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Überfordert, Unsichtbar, Verdrängt

Liebe Leser:innen,
erinnern Sie sich noch an Ihr Schülerpraktikum? Ich erinnere mich gut.
Ich hielt eine Schusswaffe in der Hand, richtete sie auf eine Zielscheibe, die aussah wie ein Mensch, und drückte ab. 15 Jahre war ich alt und etwa 1,53m groß. Ich hatte nie das Ziel, später zur Polizei zu gehen. Ich wollte wissen, was es heißt, Polizistin zu sein. Am nächsten Tag fuhr uns ein Polizist, kurz vor der Rente, Praktikant:innen in einer Wanne durch das Frankfurter Bahnhofsviertel. Als er in der Niddastraße einen ihm bekannten Drogenabhängigen sah, ließ er das Fenster herunter: „Bist du drauf?“ Der Polizist wendete. Wir fuhren nach Hanau. Hier sei der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund noch höher als in Offenbach, erzählte er.

Es gefiel mir nicht, wie er über die Menschen redete, zu denen er zuvor freundlich gewesen war. Es gefiel mir nicht, dass er mit uns sprach, als würden wir morgen sein Land beschützen. Es gefiel mir nicht, was es hieß, Polizistin zu sein.

2021 sprach ich noch einmal mit einem Polizisten. Er war am 19. Februar 2020 in Hanau eingesetzt. Die Polizei hatte versagt. Ich wollte verstehen, wie das für ihn war. Ich weiß jetzt, welche Musik er hört und wo er politisch steht. Ich weiß, dass sein Freund mit mir zu Schule ging. Aber noch immer weiß ich nicht, was genau er machte in der Nacht des Anschlags und warum. 

Vor vier Jahren war für zehn Tage noch alles gut für die Angehörigen von Said Nesar Hashemi, Hamza Kenan Kurtović, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz und Kaloyan Velkov. Heute ist der 9. Februar 2024 und wir lesen Geschichten über wohl situierte AfD-Wähler, über Menschen im Krieg und auf der Flucht vor ihm. Über Menschen, denen das Recht auf ein gutes Leben verwehrt bleibt.

Ihre
Julia Reinl

PS: Nach unserem “Satz der Woche” haben wir unten im Newsletter noch eine kleine Überraschung für Sie. Also: Nicht aufhören zu lesen!

Ein Leben für Großschirma

Volkmar Schreiter war der Bürgermeister einer sächsischen Kleinstadt. Er war ein Mann mit einem freundlichen Gesicht und einem dicken grauen Schnauzbart. Er stellte sich entschlossen gegen die AfD – bis er nicht mehr konnte.

Anne Lena Mösken · Freie Presse (€) · 15 Minuten (Opens in a new window)

“Lasst sie mal machen”

Patrick Roetzel führt eigentlich ein gutes Leben. Er ist Anwalt und Familienvater. Er mag Sport und Wochenenden auf Mallorca. Im Herbst will er die AfD wählen. Aber warum?

Elisabeth Raether · Die Zeit (€) · 15 Minuten (Opens in a new window)

Am Rand von Silver City

Der Wal-Mart-Konzern hat 2023 über 155 Milliarden Dollar erwirtschaftet. Auch in Silver City, New Mexico, gibt es ein Wal-Mart Supercenter. Auf dem Parkplatz stehen Autos, deren Scheiben mit Alufolie abgedeckt sind, weil Menschen darin leben. Über eine Stadt, in der Menschen vom American Dream nur wenig mitbekommen.

Johannes Streek · taz · 15 Minuten (Opens in a new window)

Satz der Woche

«„Churros, churros, churrooos“, ruft C. in den kalten Abend hinein. Vor ihm steht ein klappriger Metallwagen, auf dem er das Fettgebäck zu einem Turm drapiert hat. Neben ihm kauert sein Sohn.»

