IN DEN GERIATRISCHEN STAATEN VON AMERIKA
SACHBUCH-KRITIK
Zehn Jahre. Heute hat Joe Biden seinen Sohn Beau um exakt zehn Jahre überlebt. Am 30. Mai 2015 starb Beau Biden, der so etwas wie der Stammhalter der Familie sein sollte, vermutlich der, der einmal ins Weiße Haus einzieht. Und für den damaligen US-Vizepräsidenten war der Tod Beaus nachvollziehbarerweise das wohl einschneidenste Ereignis in seinem späten Leben.

Nun sind Fragen des Alters irgendwann nicht mehr so relevant. Margot Friedländer starb erst vor wenigen Wochen mit 103 Jahren und war bis zum Schluss noch einigermaßen rüstig. Bei Biden jedoch war sein Alter immer wieder Thema. Der heute erneut amtierende Präsident Donald Trump nutzte Bidens Alter in den Wahlkämpfen fortwährend gegen ihn, obwohl Trump selbst gerade einmal etwas mehr als anderthalb Jahre jünger ist.
Eigentlich ging es aber um Bidens körperliche und geistige Verfassung – das Alter war eher der Kristallisationspunkt. 2020 wurde er dennoch zum US-Präsidenten gewählt und wollte 2024 noch einmal antreten. Mit dann 82 Jahren. Ausgang bekannt. Und ja, wer seine Augen aufmachte, konnte nicht übersehen, dass die körperliche und geistige Verfassung Bidens wohl nicht der eines Präsidenten der Vereinigten Staaten angemessen war.
https://steadyhq.com/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/bfeb193f-69bd-49c5-a656-784de728381e (Opens in a new window)Dieser Thematik widmen sich nun die beiden renommierten US-Hauptstadtjournalisten Jake Tapper und Alex Thompson, die in Hybris – Verfall, Vertuschung und Joe Bidens verhängnisvolle Entscheidung nachzeichnen, wie es zu Bidens erneuter Kandidatur kam, wieso sein Umfeld diese zuließ und was dies für den Mann und das Land bedeutete. Hierzulande ist es zeitgleich mit dem US-Release am 20. Mai 2025 erschienen, wofür die Übersetzer*innen Henning Dedekind, Christina Hackenberg, Ursula Held, Hans-Peter Remmler Karin Schuler und Violetta Topalova vermutlich Überstunden schieben mussten. Da sag noch einmal jemand, dass die Deutschen wieder „mehr Lust auf Arbeit“ bräuchten, oder, Herr Bundeskanzler Merz?
Zurück zum Buch: Der Inhalt ist relativ schnell zusammengefasst: Tapper und Thompson haben im Washingtoner Regierungsviertel und darüber hinaus mit zahlreichen Personen gepsrochen, die mehr oder weniger mit dem damals noch amtierenden Präsidenten Joe Biden zu tun hatten. Darunter sind viele namhafte Leute, aber auch manche, die zumindest der deutschen Öffentlichkeit nicht ganz so bekannt sind.
https://steadyhq.com/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/fdbade36-f7d9-4184-8e54-5268361b022a (Opens in a new window)Und – wenig überraschend – gab es einen engen Zirkel um Biden, seine Frau, seinen Stabschef und ein paar weitere Berater – das „Politbüro“, wie es wenig scherzhaft genannt wurde – die die traurige Wahrheit, dass der Mann einfach zu unfit für diesen Job war, eben nicht wahrhaben wollten. Die meisten anderen wurden rigoros vor ihm abgeschirmt, verließen sich auf die Beschönigungen des Politbüros – deren Verschleierungsmethoden extrem gut durchdacht waren – und niemand stand auf, um zu sagen, was wirklich war, auch dem Adressaten Joe Biden nicht.
Gekonnt und eindrücklich schildern Tapper und Thompson, wie der Verfall des Joe Biden voranschritt, welche Patzer wie überdeckt und wie vor der Realität die Augen verschlossen wurden. Auf fast 400 Seiten schildern sie, wie ein Konstrukt aus Lügen, Vertuschung und Verblendung nach innen wie außen getragen und so ein Neustart für die Demokratische Partei verpasst wurde.
https://steadyhq.com/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/6be8719b-d799-45fb-98eb-a0cc380f0d33 (Opens in a new window)Gründe dafür gab es durchaus – und auch auf diese kommen sie in Hybris zu sprechen. Donald Trump polarisierte nicht nur im Wahlkampf, wir wissen es alle. Und Biden war der einzige, der Trump je bei einer Wahl geschlagen hatte, und somit der natürliche Kandidat, auch wenn dieselbe Natur sichtlich ihren Tribut zollte. Dies und mehr trug am Ende zu diesem großen Kartell des Schweigens bei.
