Si vis pacem para bellum? - Chance und Dilemma des Pazifismus
Kann pazifistische Politik gegen kriegstreibende Despoten wirken?
Zugegeben, ich bin Pazifist.
Mein Vater musste mit 17 Jahren in Hitlers Krieg ziehen. Ein Bauernjunge aus der idyllischen Fränkischen Schweiz, für das Vaterland im Einsatz in fremden Ländern, Belgien, Luxemburg, Frankreich. Er hatte keinen Gewinn, keinen Nutzen, nur die Aussicht, dass sein junges Leben ausgelöscht werden würde. Er hatte noch zwei Brüder, der mittlere soll bei Charkiw von einer Granate getroffen worden sein und ist dort verstorben. Der älteste Bruder kam aus französicher Gefangenschaft, gezeichnet von Zwangsarbeit im Bergbau, einige Jahre nach dem Kriegsende nach Hause.
Mein Vater war kein überzeugter Pazifist, kein Ostermarschierer oder Kriegsdienstgegener, aber er hasste seitdem den Krieg. Das Soldatentum hatte ihn seiner Jugend beraubt und verstörende Bilder in seiner Seele eingebrannt - von Kameraden, mehr Kinder als Erwachsene, zerfetzt, verblutend, wimmernd, schreiend.
Die Überzeugung meines Vaters kann kurz und knapp in der nachfolgenden Textzeile aus "Nein, meine Söhne geb´ich nicht" des Liedermachers Reinhard Mey zusammengefasst werden:
"Keine Ziele und keine Ehre, keine Pflicht
Sind's wert, dafür zu töten und zu sterben"
Gerade jetzt in dieser Zeit, in der sich von rechts bis links, quer durch fast alle Parteien, Religionsgemeinschaften, gesellschaftliche Schichten die Überzeugung breit macht, man müsse für die Verteidigung der Freiheit kämpfen, was in diesem Zusammenhang heißt, man müsse bereit sein, für die Freiheit in den Krieg ziehen (und für sie sterben).
Nochmals zitiere ich Reinhard Mey:
"Keine Ziele und keine Ehre, keine Pflicht
Sind's wert, dafür zu töten und zu sterben"
Aber als Pazifist*in hat mensch heute einen schweren Stand in der öffentlichen Diskussion.
Denn es bedeutet zuvorderst in der aktuellen Debatte, sich allerorten gegen Vorwürfe zu erwehren, man sei naiv, habe nicht begriffen, wer der Aggressor sei, und schlimmstenfalls, man sei ein unverbesserlicher, gar böswilliger "Putin-Versteher". Man verharmlose und leugne die Gräueltaten der russischen Invasoren, spreche den Ukrainer*innen das Recht ab, in Selbstbestimmung in Freiheit zu leben und dieses Recht im Kampfe zu verteidigen.
Aber hatten die männlichen Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren eine Wahl, ob sie für die Freiheit kämpfen und sogar sterben oder vielleicht doch irgendwie in Unfreiheit, aber lebend unter Putins Joch irgendwie mehr oder weniger gut zu vegetieren?
Ich bin 56 Jahre alt, und die Vorstellung, mir würde jetzt befohlen, für die Verteidigung Deutschlands in den Krieg zu ziehen, erschreckt mich. Ganz einfach: ich hänge an diesem meinem, global betrachtet, absolut unbedeutenden, aber für mich und ein paar mir nahestehende Menschen ganz wichtigen Leben. Und ja, ich will kein Held sein, ich will lieber als Feigling einfach nur überleben. Es geht mir nicht in den Kopf, dass es nicht noch Abermillionen Menschen geben soll, die genauso ticken wie ich. Meine Solidarität gilt den ukrainischen und russischen Soldaten, die Angst um ihr Leben haben und lieber heute als morgen desertieren würden, wenn sie nur wüssten, wo sie einen sicheren Ort finden. Meine Sympathie gilt den einfachen ukrainischen und russischen Menschen, den Beherrschten, den Untertanen, die als Kanonenfutter angesehen werden, nicht einer diabolischen Kreatur wie Wladimir Putin und seinen Schergen, nicht den russischen und nicht den ukrainischen Oligarchen, die trotz aller Sanktionen auch aus diesem Krieg heil herauskommen werden, nicht einmal Wolodimir Selenskij, der verfügt, dass 18- bis 60-jährige Männer das Land nicht verlassen dürfen, sondern mit der Waffe in der Hand kämpfen müssen.
