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Folge 64

Etwas Altes: Wo die Zitronen blühen

Gefühlt drei Viertel der Personen aus meinen verschiedenen TLs mit aktuell anscheinend noch lebbarer finanzieller Situation waren dieses Jahr irgendwann zwischen Frühjahr und Spätsommer in Italien, bevorzugt auf Inseln. Sizilien schien besonders trendy zu sein, aber Sardinien war auch okay. (Für mich war es maximal okay.) 

Dieser Italienreiseboom ist sehr auffällig, denn schließlich sind nicht mehr die westdeutschen 1950er, und ein Teil dieser neuen Italienreisenden war in Vorpandemiezeiten entweder meist viel weiter weg (Indien, Indonesien, Thailand), während ein anderer Teil kräfteschonend – zumindest war so der Plan – mit kleinen Kindern im Deutschsprachigen zeltete. 

In der merkwürdigen Komibination aus vollständiger pandemischer Auszehrung, wachsendem, berechtigtem Klimazerstörungshorror und einem sich allmählich auch bei Weißen entwickelnden Gefühl dafür, wie sehr Reisen Teil von Kolonialismus sein kann und meist auch ist, emergiert Italien mindestens zum dritten Mal nach dem Grand-Tour-Adelstourismus im 18. Jahrhundert und dem frühem Massentourismus ab Mitte des 20. Jahrhunderts als deutsch-österreichisch-schweizerischer Sehnsuchtsort. Endlich rrrrrrraaaauuuus hier und – erleichtertes Aufatmen – nur ein, zwei Stunden Flugscham. (Das ist auch lustig zu beobachten: wie 2022 fast alle tunlichst vermeiden, wie früher Bilder vom Flughafen zu posten. Ja ja, ein paar Leute waren zu ihren italienischen Inseln auch mit Auto und Fähre unterwegs. Und eine Handvoll Engel sicherlich auch mit Zug und Fähre. Fähren werden übrigens mit Schweröl betrieben. Ich sage nicht, dass diese vielen Nichtganzsofernreisen gut waren. Ökologisch waren sie ganz sicher nicht gut. Ich sage nur, dass sie waren. Auch bei mir. Was man für die symbolische Energiebilanz immer tun kann, ist, nicht mit zur allgemeinen Heuchelei beizutragen, über die man bei anderen oft und gerne schimpft. Zumindest kann man das, wenn es einem ausnahmsweise auffällt, dass das, was man gerade im Begriff zu tun ist, Heuchelei wäre.)

Zurück zum diesjährigen Italienreisetrend selbst. Die Menschen, die es ins Land, wo die Zitronen blühen, geschafft hatten, waren dann doch so überbordend glücklich, dass sie ihre Reise nicht vollends verheimlichten. Zwar bilderten sie nicht wie früher volle Breitseite den Urlaub ab (Sonnenaufgang, Frühstück, Fahrt zum Strand, Baden, Mittagessen, blaue Stunde, Abendessen, Sonnenuntergang, Corso), posteten aber doch das eine oder andere Bild von Kinderfüßchen im Sand und überwältigend schönen Landschaften. 

Dabei habe ich einen weiteren Trend beobachtet, denn überdurchschnittlich oft wurden zur musikalischen Unterlegung persönlicher Italo-Storys Songs von Lucio Battisti genutzt. Warum das so ist, kann ich nicht erklären, aber es freut mich, denn ich gröle seit Monaten mindestens einmal pro Tag auf Spotify »La canzone del sole« mit und kann zwar immer noch nicht besonders gut Italienisch, aber das, was ich nicht kann, spreche ich mittlerweile sehr schön und poetisch aus. 

https://www.youtube.com/watch?v=RD42gaumE3M (Opens in a new window)

Ich mag zugegebenermaßen auch sehr, dass Battisti mit seinen Löckchen und Schälchen (Opens in a new window) so schön poetisch aussah. 

Etwas Neues: Gastfreund*innenschaft in pseudopostpandemischen postdigitalen Zeiten

Ich war das Wochenende über bei einer sehr lieben Twitterfreundin und durfte es in großen Teilen auf einer Couch liegend zubringen. Für mich ist das der Inbegriff zeitgemäßer Gastfreund*innenschaft, denn natürlich fühlen sich pandemiegeschwächte Internetmenschen liegend am wohlsten. Andere Menschen vermutlich auch, sie wissen es vielleicht nur noch nicht. Eine weitere Twitterfreundin war angereist, sogar zwei Lebenspartner waren die ganze Zeit dabei – wenn man das so beschreibt, könnte es für pseudopostpandemische postdigitale Ohren anstrengend klingen: zu viel/e, zu irl unvertraut, zu cisdynamisch, zu nah. Zudem war jede einzelne Person aus teils identischen, teils unterschiedlichen Gründen völlig ausgelaugt, und trotzdem war es die ganze Zeit wunderbar erholsam, dialogisch, frei. (»Frei« kann selbst 2022 frei von unnötigem Druck und nicht frei Verantwortung heißen.) Ja, klar, fühlte man sich danach auch ein bisschen erschöpft, weil es intensiv gewesen war, aber auf diese gute Weise erschöpft, so wie nach Sport oder Gartenarbeit. 

