Besitzen fiktive Figuren politische Macht?

Lesedauer: 7 Minuten
Autoren beschreiben in ihren fiktiven Geschichten oftmals Szenarien mit Gewalt; psychisch gestörten Figuren; Morden und sonstigen Formen von Triggerpunkten, welche bei den Lesern zwar meistens erwünscht sind, jedoch auch in seltenen Fällen zu einer psychischen Belastung; dem Wiederaufleben eines Traumas; Angststörungen oder Ähnlichem führen können.
Die Wissenschaft fokussiert sich in der heutigen Zeit vor allem auf die Brutalitäten von fiktiven Geschichten und welche Gefahren diese potenziell für die Gesellschaft mit sich bringen. Ich habe mir allerdings die Frage gestellt, ob die Entwicklung einer psychischen Störung eines Menschen wirklich die einzige Gefahr ist, die in einer Geschichte lauert, oder ob die Macht eines Autors noch viel weitergreift und sogar erheblich die politische Meinung und den moralischen Kompass vieler Menschen beeinflussen kann.
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, werde ich zunächst die typischen Methoden herausarbeiten, mit denen Politiker und Populisten Einfluss auf das politische Denken der Menschen nehmen. Daraufhin werde ich die Schnittmengen zwischen Populisten/Politikern und fiktiven Figuren aufzeigen, um somit zu beweisen, dass sie dieselben Eigenschaften besitzen, die es zur Manipulation der Menschen benötigt. Daraufhin beziehe ich mich auf den elementaren Unterschied zwischen Politiker/Populist und fiktiver Figur: Die Fiktionalität.
Mit welchen Methoden beeinflussen Politiker den politischen Willen der Menschen?

In einer idealen Demokratie wären alle Menschen so gebildet, dass sie die Programme der verschiedenen Parteien alle lesen, verstehen, und im Vergleich zu ihren eigenen moralischen und politischen Einstellungen eine Wahlentscheidung treffen könnten - jedoch ist dies natürlich reinste Utopie. Also ist es Politikern bzw. politischen Aktivisten und Extremisten möglich, mit gezielten Aussagen; dem Weglassen von Fakten; mit Lügen oder einer eindimensionalen Sicht die Menschen zu beeinflussen – einfach gesagt: Diese Leute benutzen „Populismus“, um die Menschen auf ihre Seite zu ziehen.
Populisten versuchen oftmals das Narrativ eines korrupten, unmoralischen, bösen Staates zu erzeugen, welcher dem moralisch fehlerfreien, sozialen, gutherzigen Volk gegenübergestellt ist. (vgl Müller 2016: 187) Wenn man den Menschen das Gefühl gibt, dass sie unmöglich als individuelle Person für die Ausbreitung einer Pandemie, dem menschengemachten Klimawandel oder ähnlichen globalen Krisen verantwortlich sind, dann macht man sich damit sehr beliebt. Menschen haben ein Problem damit, sich die eigenen Fehler einzugestehen und sind daher anfällig für Menschen, die ihnen das Gefühl geben, fehlerfrei zu sein.
Ein weiterer entscheidender Punkt, welcher Menschen in ihrer Wahlentscheidung beeinflussen kann, ist die Sympathie. „Wahlen gewinnen heutzutage kaum noch diejenigen, welche über die größte Kompetenz verfügen. Es gewinnen diejenige, welche am beliebtesten sind.“ (Schmitz 2012) Eines der berühmtesten Beispiele für dieses Phänomen war die Präsidentschaftswahl im Jahre 2016, in welcher Donald Trump letztendlich als Sieger hervorging. Ein Mann, der über keinerlei politische Erfahrung verfügte und mit frauenfeindlichen, homophoben und rassistischen Aussagen auffiel. (vgl Nabers/Stengel 2017: 17) Auch wenn dies gleichzeitig für viel Ablehnung sorgte, machte es ihn authentisch und für sehr viele Amerikaner sogar sympathisch. Gerade durch seine Sprache und sein Verhalten gab er den Menschen das Gefühl, einer von ihnen zu sein. (vgl Nabers/Stengel 2017:19) Die unsichtbare Barriere, welche das einfache Volk von der politischen Elite trennte, durchbrach er und dies machte ihn so zur Identifikationsfigur für viele Amerikaner.
