Skip to main content

Ein Kommentar zu dem absurden Manifest für Frieden.

Die Publizistin Alice Schwarzer hat kürzlich in einem Interview in der Welt am Sonntag mit dem Chefkommentator Jacques Schuster einen weiteren Einblick in ihr Verständnis von Frieden und Krieg gegeben (Opens in a new window). Die kritischen Fragen von Herrn Schuster offenbarten jedoch nur weitere ideologische Matrjoschkas in der Rhetorik der feministischen Friedensaktivistin.

Das kontrovers diskutierte "Manifest für Frieden" und die Bewegung rund um Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht (Opens in a new window) werden von ihnen gerne als "Friedensbewegung" oder "Bürgerbewegung" bezeichnet. Die Bewegung stellt sich den "kriegsbesoffenen" Politikern und Rüstungsindustrien in den Weg, um die unmittelbare Gefahr eines "atomaren Infernos" und das daraus resultierende "Ende der Welt" zu verhindern, so die beiden Initiatorin. Man sei dem "Atomtod" noch nie so nahe gekommen, betonten sie in ihren Reden am Brandenburger Tor. "Wer keine Angst hat, ist entweder dumm oder zynisch." Dieser Ansatz, mit dem Schwarzer und Wagenknecht ihre Anhänger zu umgarnen versuchen, basiert auf einer geborgten Rhetorik, die vor allem dem Aggressor dient. Da wäre zum Beispiel die kremlnahe Argumentation des sogenannten Stellvertreterkrieges. Hierbei handle es sich nach Schwarzer und Wagenknecht um einen Kampf der NATO um die amerikanische Einflusszone. Ein von prorussischen Propagandisten oft genutztes Narrativ, das schon 2014 als Argumentationsgrundlage für die Annexion der Krim genutzt worden ist (Opens in a new window). Der Krieg, so Schwarzer und Wagenknecht, würde zwischen USA und Russland auf ukrainischem Boden ausgetragen. Die Ukraine ist nach dieser Prämisse nur ein Spielball eines andauernden Konflikts der großen Atommächte.

Der vermeintliche Aufstand von Schwarzer und Wagenknecht gegen das Establishment der "Kriegstrommler", "Rüstungsindustrien" sowie der "ukrainischen oligarchischen Kapitalisten" ist hier weniger als Revolte zu verstehen, sondern eher als "unique selling point" für die eigene Gesinnungskaste. Denn die Synthese der Idee eines radikalen Feminismus, sowie eines progressiven Kommunismus generiert hier vor allem eins: soziales Kapital. Sie kapitalisieren unter anderem durch das Kanalisieren von Sehnsucht nach einer komplexitätsreduzierten Welt. Durch das Schüren von Angst binden sie ihre Anhänger an ihren metaphorischen Rockzipfel und setzen sich dadurch unbewusst für die von Putin gepachtete „Wahrheit“ ein. Putins Wahrheit ist eine totalitäre Ideologie, synthetisiert aus einem nihilistisch-marxistischen Wirklichkeitsanspruch, der die individuelle Freiheit unterdrückt. Die reaktive Identität, die aus diesen Narrativen erwächst, ist formal gegen das westliche Verständnis von Freiheit gerichtet. Sie begründet sich auf der Idee eines postmodernen Anti-Amerikanismus, verschleiert durch eine linke Kapitalismuskritik. „Es ging uns gar nicht um einen Ausgleich zwischen Kiew und Moskau. Es ging dem Westen anscheinend nur darum, der Ukraine Luft für die Aufrüstung und Ausbildung ihrer Armee zu verschaffen“, erklärt Alice Schwarzer in Bezug auf das Minsker Abkommen in der Welt am Sonntag. „Das nenne ich auch einen Betrug, einen Betrug gegenüber Russland.“.

In Schwarzers Argumentation wird die USA und Russland gerne gleichgesetzt. Russland selbst nutzt seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ähnliche Argumentationen. Amerika habe ja auch den Irak und Afghanistan zu verantworten, man würde hier nicht anders handeln. Auch die im Frühjahr 2022 statt gefundenen „Friedensverhandlungen“ sind laut Wagenknecht und Schwarzer nicht an Russland gescheitert. „Noch im März und April 2022 waren die Ukraine und Russland dann kurz vor einer Verständigung. Im letzten Moment ist das vom Westen torpediert worden, wie wir heute wissen“, so Schwarzer und macht damit Boris Johnson und andere „westliche“ Funktionäre für die Fortsetzung des Krieges verantwortlich. Sie vergisst jedoch, wie richtig von Jacques Schuster angemerkt, die Kriegsverbrechen in Bucha.

