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Vorhang auf: Heute gibt es eine Premiere. Zum ersten Mal überhaupt in der Treibhauspost wirst Du gleich einen Text lesen, den wir nicht selbst geschrieben haben.
Es handelt sich um die Gedanken von Chemie-Professor Sebastian Seiffert, Treibhauspost-Mitglied und Vorreiter der Klimakrisen-Kommunikation. Vor Kurzem postete er seine Gedanken ohne große Erwartungen auf Elon Musks neuem digitalen Spielplatz Twitter. Innerhalb weniger Tage erreichten sie dort Hunderttausende Menschen. Du wirst gleich merken, warum.
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#28 #Essay #Gastbeitrag
Extrem laut und unglaublich wahr
Prof. Sebastian Seiffert beschäftigt sich als Wissenschaftler, Aktivist und Politiker mit der Klimakrise. Er ist überzeugt, dass wir am Anfang eines systemischen Umbruchs stehen. ~ 6 Minuten Lesezeit
Von Prof. Sebastian Seiffert
Meine Gedanken im April 2022 waren – vor allem in den Abendstunden – düster. Tagsüber koordiniere ich Forschungsprojekte zum Einsatz von Polymermaterialien zur Klima-Anpassung, bin bei den Scientists for Future und der Klimaliste Rheinland-Pfalz aktiv und ja, eine kleine Familie habe ich nebenbei auch noch. Abends aber kehrt Ruhe in all mein Treiben ein. Und Zeit zum Nachdenken.
Der dritte Teil des sechsten IPCC-Berichts war gerade veröffentlicht worden. Im Grunde stand dort weder Neues noch Unerwartetes drin. Dennoch traf er mich hart. Er machte mir brutal deutlich, wo wir eigentlich stehen. Dass 1,5 Grad praktisch tot sind. Und was das für Folgen hat. Gerade für die zwei kleinen Kinder, die im Nebenzimmer friedlich mit ihren Stofftieren schliefen und von alldem noch nichts wissen.
Dies waren meine Gedanken, die ich niederschrieb und als Twitter-Thread postete:
Prof. Sebastian Seiffert : „Es ist unsere Pflicht als Wissenschaftler°innen lauter zu werden“.
Fluktuationen
🧵 Jede Verwerfung hat Anfangserscheinungen. In der Physikalischen Chemie sprechen wir von „kritischen Fluktuationen“. Sie markieren Instabilität und leiten Übergänge ein. Am Ende steht ein völlig neuer Zustand. Mehr und mehr denke ich, dass wir genau das jetzt erleben.
Anfangs sind solche Fluktuationen mikroskopisch. Sie fallen nur jenen auf, die genau hinschauen. Doch sie wachsen. Exponentiell. Und dann passiert ein Turnover. Unaufhaltsam. Und bisweilen irreversibel; jedenfalls im gemeinhin zugänglichen Parameterraum.
Ich habe mich oft gefragt, wie große Katastrophen wohl ihren Anfang nahmen. Etwa als ich einst Postdoc im Großraum Boston war und Portland Maine besuchte, wo 2001 frühmorgens der 11. September begann. Ich stellte mir vor wie da noch keiner etwas ahnte. Und was dann folgte.
18 Jahre später, vielleicht in einer chinesischen Höhle, gab es wieder ein kritisches Ereignis. Wohl in einer Fledermaus entstand das allererste SARS-CoV2 Virus. Keiner bekam das mit. Noch nicht. Selbst als erste Aufmerksame die Gefahr witterten, verhallten ihre Warnungen.
Heute ist es wieder so. Jüngst erschien der neue IPCC-Report. Er hat mich schwer getroffen. Denn er sagt mir, dass wir wohl wirklich gerade die Kontrolle verlieren. Während sich weltweit erste Kipppunkte zeigen, ist die zur Nullemission nötige Rapidität einfach unfassbar. Wir müssen nicht weniger schaffen als den globalen Emissionspeak allerspätestens in drei Jahren. Danach brauchen wir einen Rückgang der Emissionen in weiteren fünf Jahren auf den Stand der 1960er.
Und dann nochmal in nur einem guten Jahrzehnt auf null. Zero. Nix mehr. Global!
Verdammt, Leute: Ich habe echt Angst.
Die Transformation, die wir brauchen, ist so krass, dass es schon rein technisch fraglich ist, ob sie in der nötigen Schnelle schaffbar ist. Und wieder scheint diese maligne Lage im Verborgenen zu stehen; wie in der chinesischen Höhle oder dem Provinzflughafen in Neuengland.
Schon ein kurzer Blick abseits der eigenen Twitterblase zeigt: Nichts. Kein Krisenbewusstsein. Keine Kenntnis des Zustands. Und noch viel weniger des Kurses. Und am schlimmsten: Nicht einmal Interesse für all dies.
Trotz des beherzten Einsatzes von Aktivist°innen reißen die Bagger vor Lützerath täglich die Wunden des fossilen Zeitalters immer tiefer – gegen jeden wissenschaftlichen Verstand. Wieder weitgehend unbemerkt. Und mit Tankrabatten und Gasimporten schüren wir selbst noch das drohende Feuer. Uns werden Scheinargumente und Gründe über Gründe serviert, warum alles nicht so einfach sei mit der Wende. Wir debattieren um Verkehrsschilder, um Rechtssicherheiten, Genehmigungsverfahren, Abstandsregeln. Und wir subventionieren Klimaschädlichkeit mit 180 Millionen Euro täglich.