Ist mensch damit schon ein "Putin-Versteher" ? Ist er als solcher gebrandmarkt, bedarf es dann keines weiteren Dialogs mehr, keiner weiteren argumentativen Auseinandersetzung?
Der reale Krieg in der Ukraine hat schon jetzt eine Art virtuellen "Bürgerkrieg" in fast jedem westlichen Land ausgelöst. Es gibt keine vermittelnde Position mehr - wer Zweifel an den Waffenlieferungen an die Ukraine hegt, wer Bedenken gegen das 100 Mrd.-Sonderbudget für den Wehretat äußert, wer immer noch wagt, für Gespräche mit dem jetzigen russischen Regime einzutreten, weil er einen Putsch gegen Putin in Russland für unrealistisch hält, der wird der anderen, der feindlichen Seite zugeordnet.
Eine echte Friedensbewegung, die sich - wie in den 1980er Jahren - kritisch mit der Aufrüstung und Kriegsrhetorik der USA-geführten NATO wie der Putinschen Großrussland-Chauvinsten auseinandersetzt, die sich wie damals gegen Pershings und Cruise Missiles hier und gegen SS-20 dort wehrt, existiert heute nicht. Nein, was heute als "Stand with Ukraine" und "Stop the War"-Bannern auf den Straßen zu sehen ist, ist eine überwiegend ähnlich staatstreue, regierungskonforme Veranstaltung wie die "Friedenskundgebungen" des ehemaligen Friedensrates der DDR, der damals alles guthieß, was die eigene kommunistische Regierung verlautbarte und zum Beispiel zu den sowjetischen Verbrechen in Afghanistan geschwiegen hatte. Die heutigen Demonstrationen tragen das Potenzial in sich, ganz schnell von Antikriegs-Slogans in Forderungen zu einem Kampfeinsatz auf Seiten der überfallenen Ukraine zur Verteidigung derer und unserer Freiheit umzuschlagen.
Die klassischen pazifistischen Organisationen wie "Pax Christi" oder "Deutsche Friedensgesellschaft DFG/VK" marschieren zwar ebenfalls bei diesen Demos mit, um - wie in den 1980er Jahren - auf die Gefahr der verbalen Aufrüstung und der darauf fast gesetzmäßig folgenden tatsächlichen Militarisierung der Gesellschaft warnend hinzuweisen, aber sie werden in den Medien kaum wahrgenommen, meist sogar absichtlich überhört.
Kritische Stimmen wie die etlicher Politiker*innen der Partei "Die Linke", die heute das von vielen Grünen scheinbar aufgegebene pazifistische Erbe angetreten hat, namentlich Sahra Wagenknecht oder Sevim Dagdelen, werden als "Putin-Versteher" abgekanzelt, ähnlich auch der Publizist Jürgen Todenhöfer.
https://www.sevimdagdelen.de/17965-2/ (Opens in a new window) https://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/3160.waffenlieferungen-verl%C3%A4ngern-den-krieg.html (Opens in a new window)Immerhin gibt es auch beim bei seiner Entstehung noch eindeutig kompromisslos pazifistischen "Bündnis 90 / Die Grünen" noch Friedensbewegte, die den Kurs der eigenen Parteimehrheit nicht mittragen:
https://www.gruene-linke.de/2022/03/19/sagen-wir-es-offen-ein-atomkrieg-droht/ (Opens in a new window)Soll die Logik der Eskalation und des atomaren Erstschlags bzw. der nuklearen Zweitschlag-Fähigkeit glaubhaft bleiben, muss der Westen, muss die NATO die Doktrin der "Mutual Assured Destruction" (MAD) lebendig halten.
Die Argumente der pazifistischen Minderheit in unserem Land gegen diese Eskalations-Logik sind nachvollziehbar.
Dennoch - die friedensorientierten Politiker*innen liefern unfreiwillig ihren Gegnern Material für deren verbale Attacken, denn nach der eindeutigen Verurteilung Putins für seinen völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine (was gerne komplett von diesen Gegnern ignoriert wird) fordern Wagenknecht, Dagdelen, Todenhöfer et. al. den Rückzug Russlands aus der Ukraine, den Verzicht der NATO auf Wiederaufrüstung, die Einstellung der offenen und klandestinen Miltärhilfe für die Regierung Selenskij und die Aufnahme von Verhandlungen mit Russland.