Dieses Ungleichgewicht der Gewalt wird von den Autorinnen des Manifests gerne übersehen; beide Parteien seien mitverantwortlich einen "Kompromiss" herbeizuführen. Doch ein "Kompromiss", wie er auch im Manifest bezeichnet wird, wäre im Falle des russischen Angriffskriegs das metaphysische Ende der Revolte gegen die Tyrannei und der physische Untergang der Ukraine. Der dynamische Prozess hinter diesem "Aufstand" ermächtigt den Tyrannen, sein solipsistisches Wirklichkeitsverständnis einem ontologischen Status zu verleihen. Denn Schwarzer und vor allem Wagenknecht werden in den russischen Propagandasendern gerne zitiert und als unterdrückte Stimme des Westens skizziert. Ihre Aussagen untermauern auch dadurch die Kreml-Propaganda und somit das politische Selbstverständnis Putins, der sich als Underdog im Kampf gegen den Nazi-besetzten kapitalistischen Westen sieht. Die Argumente ihres Manifests münden nicht in dem Verständnis für die unterdrückten Ukrainer, sondern in einem dysfunktionalen Kollektivismus, der sich selbst als Opfer skizziert. Die sophistischen Anekdoten von Schwarzer und Wagenknecht unterstreichen dies wie Obertöne eines russischen Walkürengesangs. Sie sehen sich als unverstandene Freiheitskämpferinnen, die trotz "Tsunamis an Beschimpfungen, Verdrehungen und Diffamierung" sich nicht einschüchtern lassen würden. Denn die "psychologische Vergiftung des politischen Klimas" und das Schüren eines "Gut-und-Böse-Denkens", das Gegner "dämonisiert", würde einen Rückfall in die "Barbarei" darstellen, gegen die man sich behaupten muss. Hiermit sind nicht etwa die russischen Gräueltaten und Propaganda gemeint, sondern die hiesige Berichterstattung durch Medien und Politik.

Wird das Ideengerüst von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht mit Albert Camus' „Revolte"-Begriff kontextualisiert, wirkt diese Hingabe für den Tyrannen absurd. Nach Camus kann erst die Auflehnung gegen das Absurde Revolte entstehen lassen. Einem Tyrann die Hand zu reichen, ist schlicht kein Identitätsmerkmal einer "Friedensbewegung". Dieser unvereinbare Widerspruch führt sich ad absurdum, wenn der Mensch zu einem Werkzeug einer Ideologie geworden ist, ohne es zu merken. Die hier zugrunde liegende "Conditio humana" - die keineswegs auf eine bestimmte Wesensnatur zu begrenzen ist -, mag durch einen Willen zum Sinn geprägt sein. Der Sinn jedoch, der zwischen den Zeilen von Schwarzers und Wagenknechts Manifest zu destillieren ist, fehlt die dialektische Reife und die wohl temperierte Balance. Sie sind Teil der Spitze einer Querfront geworden, die für sie selbst noch ein blinder Fleck zu sein scheint. Denn ihr dichotomisches Weltbild sorgt nicht zuletzt dafür, dass Radikale, Antisemiten, Holocaustleugner und Demokratiefeinde mit ihnen für eine vermeintlich gleiche Sache kämpfen. Der schmale Grat, auf dem sich die beiden Verfasser des Manifests bewegen, ist der Weg in die Quantifizierung ihrer eigenen Deutungshoheit. Ein vermeintlicher Aufstand für Frieden ohne universelle Werte. Ein Manifest der Absurdität.

Doch es ist Krieg. Menschen sterben. Bucha. Mariupol. Wlonowacha. Cherson. Luhansk. Mykolajiw. Dnipropetrowsk. Kirowhorad. Wolyn. Winnyzja. Odessa. Tscherkassy. Poltawa. Riwne. Kiew. Tschernihiv. Lwiw. Sumy. Schytomyr. Zaporizhzhia.

Topic Gesellschaft

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of ex machina and start the conversation.
Become a member