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Ernährungsarmut in Österreich

von Lia Kriechbaum

Heute Morgen war ich schon am Arbeiten, als mein Handy leise brummte – eine Benachrichtigung. Nicht von meinem Kind, wie erwartet, sondern ein Newsticker. Mein kurzfristiges Augenrollen, weil ich die Benachrichtigungen eigentlich abstellen wollte, verwandelte sich beim Lesen der Überschrift in großes Erstaunen und das Gefühl eines Schlags in die Magengrube:

„1.100.000 Menschen in Österreich von Ernährungsarmut betroffen, 420.000 davon sogar von schwerer Ernährungsarmut.“

Ich las die Überschrift noch einmal und dann ein drittes Mal. Ich konnte und wollte nicht glauben, dass dies tatsächlich in einem reichen Land wie Österreich im Jahr 2024 der Fall sein könnte. 1,1 Millionen Menschen - das sind fast 70 % aller Armuts- und Ausgrenzungsgefährdeten (1,5 Mio), also fast jeder achte Mensch in Österreich.

In einem ersten, bitteren Moment erinnerte ich mich an die Zeit, als ich selbst armutsbetroffen war und wir durch ständige Teuerungen und niedriges Krankengeld auch von Ernährungsarmut betroffen waren. Zu jener Zeit versuchte ich alles, damit zumindest die Kinder so wenig wie möglich davon mitbekamen. „Mama, hast du keinen Hunger?“ „Warum hast du schon wieder beim Kochen gegessen, statt mit uns gemeinsam zu essen?“ oder „Du kannst nicht schon wieder Backerbsensuppe essen – kein normaler Mensch isst jeden Tag Backerbsensuppe“, waren einige der Sätze, die fielen, bis sie verstanden und meinten, sie hätten auch keinen Hunger, wenn ich nicht mit ihnen esse. Zum Glück lieben sie Nudeln – in fast allen Varianten. Aber Nudeln sind kein gesundes, ausgewogenes Essen, wie wir alle wissen. Die Preise für Gemüse und Obst sind als Armutsbetroffene einfach nicht leistbar - vor allem im Vergleich zu Billigfleisch oder Fertigprodukten. Forderungen mancher AktivistInnen zu gesunder und lokaler Ernährung gehen weit an den Lebensrealitäten von armutsbetroffenen Menschen vorbei, triggern noch dazu die Selbstvorwürfe, weil man gezwungen wird, den eigenen moralischen Kompass aufzugeben, um zu überleben (mehr dazu habe ich hier (Opens in a new window) geschrieben).

“die Politik, die lieber Arme bekämpft, statt Armut”

Ich erinnerte mich als sofort zurück an die Zeit von Armut, Hunger und Scham - doch dann kam die Wut. Die Wut auf uns als Gesellschaft und diese Regierung, generell die Politik, die lieber Arme bekämpft, statt Armut. Eine Politik und Gesellschaft, die nach unten tritt, statt solidarisch zusammenzuhalten. Wo immer noch das Framing von „faul, unwillig, selbst schuld, niemand muss hungern“ bedient und geschürt wird, statt zu handeln. Armut ist ein strukturelles Problem und vieles daran Fremdbestimmung. Das ist den Verantwortlichen lange und detailreich bekannt. Nicht veränderbar durch Betroffene, die nur einige Dinge selbst in der Hand haben. Es ist auch bekannt, dass die Hauptbetroffenen von Ernährungsarmut Alleinerziehende, chronisch Kranke, Kinder und Jugendliche, Arbeitslose, Frauen, die Care-Arbeit leisten, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sind.

Eine unfassbare Wut auf eine Gesellschaft und Politik, wo es nicht am Geld, sondern am Wollen scheitert. Denn es ist längst bekannt, dass die Folgen der Armut insgesamt weit mehr kosten, als das nötige Geld in die Hand zu nehmen, um Armut zu bekämpfen. Wir sprechen hier von Langzeitfolgen, die sich unter Anderem auch auf Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt auswirken. Schon 2022 hat das Momentum Magazin darüber berichtet, dass es den Staat nur etwa 1 % des BIP kosten würde, die Armutsgefährdungslücke (siehe unten) zu schließen. Das wären 2024 ungefähr 5 Milliarden Euro. Demgegenüber stehen jedoch die Kosten, die Armut jährlich verursacht. Allein die Kinderarmut und ihre Folgen kosten den Staat jährlich 17,2 Milliarden Euro – das entspricht 3,6 % des BIP.