Aber nicht nur in Amerika zeigt sich, dass Sympathie einen großen Einfluss auf die Wahlentscheidung der Bevölkerung hat, sondern auch bei uns in Deutschland. Bei der Bundestagswahl traten drei Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers an: Annalena Baerbock von den Grünen, Armin Laschet von der CDU und Olaf Scholz von der SPD. Zu Beginn des Jahres 2021 lag die Partei von Annalena Baerbock in Umfragen in Führung, gefolgt von Armin Laschet und weit abgeschlagen lag Olaf Scholz. Dies änderte sich schlagartig, als öffentlich wurde, dass Annalena Baerbock bei ihren Büchern wohlmöglich Plagiate eingebaut und in ihrem Lebenslauf falsche Daten stehen hatte. Dies machte Annalena Baerbock bei sehr vielen Menschen sehr unsympathisch – schließlich hat Abschreiben und Betrügen eine sehr hinterlistige Note, welche in der Bevölkerung nicht gerne gesehen wird. Als Folge stürzten die Grünen in den Umfragen ab und Armin Laschet führte mit seiner CDU die Umfragen an – bis im Sommer 2021 eine Flutwasserkatasrophe Nordrheinwestfalen heimsuchte. Kurz darauf fiel Armin Laschet durch ein unangebrachtes Lachen im Krisengebiet auf, welches ihn vollkommen zum Verhängnis wurde. Das Volk empörte sich über Armin Laschet, seine Sympathie ging in großen Teilen der Bevölkerung verloren und auch seine Umfragewerte sanken. Daraufhin übernahm Olaf Scholz mit seiner SPD die Führung in den Umfragen und gewann schließlich auch die Wahl, was ihm ohne diese Patzer seiner Konkurrenten wahrscheinlich nicht gelungen wäre. Zwar hatte der heutige Kanzler ebenfalls in seiner Vergangenheit Fehler gemacht, jedoch waren diese kompliziert zu erklären und nicht so einfach zu greifen, wie das Plagiat von Baerbock und der Lacher von Armin Laschet.
Doch warum wirken sich solche Dinge überhaupt auf die Wahlentscheidung aus? Schließlich haben die Fehler von Baerbock und Laschet nichts mit deren politischen Haltungen oder Entscheidungen zu tun. Grund dafür ist der sogenannte „Halo-Effekt“. Dies bedeutet, dass man einer Person weitere negative Eigenschaften zuschreibt, wenn man bereits eine bei ihr festgestellt hat. (vgl Schmitz 2012) Im Fall von Donald Trump schreiben ihm die Wähler aufgrund seiner Sympathie auch weitere positive Eigenschaften zu, wie beispielsweise politische Kompetenz und Führungskraft.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Politiker, politische Aktivisten oder Extremisten primär mit Hilfe von Populismus und Sympathie Einfluss auf die politischen und moralischen Haltungen der Bevölkerung Einfluss nehmen, anstatt ausschließlich mit Inhalten oder ihren Kompetenzen.
Wie nehmen fiktive Figuren Einfluss auf die Menschen?

Ein erstes Indiz dafür, dass auch fiktive Figuren bzw die Geschichten, in welchen sie vorkommen, Einfluss auf die Moral der Leser oder Zuschauer haben, ist, dass Menschen gezielt nach solchen Geschichten suchen, welche ihnen eine gewisse Moral vermitteln. Forschungen ergaben, dass die meisten Menschen die Qualität einer Geschichte daran bemessen, wie sehr sie sich mit den Figuren verbunden fühlen und diese Verbundenheit hat zur Folge, dass sich die Werte der Figur den Werten des Lesers annähern können. Oftmals gelingt dies, wenn man mit der Figur ein gemeinsames Schicksal teilt wie beispielsweise häusliche Gewalt. (vgl Jimenez 2013)
Dies kann schlussendlich zur Folge haben, dass man sich auch mit Filmbösewichten ein wenig verbunden fühlt; denn im Gegensatz zu einem normalen Kriminellen, den wir nur in Verbindung mit seiner Tat in den Nachrichten sehen, ist es einem Autor möglich, transparent das ganze Leben eines Bösewichtes aufzuzeigen. Gerade wenn der Bösewicht eine schlimme Kindheit hatte und viele Schicksalsschläge verkraften musste, hinterfragt der Leser mehr und mehr, ob der Bösewicht vielleicht überhaupt gar nicht so böse ist, sondern bloß missverstanden – „vielleicht wurde er nur von der Gesellschaft so gemacht und vielleicht wäre man selbst so geworden, wenn man in der Situation des Bösewichts gewesen wäre“. (Mikula 2020: 41) Diese Sympathie für Bösewichte ist besonders dann vorhanden, wenn der Bösewicht einer Geschichte als Held und Protagonist aufgebaut worden ist und erst im Laufe seiner Geschichte zu einem bösen Menschen wurde.
