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Durchgedrehte Aufklärung

Rechts, verschwörungsgläubig und radikal dagegen: Hat die Systemkritik die Seiten gewechselt?

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Die historische Epoche der „Aufklärung“ verfolgte das Programm – ich halte mich hier einfach an die Wikipedia-Definition – „durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden“. Sie ist verbunden mit der französischen Aufklärung und großen Namen (Voltaire, Rousseau), der schottischen Aufklärung (Adam Smith), der deutschen Aufklärung und so weiter. Legendär wurde etwa die Formel von Immanuel Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Kants Eintragungen zum Thema „Was ist Aufklärung“ münden bekanntlich im Imperativ: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Vorurteile, Ideologien, religiöse Dogmen, sie sollten rational überprüft, den Fakten und dem wissenschaftlichen Räsonieren ausgesetzt werden. Aber das emanzipatorische Programm ging letztendlich weit darüber hinaus: An allem soll gezweifelt, nichts vorschnell geglaubt werden; wo sich überkommene Anschauungen mit Macht paaren, solle die Macht radikal in Frage gestellt werden. Das und ein paar Maximen mehr waren zentral für Denken und Mentalität der „Aufklärer“. Revolutionäre wie Marx und kritische Kritiker wie die Adorno oder später Habermas schlossen auf ihre Weise an diese Tradition an oder radikalisierten sie.

Antiaufklärung – mit Jargon der Aufklärung

Heutzutage sind wir mit der verwunderlichen Tatsache konfrontiert, dass sich aufklärerische und antiaufklärerische Impulse und Intuitionen bestens paaren können. Unter dem tugendhaften Motto: „Selberdenken“ werden die wirrsten Ideen popularisiert. So grassieren Verschwörungstheorien, die oft sehr schnell mit autoritären, rechtsextremen Haltungen einher gehen, zugleich aber scheinbar Grundhaltungen der Aufklärung hochzuhalten: dass an allem, was vordergründig als gegeben gilt, zu zweifeln sei. Dass der Macht zu misstrauen ist. Dass es notwendig sei, hinter die Oberfläche der Dinge zu blicken, denn nur dort sei die Wahrheit zu finden. Motto: Hinterfrage alles! Und entdecke, was die Welt tatsächlich bewegt.

Bis zu einem gewissen Grad ist das auch der „Aufklärung der Aufklärung über sich selbst“ zu verdanken, gewissermaßen einer Radikalisierung, oder auch einer Selbstkritik der Aufklärung: Selbstkritik der Aufklärung mündete etwa im Postulat, dass auch die Vernunft nur eine Illusion ist. Auch die Werte der Aufklärung selbst werden heute gelegentlich als ein Set an Weltbildern angesehen – aber wohlgemerkt, als eines unter vielen. Wer könne schon entscheiden, welches davon Erhabener sei, wenn es da draußen keine Instanz für ein solches Urteil gibt? Daraus folgte ein gut begründeter Relativismus, bald wurden auch Fakten oder die Idee der Objektivität fragwürdig, und all das unterstützte die Auffassung, dass das eine und das andere wahr sein kann. Allen Aussagen ist zu misstrauen, auch den wahrhaftigen. Es gibt ja schließlich gar nichts, was unabhängig von der „Sprecherposition“ des Sprechenden „wahr“ ist. Die begründete Skepsis gegenüber Manipulation wiederum kann zur Ansicht eskalieren, dass sowieso alles Manipulation sei und die Wirklichkeit nichts als ein großes Simulacrum.

Irrwitz, der rational tut

Vernunftbegründete Aussagen können mit dem Werkzeugkasten der Ideologiekritik problemlos lächerlich gemacht werden, und wer das tut, ist stets auf der sicheren Seite – Polemik und Sarkasmus braucht keine eigene, feste Grundlage, sie kann sich damit begnügen, allen anderen den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Und mit den Instrumenten der Machtkritik kann man problemlos nachweisen, dass immer irgendwo irgendein Bösewicht die Fäden zieht. So ist man schnell bei Verschwörungstheorien, kann diese aber zugleich mit dem Jargon der Machtkritik umgeben. Kurzum: Was in der Sprache der Systemkritik vorgetragen wird, ist dann selbst Verblendung.

