Arbeit, die sich nicht rechnet ?
Über einen Unfall und warum der uns angeblich Wohlstand beschert.
Ulla hat ihr Auto, ein schon relativ altes, aber gut gepflegtes Fahrzeug in einer ruhigen Seitenstraße geparkt, wie schon hunderte Male zuvor. Alles sehr übersichtlich. Trotzdem war jemand so unvorsichtig, gestresst…, was auch immer, und hat es gerammt. Hinten links, die Stoßstange ist verbogen, auch die Seitenwand eingedellt. Nichts Großes, aber deutlich sichtbar und zum Glück keine Fahrerflucht. Die Polizei wurde gerufen, der Unfall aufgenommen und die Schuldfrage auch gleich eindeutig geklärt - alles okay soweit.
Foto von Chris Andrawes (Opens in a new window) auf Unsplash (Opens in a new window)
Parallelität der Ereignisse
Ulla parkt immer in dieser Seitenstraße, wenn sie nach ihrem Vater schaut, der braucht immer öfter Hilfe. Am Tag des Unfalls ist er gestolpert und hingefallen - auf derselben Straße, auf der auch das Auto eins abgekommen hat. Auch hier nichts Großes und zum Glück kein Oberschenkelhalsbruch. Aber trotzdem schlimm genug, sodass Ulla in den kommenden Wochen noch öfter wird hinfahren müssen: Einkaufen, Kochen, Putzen, Haarewaschen… das bisschen Haushalt eben. Macht ja sonst niemand. Der Pflegedienst in der Nähe ist überlastet, und schon gar nicht kurzfristig zu bekommen.
Aber Ullas Vorgesetzte zeigen Verständnis, sodass Ulla ihre Erwerbsarbeitszeit reduzieren kann, um sich zu kümmern. Erstmal nur für ein paar Wochen, wird schon wieder werden, Kopf hoch!
(Bloß in der nächsten Fortbildungs- oder Beförderungs- oder Gehaltserhöhungs- oder sonstwas für eine Runde, bei der’s um Geld geht, bleibt Ulla außen vor. Offensichtlich hat sie ja ganz andere Prioritäten, die nichts mit der Firma zu tun haben.)
Rechenaufgabe
Aus wirtschaftlicher Sicht ist das ein klarer Fall: Der Schaden am Auto beläuft sich auf gut 6.000,- Euro, ein sogenannter “wirtschaftlicher Totalschaden”, weil das Auto nur noch einen Zeitwert von gut 5.000,- Euro hatte. Es wird ein Gutachten erstellt, der Sachverständige erhält dafür ein Honorar von knapp 1.000,- Euro netto. (Die Höhe des Honorares ist abhängig von der Schadenshöhe.) Außerdem hat Ulla ein Anrecht auf anwaltliche Unterstützung. Die Kosten dafür trägt die Versicherung des Unfallverursachers, weil die Schuldfrage bereits eindeutig und polizeilich geklärt ist. Außerdem hat Ulla in ihrer aktuellen Situation weder Zeit noch Nerven, sich auch noch um die Schadensabwicklung zu kümmern. Das Honorar des Anwalts beträgt 800 Euro netto.
Exkurs: Das Bruttoinlandsprodukt
Das Bruttoinlandsprodukt gilt als sogenannter “Wohlstandsindikator”.
Das BIP zeigt an, wie viel in einem Land in einem bestimmten Zeitraum wirtschaftlich geleistet wurde. […] Die Veränderungsrate des preisbereinigten BIP [drückt] die wirtschaftliche Entwicklung aus und wird auch als Wirtschaftswachstum bezeichnet. Das BIP ist damit die wichtigste Größe der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (Opens in a new window).”
Quelle: Statistisches Bundesamt (Opens in a new window)
In anderen Worten
Dieser kleine, wirklich nur ästhetische Bagatellschaden, der die Fahrtüchtigkeit des Autos in keiner Weise beeinträchtigt, hat das Bruttoinlandsprodukt um schnell gerechnete 7.500 Euro erhöht. (Da sind die Sachbearbeitung seitens der Versicherung, Gegengutachten, die erhöhte Versicherungsprämie des Unfallverursachers etc. noch gar nicht mitbedacht.) Unser aller Wohlstand ist also, hurra, gewachsen. Merke: Sieht das Auto gut aus, sollten wir zufrieden sein.
Ulla ist unsichtbar
Die Arbeit aller, die an der Schadensbehebung von Ullas Auto Geld verdient haben, hat das Bruttoinlandsprodukt also erhöht. Wirtschaftswachstum.
Die Arbeit von Ulla, die seit dem Unfall ihren Vater pflegt und damit kein Geld verdient, hatte keine Auswirkungen auf das BIP. Wirtschaftsstillstand. Mehr noch: Rückgang! Denn weil Ulla gleichzeitig ihre Erwerbsarbeitszeit reduziert, also weniger Geld verdient, schadet sie in doppelter Weise dem Bruttoinlandsprodukt, also unserem gesellschaftlichen Wohlstand. Shame on you, Ulla!
Obendrein schadet sie sich selbst, weil sie in dieser Zeit weniger in die Rentenkasse einzahlt und damit zu den Frauen gehört, die ein höheres Risiko haben, in Altersarmut leben zu müssen.
Und wer hat dem Anwalt das Hemd gebügelt?
Das Bruttoinlandsprodukt misst also alles Mögliche, aber jedenfalls nicht das, was das gesellschaftliche Miteinander ausmacht, all das, wovon wir als Einzelne und als Gesellschaft abhängen, nämlich Fürsorge und Anteilnahme. Und das BIP misst vor allem nicht das, was Wirtschaft und Wachstum erst möglich macht! Denn es gibt keinerlei Berechnungen, die den finanziellen, emotionalen und gesellschaftlichen Wert von Care-Arbeit erheben würden, wie der Gutachter überhaupt zum Gutachter werden konnte.
Am Anfang seines Lebens war er, wie wir alle, darauf angewiesen, dass sich seine Mutter, im besten Fall seine Eltern, dann das größere familiäre Umfeld und später Erzieher*innen, Tageseltern, Lehrkräfte um ihn kümmern. Und auch heute noch: woher kam sein Frühstück? Und wer hat wohl das Hemd des Anwalts gebügelt? Auch die Care-Arbeit, die im Vorfeld nötig war, damit ein Gegengutachten geschrieben, die Reparaturen ausgeführt werden konnten. Und damit die Versicherung auf Fachleute zurückgreifen konnte. Woher kommen bloß all diese motivierten, höflichen, teamfähigen, selbstorganisierten Menschen, die in Stellenanzeigen gesucht werden, auf dass sie dann zum Wachstum des Unternehmens und unser aller BIP beitragen? Da wird die Rechnung ganz offensichtlich ohne die Wirtin gemacht.
»Die Umwandlung der Frauen in eine auf unsichtbare Weise dienende Klasse war eine ökonomische Leistung ersten Ranges. Dienstboten für gesellschaftlich unterbewertete Arbeiten standen einst nur einer Minderheit der vorindustriellen Bevölkerung zur Verfügung: Die dienstbare Hausfrau steht jedoch heute auf ganz demokratische Weise fast der gesamten männlichen Bevölkerung zur Verfügung«
John Kenneth Galbraith, 1973
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