Uns fiel auf, dass es fast genau entgegengesetzt zu konventionellen Familientreffen lief, wo tendenziell viel geredet, aber wenig gesprochen wird und die Hauptsache ist, dass alle physisch präsent sind, aber als individuelle Persönlichkeiten lieber nicht zu spürbar. Beim Wahlfamilientreffen am Wochenende waren wir physisch eher etwas durchsichtig, also vielleicht nicht immer richtig da, aber wir haben die ganze Zeit sehr intensiv miteinander gesprochen, es wurden Beobachtungen, Gedanken, Erfahrungen und nicht nur Anekdoten ausgetauscht. Es gab in wechselnden Richtungen wirklich guten Rat für quälende Probleme und Trost einfach durch den Umstand, mitzubekommen, dass manche Missstände, die man für irgendwie selbstverschuldet und singulär hielt, es gar nicht sind und von anderen geteilt werden. 

Bei solchen Treffen merkt man, wie wichtig vertrauensvolles Sprechen unter wechselnden Individuen ist und wie sehr ungerechte öffentliche Strukturen davon profitieren, dass das nicht komplett nomalisiert ist. Was müssten Staat, Forschung, Gesellschaft alles tun, wenn Menschen kulturell daran gewöhnt wären, offen miteinander zu reden.

In den Gesprächen zeigte sich auch einmal wieder, wie förderlich der Austausch von Menschen mit und ohne Kinder ist. Letztere bringen, weil sie in ihren Familien ja nicht so sichtbar die Rolle gewechselt haben, für Erstere oft sehr interessante Aspekte aus Sicht gereifter Kinder ins Spiel. Sie selbst lernen dabei potenziell, ihre eigenen Eltern rückwirkend besser zu verstehen, was, wenn es verbalisiert wird, wiederum Eltern von Kindern überhaupt erst plausibel machen kann, dass die eigenen Eltern vielleicht ähnlich begründet lebenslang sorgenvoll und existenziell ängstlich auf sie blicken, wie sie es gerade auf die eigenen Kinder tun. 

Wenn ihr ähnlich gute Gastgeber*innen sein wollt wie S. und H.: Liegemöbel und niedliche Haustiere bereitstellen, freien Zugang zu Kaffeemaschine und Kühlschrank gewähren, Vertrauen aufbringen, dass Menschen treffen selbst im Jahr 2022 noch wunderschön sein kann. 

Gastfreundlich zu sein, ist nicht nur lieb und schön, sondern auch politisch: Wie soll die furchtbare Festung Europa überwunden werden, wenn man darin selbst kein offenes Haus hat.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

»Die besorgteste Prüderie findet sich bei denen, die ein kleines Geheimnis zu verstecken haben.« – George Sand 

(sehr schön anwendbar auf die vielfältigen »demokratischen« Bedenken hinsichtlich #metoo

Etwas Uncooles: Autodudes im Fernbus

Fast nichts auf der Welt kommt eindeutig daher, und auch begrüßenswerte Entwicklungen haben unangenehme Nebenerscheinungen. Ökologisch muss man sich über die mittlerweile vereinzelt in Fernbussen auftauchenden weißen cis Typen über 30 freuen, die bis vor kurzem immer das Auto genommen hätten. Nein, das ist keine Frechheit, dass ich das so schreibe, denn lange Jahre setzte sich die Gruppe der Mitreisenden ziemlich stabil so zusammen: minderjährige Weiße aller Geschlechter, BIPoC aller Altersklassen und Geschlechter, weiße Frauen, meist sehr jung oder eher im Rentenalter. Weiße Frauen in mittleren Jahren wie ich kamen vereinzelt vor, ebenso weiße Dudes unter 30. Ich mochte diese alte Gruppe, denn in ihr herrschte ein selten gebrochener, unausgesprochener Sozialvertrag, dass alles anstrengend genug ist und man sich nicht noch unnötig auf die Nerven gehen muss. 

Jetzt aber habe ich schon zweimal weiße Dudes in mittleren Jahren in meiner unmittelbaren Nähe sitzen gehabt. Das Gefühl dabei war meiner Vorstellung nach ungefähr so wie damals, als die Männer aus dem Krieg zurückkamen und die Frauen und Kinder sich hätten über alle Maßen freuen müssen und sich auch freuten, aber gleichzeitig eben auch um gewonnene Autonomie trauerten. 