Die verbreitete Freude an der Aufdeckung von Verschwörungen, ist nicht gänzlich neu. Sie war in der Vergangenheit nicht unbedingt mit Radikalisierung verbunden. Eher mit dem Verschrobenen: Man denke an die früher beliebten UFO-Sichtungen, dem Hang zum Parawissenschaftlichen („Bermuda-Dreieck“) oder die regelmäßigen Enthüllungen der Art: „Wer Kennedy wirklich ermordete?“

Psychologie: Die Lust an der Vereindeutigung der Welt

Verschwörungserzählungen, und deren kleine Schwester, das Schwarz-Weiß-Denken, haben zunächst einmal etwas Entlastendes. Sie sind Formen, mit einer komplexen, unübersichtlichen Welt umzugehen. Das Entlastende an Konspirationstheorien sei, „dass es keinen Zufall mehr gibt“, sagt Ulrike Schuster von der Bundesstelle für Sektenfragen. Was immer geschieht, es lässt sich zumindest erklären.

In der realen Welt ist das reale Geschehen eine komplizierte Balance, ein Resultat von tausenden Impulsen, die tausende Akteure setzen, teils interessegeleitet, teils planmäßig, teils ohne jeden Plan, von Macht, zugleich aber auch von Widerstand. Friedrich Engels bemerkte in einer famosen Formulierung über den Geschichtsprozess, dass dessen „Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht“. Man solle sich das wie ein „Kräfteparallelogrammen“ vorstellen, mit einer Fülle von unendlich vielen „Willen“, die aufeinander einwirken, sich behindern, bremsen usw. „Was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat.“

Hat man aber einen solchen klug-gelassenen Blick auf die Wirklichkeit, ist diese von einer verstörenden Unübersichtlichkeit und außerdem fällt es schwer, die Welt in Gut und Böse zu unterscheiden. Stößt einem etwas zu, kann man nicht einmal jemanden die Schuld geben, was das Gefühl von Ohnmacht noch verstärkt. Komplexitätsreduktion erlaubt dagegen, wenigstens das Gefühl der Handlungsfähigkeit wieder herzustellen – man weiß, wo die Schurken sitzen, auf die man zeigen kann. Es gibt dann Täter, Hintermänner, die die Fäden ziehen. Das macht Verschwörungstheorien und die Versimpelung der Welt attraktiv.

Es gibt einen Hang zur Vereindeutigung der Welt oder, umgekehrt, den „Widerwillen, Uneindeutigkeit auszuhalten“, wie das der deutsche Philosoph Thomas Bauer nannte. Der meinte, erstrebenswert wäre „Ambiguitätstoleranz“. Soll heißen: Die meisten Geschehnisse haben mehrere Aspekte, und außerdem wissen wir oft nicht genug für ein klares Urteil. Die Dinge sind uneindeutig, außerdem verändern sie sich dauernd. Damit hat er sicherlich recht, aber die Botschaft wird keinen Verschwörungsgläubigen überzeugen. Im schlimmsten Fall hält er den Herrn Bauer nämlich für einen besonders gefinkelten Protagonisten der großen Verschwörung.

Die Welt als Detektivgeschichte

Phänomenologisch faszinierend ist ebenso, wie Verschwörungserzählungen emanzipatorische Denkmuster und Wissenstechniken gekapert haben. Auf den Jargon der Machtkritik haben wir schon hingewiesen, auf den gesunden Verdacht gegenüber der Macht ebenso. Spannend ist in diesem Zusammenhang auch das Vorgehen jener, die für Konspirationstheorien anfällig sind. Wer so tickt, macht sich auf Entdeckungstour. Recherchiert, stöbert in unterdrückten Nachrichten, sucht nach Youtube-Videos, in denen man die verborgene Wahrheit findet. Er sieht, wie alles zusammenhängt. Er will die Machenschaften aufdecken. Er ist erregt ob seiner Entdeckungen, glaubt, er habe ein Wissen, das andere nicht haben – die „Angepassten“, die „Systemlinge“. Der Konspirationsgläubige glaubt, er sei, im Unterschied zu den meisten anderen, ein „Selberdenker“. Und er steigert sich nicht selten in all das bis ins Groteske hinein. Ein bisschen ist ein „Systemkritiker“ dieses Schlages wie ein Detektiv, der Puzzlesteine zusammenfügt, eine Art Hercule Poirot, insofern ist das Systemkritisieren auch eine äußerst lustvolle, geradezu unterhaltsame Tätigkeit.