Armutsgefährdungslücke schließen → 1% des BIP
Folgekosten von Kinderarmut → 3,6% des BIP

Dann musste ich an die Gespräche der letzten Zeit in meinem Umfeld denken. Menschen aus der Mittelschicht ohne Kinder im Haushalt, die über den hohen Preisen verzweifelten. Die Regierung hat die Teuerung “durchlaufen” lassen, Hilfen nach Gießkannenprinzip ausgeschüttet, nicht auf ExpertInnen gehört. Und nun ist die Teuerung in der Mittelschicht angekommen. Menschen, die bisher nie Sorgen um ausgewogene Ernährung haben mussten, können sich diese immer schwerer leisten, überlegen sich ihre Ausgaben gut.

Ich las also bereits wütend den Artikel weiter und stolperte über das Wort „Jüngere“, statt „Kinder und Jugendliche“, wie es richtig heißen müsste und meine Wut kochte noch weiter hoch. Man kann davon ausgehen, dass Menschen aufschreien – zumindest kurzfristig – und Veränderung verlangen würden, wenn dort „Kinder und Jugendliche“ zu lesen wäre. Also wird versucht, mit „Jüngere“ das Bild zu verzerren. Immerhin kann „Jüngere“ viel bedeuten, besonders, wenn zugleich behauptet wird, die Jungen seien alle arbeitsscheu und wollten nur feiern.

Falsche Framings statt Armutsbekämpfung

Wer von Armut betroffen ist, vor allem von Ernährungsarmut, denkt nicht ans Feiern. Ausgehen mit Freunden oder Familie ist schon lange gestrichen, ebenso wie Essen gehen. Oft ist es nicht einmal leistbar, andere Menschen, die einem nahe stehen, zum Essen einzuladen. Wo Schulfreunde des Kindes länger bleiben, zum Abendessen einzukalkulieren, bedeutet, dass Eltern selbst nichts essen. In der Regel bleibt es ohnehin bei oft nur einer Mahlzeit am Tag, wenn diese überhaupt leistbar ist. Diese Menschen müssen überlegen, ob sie ihre Rechnungen bezahlen (Miete, Strom, Heizung) können, wenn sie Obst, Gemüse und gesundes Essen kaufen oder manchmal generell Essen. Sie müssen überlegen, ob sie es sich leisten können, die benötigten Medikamente zu kaufen, wenn sie krank sind, weil das Geld dann für Lebensmittel nicht ausreicht.

Österreich 2024 - wo das Framing der individuellen Schuld weiterhin die Folgekosten von Armut hochtreibt, statt sie zu bekämpfen.

Österreich 2024 - eines der zehn reichsten Länder der Welt, genau genommen auf Platz neun der Liste der wohlhabendsten Länder (Stand 2023).

Österreich 2024 - wo all das nicht Realität sein sollte , nicht sein müsste…

Armutsgefährdungslücke
= Differenz zwischen dem Medianeinkommen armutsgefährdeter Haushalte und der Armutsgefährdungsschwelle.
2023 lag die Armutsgefährdungslücke bei 20,5%. Demnach waren die Medianeinkommen armutsgefährdeter Haushalte 2023 um 20,5% geringer als die Armutsgefährdungsschwelle. 
Bei Einpersonenhaushalten bedeutet das ein Medianeinkommen, das jährlich um 3.864 Euro bzw. monatlich um 322 Euro unter der Armutsgefährdungsschwelle liegt. 
Armutsgefährdungsschwelle für Einpersonenhaushalte 2023 = 1.572 Euro

Quellen:

Studie zur Ernährungsarmut in Österreich: Wissenschaftlicher Bericht (Opens in a new window)

Kurier: Ernährungsarmut in Österreich (Opens in a new window)

ORF Wien: Kindergrundsicherung gefordert (Opens in a new window)

Momentum Institut: Armutsfeste Sozialleistungen (Opens in a new window)

Statista: BIP Prognose (Opens in a new window)

Kurier: OECD Studie - Kosten von Kinderarmut (Opens in a new window)

Strategy & Plan: Die reichsten Länder der Welt 2023 (Opens in a new window)

Statistik Austria: FAQ zum Thema Armut (Opens in a new window)

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