Der eine Dude verhielt sich okay, er hatte mit seinem feinen Anzug, dem Buch und dem großbürgerlichen Habitus zwar eine massive Aura des Nichtpassens, aber dafür kann er ja nichts, daran wird man sich gewöhnen, das wird sich geben, da bin ich sicher. Der andere aber befragte komplett übergriffig und immer weiter nachbohrend eine junge Frau, ob der Platz hinter ihr noch frei wäre, maulte dann einen Typen an, dass dessen Skateboard ihn fast getroffen hätte und kommentierte schließlich ableistisch laut YouTube-Filmchen, die ihm seine Freundin empfohlen hatte. Er boomerte so sehr rum, dass ich vor Aversion Magenschmerzen bekam. Nein, es war keine gute Idee von mir, dann auch noch zu lesen, was er tätowiert hatte: »Alpha« und »Wahrheit«.

Alpha, die Wahrheit ist, du warst ein furchtbarer Mitreisender, reiß dich beim nächsten Mal bitte etwas zusammen. 

Fernbusfirmen, bitte führt sofort den Passagier*innenführerschein ein. »Die Neuen« verfügen von selbst einfach nicht über die nötigen Erfahrungen, um in einem Businneren sozial klarzukommen. 

Lektion 1: Du sitzt nicht mehr am Steuer, komm drauf klar.

Lektion 2: Mitfahrende sind nicht deine Bedienstete. 

Lektion 3: Es interessiert absolut keine Person außer dir, dass du an Bord bist. 

Die Wahrheit ist, dass es bislang im Fernbus, solange kein Fahrer übers Mikro zwanzig Minuten lang genussvoll nazimäßig die Toilettennutzung erklärte, angenehm undeutsch zuging. Ich werde es vermissen. Aber es ist natürlich gut für die Umwelt, dass jetzt mehr Nervensägen den Bus nehmen.

Rubrikloses

Ist mir erst jetzt aufgefallen, aber warum designt man bitte zwei Geldscheine nicht unterschiedlicher, damit Menschen sie vielleicht nicht potenziell verwechseln können. Aber man rettet ja auch lieber Fluggesellschaften als Menschen, vermutlich hat der Kapitalismus nicht nur seine ganz besondere Ethik, sondern auch Ästhetik hervorgebracht.

100 % der Frauen werden vom patriarchalen Kapitalismus komplett verarscht.

Gala-Magazin, weißt du vielleicht nicht, aber man kann sprachlich kein Befürworter von Menschen sein, nur von Gedanken, Haltungen etc. Aber man kann, wenn man auf immer neue Weise Meghan Markle objektifiziert, ohne es zu wollen, sehr schön zeigen, inwiefern die Queen untrennbar mit Kolonialismus verbunden ist.

Mein virtueller Kunstraub der Woche, bald kann ich ein Lalique-Museum aufmachen.

In der Redaktionssitzung: »Lasst uns doch mal alle diskriminierenden Äußerungen Lagerfelds reproduzieren und sie als kontrovers rahmen, um die Klicks einzusammeln, aber keinen Shitstorm dafür zu bekommen.«

Extraschelte für Peoplemagazine ist hier unnötig, denn das machen jetzt auch fast alle »seriösen« Medien.

(Ich hasse Clickbait, er kommt die Demokratie teuer zu stehen. )

#EndClickbait

Glossar neuer Worte aus dieser Ausgabe

abbildern, Verb: instantane Dokumentation und Konstruktion von Lebensereignissen per Bildserie oder Video

Autodude, Nomen: cis Mann, der zu viel Zeit allein im Auto verbracht hat und dadurch sozial derealisiert ist

pseudopostpandemisch, Adjektiv oder Adverb: im trügerischen Glauben, die Pandemie würde hinter einem liegen

rumboomern, Verb: sich so übergriffig und ignorant verhalten, wie es nicht ganz scherzhaft noch lebenden Mitgliedern der geburtenstärksten Jahrgänge zugeschrieben wird 

Aus leider immer neuem aktuellem Anlass: Lebt euer Leben so bewusst und gut und schön es geht, manchmal endet es viel zu früh.

Präraffaelitische Girls erklären Megalonäre, Vol. 15

Zurück ins Werk, zu den Leben Verwerkenden, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,
FrauFrohmann

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Bezahl-Abos sind zum Lesen nicht notwendig, man schließt sie freiwillig ab, wenn man meine Arbeit finanziell unterstützen möchte. Danke allen, die zahlen können und es tun, denn ich habe gerade mal wieder keine Ahnung, wie sich barrierearmes Publizieren und wirtschaftliches Klarkommen bei explodierenden Kosten vereinbaren lassen.

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