Hier beißen sich die Gegner der Pazifist*innen fest: mit Putin sei kein Verhandeln, kein vernünftiger Austausch mehr möglich. Seine Verlogenheit biete keine Grundlage für Gespräche. Für diese Argumentation spricht immerhin, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Putin sich auf Verhandlungen über einen Waffenstillstand und gar einen Friedensschluss mit der Ukraine einließe, sehr gering ist und wohl erst Realität werden würde, wenn Putin sich die Ukraine unterworfen hat.
Soll eine freie Ukraine - möglicherweise ohne den überwiegend russischsprachigen Streifen im Osten des Landes - gerettet werden, muss Russlands miltärischer Vormarsch nach militärischer Logik aufgehalten werden. Das geht nicht ohne die Stärkung der Verteidigungskraft der Ukrainer, oder hart formuliert: um in einem laufenden Krieg die russische Gegenseite zum Frieden zu zwingen, muss der Krieg gegen sie eskaliert werden. Hier zeigt sich das ganze Dilemma der pazifistischen Strategie. Was tun gegen einen aggressiven Despoten wie Putin, der militärische Unterlegenheit als Einladung zum kriegerischen Angriff versteht?
Christine Schweizer, Geschäftsführerin vom "Bund für soziale Verteidigung", empfiehlt nicht-kriegerische Strategien des Widerstandes, der Verweigerung (z.B. nicht zur Wahl gehen, wenn ein von Putin eingesetztes Regime in der Ukraine sich per Plebiszit scheinlegitimieren will), Sabotage, Generalstreik, Demonstrationen oder auch extrem bürokratischer, phlegmatischer "Dienst nach Vorschrift", der die Anweisungen der Herrschenden faktisch unterläuft. Historische Beispiele in der Geschichte gibt es durchaus: die Streiks der Arbeitenden gegen den rechtsextremen Kapp-Putsch während der Weimarer Republik, die Blockade eines nationalsozialistischen Unterrichtsplans durch die Lehrer in Norwegen während der Besetzung durch die Nazis, die Befreiung Sambias von britischer Kolonialherrschaft 1961-63, zumindest kurzzeitig 1980-82 die Aktionen der freien Gewerkschaft "Solidarnosc" in Polen, der Sturz des Marcos-Regimes auf den Philippinen 1986 oder die friedliche Revolution in der DDR und in Osteuropa 1989.
"Gewaltfreiheit oder Pazifismus sind richtig verstanden ein dritter Weg zwischen Gewalt und Nichtstun", so Christine Schweizer im Gespräch mit dem "Neuen Deutschland" (ND vom 25.03.2022, Ines Wallrodt: "Mit anderen Waffen"). Aber Frau Schweizer muss auch eingestehen: "Das Konzept hat Grenzen" (ND ebda.).
Denn die Umsetzung der nicht-miltärischen "Sozialen Verteidigung", so wie sie Pazifist*innen wie ich einem kriegerischen Einsatz vorziehen, funktioniert dann, wenn der Aggressor entweder in einem Zustand der Schwäche und Verunsicherung agiert (wie das SED-Politbüro 1989, das nicht wusste, ob es Miltär gegen die Demonstranten einsetzen sollte oder nicht; schließlich war man sich der Unterstützung des großen Bruders Sowjetunion unter seinem reformerischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow zu Recht nicht gewiss) oder er vorläufig von einer Strafaktion wegen wichtigerer anderer Herausforderungen absieht (die Nazis hätten ihr rassistisches Curriculum nach einem gewonnenen Weltkrieg brutal in Norwegen durchgesetzt).
Wenn der Aggressor aber von keinerlei Skrupeln oder äußeren Zwängen gehemmt wird, schlägt er brutal gegen die Widerständler zu. Beispiele gibt es zuhauf: die Unterdrückung des Aufruhrs vom 17. Juni 1953 in der DDR, die brutale Niederschlagung der Freiheitsbestrebungen in Ungarn 1956 oder in Dubceks CSSR 1968, auf dem Tiananmen-Platz (Platz des Himmlischen Friedens) in Peking 1989 oder die Einsätze von Putins Sondermiliz OMON gegen friedfertige Demonstranten wie aktuell 2022.