Bei allem sehen wir primär den Verlust der wohligen Vergangenheit – statt der Abwehr einer monströsen Zukunft. Der pure Zynismus dieser Tage zeigt sich darin, dass sich die sozialen Konflikte der Gegenwartskrisen ausgerechnet um die Treibstoffe entladen, die sie befeuern.
Ich habe mich manchmal gefragt, wie es wohl wäre, als Zeitreisender auf der Titanic zu landen. Zu wissen, wohin der Kurs führt. Und doch bei niemand auf Interesse zu stoßen. Nicht, weil es niemand versteht. Sondern weil es niemand verstehen will. Es ist schon fast absurd, dass ich beim Lesen des IPCC-Berichts streckenweise fast erfreut war. Darüber nämlich, dass er mir zeigt, dass ich nicht irre bin.
Warum war der IPCC-Report nochmal so brisant? Lies die wichtigsten To Dos der Menschheit in der Treibhauspost #25 (Opens in a new window) nach.
Es stimmt wohl leider wirklich: 1,5 Grad ist tot. Dennoch zählt auch weiterhin jedes Zehntel Grad. Und so gilt es auch weiter, für jedes Zehntel zu kämpfen. Ich denke aber, gerade wir Klimabewussten, die nur allzu gut wissen, was kommen wird und worauf wir zusteuern, müssen fortan auch viel, viel stärker an Adaptation, also Abminderung der Klimawandelfolgen, denken.
Ja, wir müssen Transformationsprozesse anstoßen. Wir brauchen Erneuerbare wo nur irgend möglich. Wir brauchen Schienen. Wir brauchen Radwege. Wir brauchen Gebäudedämmung. Und das braucht massiven Einsatz – und massive Gelder.
Doch es braucht auch ebensolchen Einsatz (und ebensolche Gelder) um Schutzräume für Hitzewellen zu bauen. Um Wasserreservoire zu schaffen. Um Schwammstädte, Dämme, Sturmsicherung und vieles mehr zu realisieren. Die Zeit dafür ist: genau jetzt!
Und wieder sehe ich Bewusstsein und Bereitschaft, dieser Lage ins Auge zu sehen: nirgends. Von massiven und dringlichen Vorbereitungen auf kommende Brachialereignisse höre ich noch weniger als von ernsthaften Bestrebungen zur Klimawende.
Verdammt, Leute: Ich habe echt Angst.
Meine Art, mit der Angst umzugehen, ist aktiv zu werden. Das Leben damit zu füllen, den Wandel zu gestalten; statt seine Folgen auszuhalten. Aktivist zu sein; für eine klima-stabilisierte Welt. Statt als Passivist dem Klima-Chaos tatenlos entgegenzusteuern.
Ja, vielleicht ist die Katastrophe schon in der exponentiellen Phase. Hin zum Turnover. Und vielleicht ist sie nicht mehr zu stoppen. Die physikalisch messbare Realität ist da brutal klar. Doch vielleicht geht es gar nicht darum. Sondern einfach darum, das Richtige zu tun.
Es gibt zumindest eines, das Hoffnung macht. Nicht allein zu sein. Kein skurriler Sonderling zu sein. Sondern Teil einer Gemeinschaft zu sein, die verstanden hat. Und die ein mächtiges Band verbindet: Zusammenhalt. Das gibt Kraft; auch gegenüber kritischen Fluktuationen. 🧵
Geschlossenes System, offene Fragen
Dies waren also die Gedanken und Gefühle, die der IPCC-Bericht in mir auslöste. Ich hatte nicht erwartet, dass sie großartig Verbreitung finden würden. Das Thema des Threads kam mir recht speziell vor. Und der Ton sehr trüb.
Nach dem Posten ging ich mit den Kindern für ein paar Stunden auf den Spielplatz. Als ich wiederkam, hatten meine Gedanken bereits Zehntausende Menschen erreicht und viel Zustimmung erhalten.
Mich freut das. Es ist schön zu erleben, dass andere Menschen meine Sorge teilen – gerade wenn es viele sind. Und es gibt Hoffnung. Formt sich vielleicht doch sowas wie eine stille Mehrheit? Nimmt die Sorge im Verborgenen doch merklich zu? Vielleicht ist das so.
Ich denke, es kommt drauf an, was wir jetzt aus unser Angst machen. Flucht und Verstecken sind keine Option; wir haben nur diesen Planeten und kommen nicht von ihm weg (in der Physikalischen Chemie sprechen wir von einem „geschlossenen System“). Also hilft nur Kämpfen. Am besten zusammen.
Vorhang zu, Premiere zu Ende. Wir hoffen, die Worte von Prof. Seiffert haben Dich zum Nachdenken angeregt oder inspiriert.
Zum Schluss noch eine fantastische Nachricht: Wir haben diese Woche die 100-Mitglieder-Marke geknackt. Herzlichen Dank an dieser Stelle an jede°n Einzelne°n von Euch!
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Bis in zwei Wochen
Manuel & Julien
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