Womit wir bei einer der Schwächen des Buches wären: der Größe oder vielmehr dem Umfang. Die Schilderungen von Tapper und Thompson sind eindrücklich und wertvoll, aber am Ende ist das argumentativ doch ähnlich repetetiv wie das Mantra „Biden geht's gut“. Hybris versucht sich an einer Gegenerzählung, einem permanenten „Biden ist alt und, wie wir auf den letzten Seiten gesehen haben, der Aufgabe offenkundig nicht mehr gewachsen“.
Klar, das ist der ganze Sinn dieses Buches, aber bereits auf Seite 50 ist relativ klar, wie es um Bidens Zustand bestellt war. Ausführliche Schilderungen etwa des Prozesses gegen seinen Sohn Hunter sind interessant, hätten aber deutlich knapper gehalten werden können. Hybris fühlt sich aus der Perspektive ein wenig an wie die Washingtoner Version der Buddenbrooks.
https://steadyhq.com/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/ee59d507-f289-4496-8629-9d95e08291b7 (Opens in a new window)Für Political Animals ist Hybris selbstverständlich dennoch Pflichtlektüre, aber vielleicht liest es sich in einem Jahr noch einmal ganz anders. Zu frisch sind in vielen Köpfen noch Äußerungen Bidens zu Trumps Anhängern als „Müll“ oder dass er stolz sei, „die erste Schwarze US-Vizepräsidentin“ zu sein.
Was bislang leider ausbleibt – sowohl in den USA als auch hierzulande – ist eine vernehmbare Debatte, wann jemand zu alt für eine verantwortungsvolle Aufgabe ist. Oft heißt es gegenüber jungen Menschen, dass sie „zu jung“ für einen Posten seien. In der Tat ist Erfahrung etwas, das Menschen, die „länger dabei“ sind, ihren jüngeren Kolleg*innen voraus haben. Aber an vielen Stellen sind eben auch weniger Dynamik, das Eingefahrensein in vorhandenen Denk- und Handlungsmustern oder ein gewisses Maß an Selbstgerechtigkeit ersichtlich. Dass die AfD ihren Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland, der gewiss seine „Erfolge“ beim unsererseits wenig begrüßenswerten Aufbau der Partei hat, mittlerweile scheinbar versteckt, spricht Bände.
https://steadyhq.com/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/0829005f-cd90-44dc-b147-c52f4d1521bf (Opens in a new window)Wichtig wäre es daher an vielen Stellen, über die persönliche Eignung und Qualifikation für die Aufgabe zu sprechen und dabei ehrlich zu sein. Zu seinem Umfeld, einer Wähler*innenschaft, vor allem zu sich selbst. Und im Zweifelsfall auch zu sagen: Nein, ich überlasse diese Aufgabe jemand Jüngerem/Erfahrenerem. Hybris entsteht aus mangelnder Selbsteinschätzung und der zu begegnen sollte persönliches Ziel einer*s jeden sein, der oder die Verantwortung übernehmen will.
Solche Gedanken und Abwägungen – und das ist schade – fehlen in Hybris, aber das war vermutlich auch nicht der Anspruch von Jake Tapper und Alex Thompson. Sie haben am Beispiel von Joe Biden anschaulich dargelegt, was passiert, wenn ein solches System versagt, wenn vertuscht und verheimlicht wird, eine Schweigespirale entsteht und ein ganzes Amt und Land dadurch beschädigt werden. Und dafür ist den beiden Journalisten großer Respekt zu zollen.
HMS
PS: Im Original lautet der Titel des Buches Original Sin. Mit Blick auf den Inhalt, wäre eine genaue Übertragung – also „Ursünde“ – ins Deutsche treffender gewesen, als Hybris.
PPS: Dieser unsäglich hässliche „Spiegel Bestseller“-Sticker! Glückwunsch zum Erfolg, aber bäh! Wir finden es arg unschön, die Cover (auf keines passt der jemals und auf grau schon mal gar nicht) so verwenden zu müssen. Ob nun als Titelbild oder auch für Instagram und Co. Es gibt mittlerweile auch einige Verlage, die die Buchcover ohne den Sticker zum Download anbieten. Sollte die Regel werden.
IN EIGENER SACHE: Da unser reguläres Online-Magazin noch immer nicht wieder am Start ist, veröffentlichen wir vorerst hier. Mehr dazu lest ihr in unserem Instagram-Post (Opens in a new window) oder auf Facebook (Opens in a new window). Außerdem freuen wir uns immer, wenn ihr uns einen Kaffee spendieren wollt (Opens in a new window).

Jake Tapper, Alex Thompson: Hybris. Verfall, Vertuschung und Joe Bidens verhängnisvolle Entscheidung (Opens in a new window); Mai 2025; Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind, Christina Hackenberg, Ursula Held, Hans-Peter Remmler Karin Schuler, Violetta Topalova; 400 Seiten; Paperback, Klappenbroschur; ISBN: 978-3-423-26443-3; dtv; 20,00 €