Ebenso kann sich eine fiktive Figur populistischen Parolen bedienen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Figur des „Professors“ aus der Netflix-Serie „Haus des Geldes“. In dieser überfällt die Figur gemeinsam mit anderen Schwerverbrechern die spanische Nationalbank und möchte deren Goldreserven stehlen. Diese Figur rechtfertigt ihre Taten jedoch, in dem sie behauptet, bloß ein Zeichen gegen die Korruption und die Ungerechtigkeit des Staates setzen zu wollen. Mit Aussagen wie „Der Staat hat uns den Krieg erklärt“ (Haus des Geldes 2020) und der Fokussierung auf die Fehler der Staatsgewalt stellt die Figur ebenfalls das populistische Narrativ von Gut und Böse und dem „unmoralischen, korrupten Elitenstaat auf.“ (Müller 2016: 187) Dadurch, dass die Figur des „Professors“ mit all ihren Sorgen, Bedürfnissen und guten Eigenschaften als Protagonist aufgebaut wird, hinterfragt der Zuschauer, ob die Handlungen des Professors wirklich böse sind oder ob er nicht doch möglicherweise im Recht sein könnte.
So lässt sich also sagen, dass eine fiktive Figur ebenso als populistisches Sprachrohr benutzt werden kann wie ein Politiker. Ein Autor könnte also durch seine Figur eine bestimmte politische Position verbreiten und müsste diese selbst nicht einmal verkünden. Wenn er diese Figuren dann noch relativ sympathisch gestaltet und möglichst oft deren gute Seiten zum Vorschein bringt, kann der Autor mithilfe seiner Figur vom „Halo Effekt“ profitieren und dafür sorgen, dass die Entscheidungen aufgrund der Sympathie eher positiv wahrgenommen werden.
Parasoziale Beziehungen

Nachdem ich mich nun auf die Gemeinsamkeiten von fiktiven Figuren und Politikern fokussiert habe, beschäftige ich mich nun mit der Eigenschaft, welche die beiden voneinander unterscheidet: Die Fiktionalität.
Ein Politiker ist eine real existierende Person und die fiktive Figur ist - wie der Name schon sagt - fiktiv und wird meist durch eine Animation oder einen Schauspieler verkörpert. Man könnte also annehmen, dass dieser Unterschied zur Folge hat, dass fiktive Figuren nicht genauso Einfluss auf die Menschen haben könnten, wie Politiker, da der Fakt, dass sie bloß fiktiv sind, dafür sorgt, dass die Menschen sich nicht beeinflussen lassen können. Hier möchte ich den Begriff der „parasozialen Beziehung“ aufgreifen:
Dies bedeutet, dass ein Mensch eine genauso starke emotionale Bindung zu einem Influencer, einem Schauspieler oder eben einer fiktiven Figur aufbauen kann wie zu einer Person in seinem sozialen Umfeld. (vgl Mikula 2020: 78) Dies geht sogar so weit, dass romantische Gefühle zu einer Figur entstehen können, was dadurch befeuert wird, dass es man bei einer fiktiven Figur persönliche Emotionale Erfahrungen sammeln kann, ohne jemals mit einer Ablehnung rechnen zu müssen – anders wie es bei realen Beziehungen der Fall ist. (vgl Liebers 2021: 21) Die Fiktionalität einer Person hat also keinen Einfluss darauf, ob wir eine emotionale Beziehung zu dieser aufbauen können; und da sich die Menschen über ihre Emotionen beeinflussen lassen, hat die Fiktionalität auch ebenso nichts damit zu tun, ob man von einer Person in seinem moralischen und politischen Denken beeinflusst wird oder nicht.
Ein Beispiel, welches deutlich belegt, wie unbedeutend die Grenze zwischen Realität und Fiktion in dieser Hinsicht inzwischen geworden ist, zeigt die Präsidentschaftswahl in der Ukraine aus dem Jahr 2019, in welcher der auch heute amtierende Präsident Wolodymyr Selensky als Sieger hervorging. Dieser war vor seinem Wahlsieg kein Politiker, sondern Schauspieler und Komiker und spielte in der ukrainischen Serie „Diener des Volkes“ einen Geschichtslehrer, der von der Korruption ukrainischer Politiker angewidert ist und über ein YouTube-Video und eine Crowd-Funding-Kampagne unversehens zum Präsidenten gewählt wird - und als ehrlich bleibender, einfacher Präsident mit populistischen und mitunter auch autoritären Zügen „konsequent im Saustall der notorisch korrupten ukrainischen Politik aufräumt.“ (Hassel 2019) Die Figur, welche Selensky verkörperte, verschaffte sich solch ein großes Vertrauen und Sympathie in der Bevölkerung, dass die Menschen die oben genannten positiven Eigenschaften der Figur auf den Schauspieler übertrugen – mit anderen Worten könnte man also auch sagen, dass eine fiktive Figur eine demokratische Präsidentschaftswahl gewonnen hat. Dies beweist, welchen Einfluss bereits eine einzige Figur auf die politischen Entscheidungen in einem ganzen Land haben kann.
