl auch Existenz-Ängste auslöst. Viele finden diese Mantren sogar richtig. Und ja, im Falle von per Rundfunkgebühren, in Netze staatlicher Institutionen eingewobener Rundfunkanstalten kann man auf die Idee "staatlicher Indoktrination" kommen. Aber nur, wenn man sie nicht von innen kennt. Die Kommunikationen in den Institutionen sind eher an hypothetischen Annahmen über Zuschauer*innenverhalten orientiert, das seit der Explosion und Diversifizierung Sozialer Medien immer schwerer antizipierbar ist.

 Vielleicht auch deshalb, weil in diesen Sozialen Medien oft genau dem Gegenteil der proklamierten Mantren gefolgt wird? Berichte über Einführungsseminare von smarten Jünglingen zum Existentialismus von Sartre und Camus (Opens in a new window) haben fast 200.000 Klicks , Meme mit Zitaten von Philosophen zirkulieren bei TikTok und erzielen Millionen Views. Youtuber stehen wie einst Lehrer in der Schule 40 Minuten lang vor einem Whiteboard oder sitzen, manche hübsch ausgeleuchtet, vor der Kamera und referieren stundenlang ihr Wissen. Didaktischer geht es kaum. Von Power Point abgeleitete, manchmal schlichte, manchmal aufwendig gestaltete Präsentationsformen sind keine Ausnahme, sondern die Regel.

 Youtube bildet in relevanten Bereichen eine ausdifferenzierte Sammlung von Tutorials zu allem, was man sich vorstellen kann. Reinste Pädagogik. Von der Neo-Magie sich als spirituell behauptender "Wie wünsche ich richtig beim Universum?"-Gurus bis hin zu der dunklen Seite der Macht, Maskulisten wie Andrew Tate, die Schulungen in Online-Marketing mit m.E. frauenverachtenden Botschaften verbinden.

 Große Teile der Tutorials sind einfach Manuals. Wie bediene ich Final Cut Pro, welche Kamera ist für Instagram-User am besten geeignet, wie mixe ich Musik richtig in Ableton Live oder Logic Pro X? Ich selbst nutze solche Videos intensiv, wenn ich mal wieder versuche, mich in neue Software einzuarbeiten.

Andere Bereiche, es sind oft keine Kanäle mit Millionen Followern, aber doch im hohen sechsstelligen Bereich, versuchen Ökonomie neu zu denken. Die englischsprachigen Protagonist*innen sind dabei klar im Vorteil. Neben den allseits bekannten Influencern, auf die auch TV-Kanäle zunehmend Zugriff suchen, oft feststellend, dass die neuen Stars Abnahmen durch Redakteur*innen nicht gewohnt sind und anders auch viel mehr Geld verdienen können, ist die "Creator Economy" ein Trend. Diese reflektiert - in Kanälen wie dem von Matt Gray (Opens in a new window) oder Dan Koe (Opens in a new window) , auf letzteren beziehe ich mich vor allem - auch Leben und Überleben im Kapitalismus. Die Analysen des Wandels der Arbeitsverhältnisse durch die Digitalisierung übertrifft manches Mal die Scharfsicht dessen, was man in allerlei kapitalismuskritischen Publikationen findet. Letztere abstrahieren ökonomische Mechanismen und können sie präzise beschreiben, verstehen Umverteilung Arbeiter*innenelend, und das ist ja auch gut so. Sie thematisieren die Prekarisierung in ihrem eigenen akademischen Feld und machen sich wenig Gedanken darüber, wie denn Ökonomien der Zukunft aussehen könnten. Da stellt sich eben nicht nur die Frage nach neuen Technologien zu Zeiten der Klimakatastrophe, sondern auch danach, was besser ist als in einem Callcenter in Indien zu sitzen und den ganzen Tag Anrufe entgegenzunehmen.

 Rahel Jaeggi betont in mehreren Publikationen, dass die Problemlösungkapazität von Lebensformen Motor des gesellschaftlichen Fortschritts sei. Zumindest suggerieren Youtuber, die agieren wie Dan Koe und Matt Gray und unzählige Andere, dass sie Lösungen angesichts eines Wandels der wirtschaftlichen Verhältnisse gefunden hätten. Manche setze auf neue Formen des "Entrepreneurs", der mobil, selbstbestimmt und global agieren könne, andere auf das "One Person Business".

 Die Tutorials verbinden dabei, wie auch Rahel Jaeggi, ihre Ausführungen zu Ökonomie mit dem, was in der Philosophie als "Frage nach dem guten Leben" seit Jahrtausenden diskutiert wird. Weisheitslehren, von Epikur über die "Selbstbetrachtungen" von Marc Aurel bis hin zu dem heute überquellenden Lifestyle-Psychologie-Light-Buchmarkt. Videos zu "Morgenroutinen" und Tagesabläufen werden ebenso eifrig geguckt wie jene dazu, wie ich eine Landing-Page aufbaue oder wann am besten bei Instagram zu posten sei. Meditation oder Konzentration und Fokus trainierende Techniken wie der "Monk Mode" - 4 Stunden täglich raus aus allen Kommunikationen und Ablenkungen durch X, E-Mail, Freund*innen - und auch Gym-Gänge, also letztlich Formen der Diätik, sind Teil dieser Business-Ideen. Die Protagonisten sind um die 30, sehen smart aus, sind alle prima gebaut und können sich gut artikulieren. Obgleich ihre Videos zu weiten Teilen daraus bestehen, dass sie berichten, wie sie in High Schools und Colleges scheiterten.