Alles staatsbürgerliche Tugenden!

Machtkritik, Zweifel, der Versuch, sich unabhängige Informationen zu holen, der Verdacht gegenüber Manipulation usw. das sind aber nach allgemeiner Auffassung ehrbare Motive und Charaktereigenschaften, ja, mehr als das. Eigentlich sind es staatsbürgerliche und emanzipatorische Tugenden.

Und doch gehen sie so schnell in Fanatismus und Paranoia über. Noch die liebenswerten Formen dieses paranoiden Stils haben, wie wir alle wissen, oft etwas Lachhaftes, man denke nur an die gängigen Beweis- und Indizienketten: V kennt W, der wiederum den X kennt, der an einer Firma beteiligt ist, die einstmals Geschäfte mit einer Firma machte, an der neuerdings auch Y beteiligt ist – so etwas lässt sich nicht nur immerzu beweisen, es gilt dann als frappierende Aufdeckung. Alles ist geklärt! Es fällt wie Schuppen von den Augen: V steckt mit Y unter einer Decke. Selbst dann, wenn V von dem Y noch nie gehört hat, ganz zu schweigen davon, ob sie sich jemals getroffen haben. Oder auch, wenn jeder sieht, dass V und Y völlig unfähig wären, langfristige Pläne zu verfolgen, selbst dann, wenn sie welche hätten.

Systemkritik für Dummies: Wilde Indizienketten

Gerne halten wir jene, die solche Indizienketten aufmachen, für Verrückte, und das nicht ohne Grund. Aber übersehen wir nicht, dass auch scheinbar rationale, linke Gesellschaftskritik gelegentlich in solches Fahrwasser gerät, man denke an die „Doskozil kennt Kern, Kern kennt Fussi, folglich…“-Girlanden, oder an manche Formen der Neoliberalismuskritik. So wird gerne auf die „Entdeckung“ hingewiesen wird, dass sich schon 1947 radikale Wirtschaftsliberale in der Mont Pèlerin Society getroffen und begonnen haben, Fäden zu knüpfen, Fäden zu ziehen – und bis zu Margaret Thatcher, Ronald Reagan, zur Schuldenbremse und zum nächsten Sparpaket kann eine in sich scheinbar schlüssige Geschichte planmäßigen Handelns sinistrer Kräfte erzählt werden. Eine Geschichte, bei der man vielleicht bei den Bilderbergern oder dem World Economic Forum landet. Man hat dann Bilder im Kopf von Leuten, die teuflische Pläne machen. Wenn man freilich mit Politikern zusammen kommt, die schon bei Tagungen der Bilderberger waren, erfährt man dagegen, dass man sie gezwungen hat, hinzufahren („wer bei drei nicht auf den Bäumen ist, muss diese Einladung annehmen“), dass sie dort bei einem Abendessen neben Königinnen mit Skurrilitätshintergrund saßen, dass Henry Kissinger am Bankett-Tisch eingeschlafen ist und dass sie sich furchtbar gelangweilt haben.

Elemente des Anti-Autoritären

Die Verschwörungstheorie operiert mit Elementen des Aufklärerischen, ist psychologisch entlastend, weil in die Undurchsichtigkeit der Welt scheinbare Klarheit gebracht wird, und sie hält scheinbar emanzipatorisches Wissen hoch, sammelt unterdrückte Fakten. In den Kreisen, die darauf abfahren, sind sowohl anti-autoritäre Grundempfindungen vorhanden als auch ein Hang zum Autoritarismus. Caroline Amlinger und Oliver Nachtwey haben in ihrer Studie „Gekränkte Freiheit“ die Sozialfigur solcher „Systemkritiker“ famos beschrieben, das aufbrausend Aggressive, den Hang zur Destruktivität, das Autoritäre gepaart mit dem Widerständigen „Nicht mit mir!“ Das erinnert daran, dass schon in den Studien von Adorno und Co. über den „autoritären Charakter“ die Sozialfiguren „der Rebell“ und „der Spinner“ auftauchten. Seither wird vom Charakter des „konformistischen Rebellen“ gesprochen.

„Nichts ist, wie es scheint“, „alles ist geplant“, „alles ist miteinander verbunden“, das sind für Michael Butter ein paar Grundpostulate der Verschwörungserzählung („Nichts ist, wie es scheint“ – Suhrkamp Verlag).