Man kann natürlich nicht wissen, ob der Autor oder das Autorenteam, welches diese Figur und die Geschichte darum erschaffen haben, bereits zu Beginn die Intention hatten, mit dieser Figur reale politische Macht zu erlangen, doch lässt sich nach dieser Wahl zweifelsfrei belegen, dass das Potential dafür dagewesen wäre.
Schlussfolgerungen und Fazit
Autoren besitzen Macht. Wenn ein Autor eine politische Agenda verfolgt oder eine bestimmte Debatte lostreten will, kann eine fiktive Figur dafür der Grundstein sein. Eine fiktive Figur kann dieselben populistischen narrative verwenden wie Politiker, Aktivisten oder Extremisten. Da Sympathie ein riesiger Machtfaktor in der politischen Willensbildung der Bevölkerung ist, kann der Autor dies ebenfalls für sich nutzen, um die Schattenseiten einer Figur mithilfe einer sympathischen Inszenierung zu verschleiern. Menschen suchen in Filmen und Serien oft nach einer tiefgründigeren Moral und sind daher dort auch offen für Inspiration für den eigenen moralischen Kompass. Und das Beispiel des ukrainischen Präsidenten zeigt, dass ein Autor bereits jetzt die potenzielle Macht besitzt, mit einer fiktiven Figur in die politische Zukunft eines Landes einzugreifen.
Animes und Mangas sind ein Genre, was insbesondere bei jungen Menschen sehr beliebt ist. In Animes geht es sehr viel um moralische Grauzonen, Dilemmas und einer Verzerrung von Gut und Böse. Zwar helfen diese Geschichten auch dabei, sich mit vielen ethischen Fragen auseinanderzusetzen, doch sind diese Geschichten leider keine philosophischen Lehrfilme, sondern immer noch fiktive Erzählungen mit Figuren, zu welchen man eine emotionale Bindung aufbaut, was unter anderem zu der Akzeptanz von moralischen Tabubrüchen von dieser Figur führen kann.
Es ist zweifelsohne sehr wichtig, dass in der Öffentlichkeit sehr viel über Politik, Parteiprogramme etc. gesprochen wird, damit die Menschen sich immer mehr anhand von Fakten ihre Meinung bilden, anstelle von populistischen Reden. Wie man allerdings anhand meiner Ausführung feststellen kann, ist es ebenfalls sehr wichtig, dass man in der Öffentlichkeit und auch in Schulen viel mehr über die Moral und die Werte, welchen in Filmen und Serien dargestellt wird, spricht; dass gebildete Leute, sich zu diesen Themen und Werten äußern und diese für Jüngere und auch Ungebildetere einordnen, sodass man auch in diesem Teil der Medien, mit welchen wir uns täglich umgeben, möglichst wenig beeinflusst wird.
Denn Autoren besitzen nicht nur die Gabe, andere zu unterhalten; sie besitzen auch Macht – die Macht, Einfluss auf die politischen und moralischen Haltungen ihrer Leser/Zuschauer zu nehmen.
Literaturverzeichnis:
- Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus, in Zeitschrift für politische Theorie, Heft 2/2016, S 187-201 (online) https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/60218/ssoar-zpth-2016-2-muller-Was_ist_Populismus.pdf;jsessionid=3BB13D554D7326742ED39E491AD1FC36?sequence=1
- Nabers, Dirk/ Stengel, Frank A. (2017): Trump und der Populismus, E-Paper, Berlin, Deutschland: Heinrich-Böll-Stiftung
- Mikula, Stefanie (2020): Faszination Schurkerei: Zum Konzept sympathischer Bösewichte in Film und Theater, Masterarbeit, Universität Klagenfurt
- Liebers, Nicole (2021): Romantische parasoziale Interaktionen und Beziehungen mit Mediencharakteren, 1. Auflage, Baden-Baden, Deutschland: Nomos Verlagsgesellschaft
- Schmitz, Michael (2012): Machtfaktor Sympathie, in: Politik & Kommunikation, 01.10.2012, (online) https://www.politik-kommunikation.de/medien/machtfaktor-sympathie/
Jimenez, Fanny (2013): Warum Menschen von Gewalt in Filmen fasziniert sind, in: Welt - Springer, 02.04.2013, (online) https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article114934407/Warum-Menschen-von-Gewalt-im-Film-fasziniert-sind.html
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