 Hieraus entsteht die zentrale Philosophie dieser "Creator Economy". Die alten Bildungs- und Karrierewege seien vorbei und nicht mehr gangbar. Über kurz oder lang würden erhebliche Teile der Arbeitenden durch Künstliche Intelligenz ersetzt, durch Anpassung an ökonomische Systemanforderungen verliere man zudem nur jedes Gefühl für Individualität und die eigenen Bedürfnisse. Würde man sich klassisch selbstständig machen, ein Unternehmen gründen, als Freelancer arbeiten, um nicht abhängig beschäftigt zu sein, so habe man auf einmal statt einem Chef ganz viele - eben die Kund*innen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das stimmt.

Doch nun gäbe es ja das Internet. Dort könne man sich so präsentieren, dass zu einem passende Communities sich bilden. Hier könnten alle ihre Nische finden. Ja, jeder SEI genau die Nische, die Publikum generiere und somit für Einkommen sorge. Es ginge einfach nur darum, die eigene Lebenserfahrung, Persönlichkeit, das, was man selbst gelernt habe, so für andere aufzubereiten, dass diese daraus lernen könnten.

Wissensaufbereitung, Didaktik, Belehrung also.

 Dann würde es möglich, nur noch vier Stunden am Tag zu arbeiten und ein Mehrfaches dessen zu verdienen, was die Eltern nach Hause brachten. Fast jeder habe ein Smartphone, ein Tablet, einen Computer und Zugang zum Internet. Videos schneiden und mit Musik unterlegen, in die Kamera reden und das Ganze in sozialen Medien posten, das könne ja nun jeder. Zumindest dann, wenn man nicht gerade irgendwo auf der Flucht ist, von Kriegen bedroht würde oder den falschen Pass habe. Diesen Teil lassen die "Visionäre" allesamt weg.

 So lernt man, ich probiere das auch gerade, wie man durch regelmäßige Postings in sozialen Medien es schaffe, die eigene Geschichte so aufzuarbeiten, dass andere daraus lernen können, wie sie in der "Creator Economy" besser leben können als ihre Eltern.

 Ein Beispiel dafür ist auch "Mr. Grateful (Opens in a new window)". Auch er smart, hübsch, Social Media-kompatibel. Seine Story ist, dass er Chat GBT nutzte, um so zum Instagram-Star zu aufzusteigen. Das ist zugleich sein Content, also anderen Instagram-Usern zu erläutern, wie sie Instagram-Videos mit KI füllen, die dann vermutlich wieder Instagram-Usern berichten, was sie daraus lernten und wie es noch besser ginge, bei Instagram erfolgreich zu sein. So ist Teil seiner Vorträge, den ihm Lauschenden zu präsentieren, wie sie am besten eine Instagram-Story aufbauen. Darüber berichten dann wieder andere bei Instagram.

 Diese Netzwerke sind somit erstaunlich selbstreferentiell. Sie beschäftigen sich viel damit, wie man das eigene Business am Laufen hält. Dabei sind sie nicht unsolidarisch - sie geben ja ihr Wissen preis. Es ist eine andere Solidarität als die aus Arbeitsteilung resultierende. Diese machte einst die Arbeiterbewegung stark. Wie neue Solidaritäten aus solchen Strukturen entstehen können - das scheint mir einen wichtige, politische Frage zu sein.

 Diese Modelle landen alle irgendwann beim Marketing - durch reine Kapitalisierung von Youtube-Filmen füllt sich das Konto auch nicht. Die Kanäle sind Werbung für Produkte. Am Ende muss etwas stehen, was gehandelt werden kann - ein Buch, kostenpflichtiges Coaching, Kurse, für die bezahlt wird, die Tim Melzer-Zange. Das ist kein Witz; ich erinnere an ein Gespräch mit meinem ehemaligen Chef Christoph Post 2008, als der darauf hinwies, dass man bei Fernsehproduktionen kein Geld mehr verdienen könne. Zu viele Projekte enden im Plus/Minus Null, wenn man Glück hat. Oder machen Miese. Das ist tatsächlich so, wenn man keine Talkshow mit dazugehörigem Gesicht produziert. Er verwies auf die sich gut verkaufende Zange des Fernsehkochs, weil die dessen Finanzen sehr positiv verändert habe.

 Bei alledem erscheinen mir diese Modelle - wie erwähnt - auch politisch relevant. Niemand weiß, ob sie überhaupt wirklich für die funktionieren, die sie proklamieren. Sie sind eingewoben in kapitalistische Ökonomien, für die Arbeitende in Coltan-Minen sterben.

 Sie stellen aber die Frage, wie ein Ausweg aus entfremdeter Arbeit unter Bedingungen des 21. Jahrhunderts gefunden werden könnten. Für Marx bildete das noch die zentrale Frage. Sie scheint mir seltsam verschwunden. Die "Creator Economy"-Verfechter betten ihre Lehren wie dargestellt ein in Vorstellungen des "guten Lebens", verwenden ihre Zeit darauf, Anderen Problemlösungen zu präsentieren - und situieren sie in Analysen des ökonomischen Wandels.

 Das sind Fragestellungen und Kriterien, die Ansätze progressiver Politiken voranbringen könnten, nimmt man sie ernst und beschränkt sie aufs Stadtteilzentrum oder das eigene persönliche Umfeld - und doch werden sie, wenn ich mich nicht irre und selbst nur ignorant durch die Welt stolpere, viel zu selten gestellt.

(Mitgliedschaften und Newsletter-Abonnenments hlefen mir dabei, diese Seite zu pflegen. Vielen Dank!)

Topic Gesellschaft

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