Technik und Wissenschaft als Ideologie

Frappierend ist dabei, wie kreativ damit auch Standards linksliberaler Systemkritik ge- und missbraucht werden. Dominierten in der frühen Moderne Wissenschaftsfreudigkeit, Technikaffinität und Machbarkeits-Ideen, so wurde die Hochmoderne bald ebenso von Wissenschaftskritik begleitet. Auch die Wissenschaft sei eine Ideologie, außerdem folge sie selbst Interessen. Genauso wie die Technik nicht neutral ist, und sei es bloß, dass kapitalkräftige Kreise bestimmen, woran geforscht, welche Technologie entwickelt wird. Nicht zufällig hieß ein frühes Buch des jungen Jürgen Habermas „Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘“. Auch medizinkritische Werke wie „Bittere Pillen“ wurden eher als emanzipatorische Pharma-Kritik gelesen. Heute gehen diese Standards schnell von der Hand, um ein raunendes Mißtrauen gegen Impfungen, Gesundheitspolitik oder Windräder zu schüren.

Natürlich gibt es Unterschiede zwischen linker Wissenschaftskritik und rechter Wissenschaftskritik, aber heute geht es kreuz und quer. Ich habe mir den Spaß gemacht, Chatgpt zu fragen, was die Unterschiede zwischen linker und rechter Wissenschaftsskritik seien.

Die Antworten der Maschine waren:

„Linke Wissenschaftskritik hinterfragt, wie Wissenschaft von Machtstrukturen, Kapitalinteressen und sozialen Ungleichheiten beeinflusst wird. Sie zielt oft darauf ab, Wissenschaft in den Dienst von sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zu stellen.

Rechte Wissenschaftskritik ist oft skeptisch gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen, die als Bedrohung für Traditionen, nationale Werte oder religiöse Überzeugungen wahrgenommen werden. Sie lehnt oft Bereiche der Wissenschaft ab, die als zu liberal oder ideologisch einseitig gelten, wie z.B. Gender Studies oder Klimaforschung.“

Nun ja, wenn es sich wirklich so fein säuberlich sortieren ließe. Wenn man die Maschine bitten würde, diese Muster nun auf Technikkritik und insbesondere auf sich selbst anzuwenden, wäre wahrscheinlich ein Kurzschluss die Folge.

Wenn „Systemkritik“ die Seiten wechselt

Während in dem großen Traditionsstrang, den wir mit dem Begriff der „Aufklärung“ verbinden, die Kritik an Macht, der Kampf gegen repressive Wissensformen, gegen Ideologie und Dogmen und damit die „Systemkritik“ eher links waren, wird heute häufig behauptet, die radikale Systemkritik habe die Seiten gewechselt.

Gewiss, Linke kritisieren unverändert Machtballungen, verweisen aber zugleich auf die Komplexität der Welt, dass Macht nichts ist, was Individuen haben, sondern dass sie vielmehr eher in Machtknoten und einer Struktur zu verorten ist, an der wir alle, sogar die Unterdrückten tagtäglich mitstricken; zugleich weisen sie nicht selten darauf hin, dass wir trotz aller Mißstände auch sehr viel zu verteidigen haben, etwa die Prinzipien der liberalen Demokratie, aber auch eine Haltung maßvoller Vernünftigkeit.

Dadurch wird skurrilerweise das radikale „Dagegen“, das dichotomisches „Wir-gegen-Sie“ heute eher mit der extremen Rechten verbunden.

Das bringt Linke im weitesten Sinne – von den akzentuierteren Linksparteien bis zu den gemäßigten Sozialdemokraten – in eine strategisch komplizierte Situation, aus der sie noch keinen guten Ausweg gefunden haben: Sie sind sowohl „dafür“ als auch „dagegen“, also auf eine vernünftige, maßvolle Weise „systemkritisch“. Manchmal klingen sie wie Erwachsene, die zu den Teenagern sagen: „Sei vernünftig, Kind!“ Was ja, wie wir wissen, nie sehr sexy ist.

Sie repräsentieren weder das absolute Einverständnis mit dem Bestehenden (das traditionell im Konservatismus beheimatet ist), noch das destruktive Totaldagegen, wie es heute das konformistische Rebellentum des rechten Extremismus darstellt. Das ist ein Platz zwischen den Stühlen, was intellektuell sicherlich eine perfekte, aber politisch-praktisch eine unbequeme Sitzgelegenheit ist.

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