Die Bilder von wütenden, verzweifelten Menschen, die sich den Panzern der Invasoren entgegenstellen, kennt man aus der brutalen Niederschlagung des "Prager Frühlings" 1968 in der CSSR oder aus dem berühmten Foto vom "Tank Man", einer unbekannten Person, die sich in Peking den auffahrenden Panzern erfolglos entgegenstellte. Die enthemmte Unterdrückung der Tibeter oder Uiguren durch das kommunistische Regime in der VR China, das heute am ehesten dem Orwellschen Big Brother-Albtraum in seinem Roman "1984" entspricht, ergänzt diese leider nicht abschließende Auflistung.
https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Aufstand-des-17-Juni-In-der-DDR-rollen-Panzer-gegen-Parolen,volksaufstand105.html (Opens in a new window) https://www.geo.de/magazine/geo-epoche/19465-rtkl-21-august-1968-ende-des-prager-fruehlings-als-moskau-seine-panzer (Opens in a new window) https://www.tagesschau.de/faktenfinder/china-tank-man-101.html (Opens in a new window)Ein niederschmetterndes Fazit für Pazifist*innen. Ist der Krieg erst entfesselt, steht der Pazifismus auf beinahe verlorenem Posten. Pazifist*innen stehen bildlich gesprochen in der Mitte zwischen den feindlichen Schützengräben, wütend beschossen von beiden Seiten. So abgrundtief sich Kriegsparteien hassen, vereint bekämpfen sie die Pazifist*innen in ihrem jeweiligen Land. Darin waren sie sich schon immer in der Geschichte einig!
Pazifistische Politik muss in Zeiten des Friedens oder des Nicht-Krieges wirken, und sie kann leider oft erst wieder aufleben, wenn nach einem wahnwitzigen Blutvergießen ein tobender Krieg zu einem Patt, zu einem Stellungskrieg, zu einer Material- und Menschenschlacht wird, der auch dem enthemmtesten Despoten keinen Gebiets- oder Machtgewinn mehr in Aussicht stellt, aber zunehmend die Unterstützung der Eliten und der breiten Bevölkerung im eigenen Land raubt.
Die Friedensbewegung wird vermutlich keine Alternative mehr finden zu den Waffenlieferungen an die Ukraine und zur indirekten weiteren Befeuerung des Krieges, aber sie hat noch die Möglichkeit, die Militarisierung und Kriegsmobilisierung unseres Landes zu verhindern. Das Massaker von Butscha könnte als "neues Srebrenica" die Blaupause für eine noch tiefere Verstrickung der NATO in den Ukrainekrieg liefern. Bei allem berechtigten Entsetzen über die Gräueltaten von Putins Armee ist aber angesichts der drohenden Eskalation mehr denn je ein kühler Kopf gefordert.
Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Vizekanzler und Wirtschaftsminister, sagt es deutlich, dass Deutschland längst "Wirtschaftskriegspartei" sei. Militärisch will er aber (noch ?) nicht Kriegspartei werden.
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/habeck-gas-notfallplan-ukraine-krieg-russland-100.html (Opens in a new window)Wie lange wird die deutsche Regierung noch dieses Primat der Politik über das Miltär aufrechterhalten können und der Verlockung zu direkten kriegerischen Handlungen widerstehen?
Nie waren Pazifismus und Antimilitarismus daher lebenswichtiger als jetzt in diesem Zeitpunkt.
https://www.deutschlandfunk.de/friedensdemo-1981-in-bonn-300-000-gegen-den-nato-100.html (Opens in a new window)So wie 1981 an die 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten und über eine Million in der ganzen Bundesrepublik - Aufstehen gegen Rüstung und Krieg war in der Vergangenheit möglich, und sie ist es auch heute.
Gegen die militaristische Zeitenwende!
Wer pazifistische Organisationen unterstützen will, dem empfehle ich als kleinen Auszug die folgenden Bewegungen und Parteien:
https://dfg-vk.de/ (Opens in a new window) https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/das-internationale-friedensbuero-ipb (Opens in a new window) https://www.paxchristi.de/ (Opens in a new window) https://www.die-linke.de/start/ (Opens in a new window) https://www.gruene-linke.de/ (Opens in a new window) https://www.verdi.de/ (Opens in a new window) https://www.asf-ev.de/de/de/ (Opens in a new window) https://www.dmfk.de/ (Opens in a new window)