Ann-Kathrin Nezik · Süddeutsche Zeitung (€) · 15 Minuten (Opens in a new window)

Wie haben Sie das gemacht, Moritz Aisslinger?

Immer wieder fragen wir Autor:innen besonders beeindruckender Texte, wie sie sie recherchiert, geschrieben, die Geschichten und ihre Menschen erlebt haben. Dieses Mal: Moritz Aisslinger. Das Interview führte Julia Belzig.

Mit 43 Mann, 5867 Kühen und einem kaputten Motor auf einem Transportschiff durch den Pazifik in einen Taifun steuern, was kann da schiefgehen? So ziemlich alles, zeigt Moritz Aisslinger in seiner sorgfältig recherchierten Reportage „Dem Sturm ausgeliefert“ (Opens in a new window), die über viele Ozeane führt und vor allem eins aufdeckt: die dreckigen Machenschaften in der globalen Schifffahrt. Das Reporter*innenforum hat die Zeit-Reportage als Beste Reportage 2023 gekürt. Wie haben Sie das gemacht, Moritz Aisslinger?

ReportagenFM: Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Moritz Aisslinger: Ich habe eigentlich zu einem ganz anderen Thema, nämlich Monsterwellen, recherchiert. Das ist ein Meeresphänomen; Wellen, die mitten auf dem Meer auftauchen können. Sie sind doppelt, dreifach, vierfach so hoch wie normale Wellen und können Schiffe zum Kentern bringen. In dem Zug habe ich verschiedene Newsletter über die Schifffahrt abonniert. Und da habe ich dann im September 2020 die Meldung gelesen, dass ein Schiff mit über 5000 Kühen und 43 Mann untergegangen ist. Nur drei Männer konnten lebend gerettet werden, zwei haben überlebt. Ich habe dann meiner Ressortleitung gesagt, dass ich das Thema viel relevanter finde.Auf diesem Schiff, der Gulf Livestock 1, war der deutsche Lukas Orda, der als Tierarzt gearbeitet hat. Das hat nochmal mehr dafür gesprochen, diese Geschichte zu machen. Ich habe dann seiner Familie geschrieben und mich zum Zoomen verabredet. Die Familie kommt ursprünglich aus Uerdingen, Krefeld und ist 2008 nach Australien ausgewandert. Da die beiden in einem Krankenhaus im Outback leiten, war es relativ leicht, an die Kontaktinformationen zu kommen.

Was war die größte Herausforderung während der Recherche?

Es war schwer, jemanden von der philippinischen Seite zu bekommen, der bereit war, mit mir zu sprechen. Der Großteil der Schiffsbesatzungen der globalen Schiffsflotte besteht aus Menschen, die aus China, Kambodscha oder den Philippinen kommen, weil die Schifffahrtsunternehmen die Arbeitskräfte meist so billig wie möglich haben wollen. Deshalb wollte ich auf jeden Fall mit den Familien der philippinischen Opfer sprechen. Ich habe lange gesucht und von 15 der 38 Verunglückten die Angehörigen kontaktiert. Und fast alle haben mir abgesagt oder gar nicht erst geantwortet. Sie haben Angst vor Repressionen der Schifffahrtsindustrie. Den Kontakt der philippinischen Familie habe ich letztendlich über die Ordas bekommen.

Wie haben Sie das Vertrauen der Angehörigen gewonnen?

Ich war mit ihnen immer wieder in Kontakt, habe nachgefragt. Die Ordas leben in Australien, wegen der sehr strengen Einreiseregelung konnte ich sehr lange da nicht hinreisen, um mit ihnen zu sprechen. Ich wusste aber, wenn ich diese Geschichte machen will, dann muss ich nach Australien zu dieser Familie. Das war das Wichtigste, dass wir uns persönlich kennengelernt haben und dass sie gesehen haben, dass ich gewillt bin zu versuchen, dieses Unglück zu rekonstruieren und auch, dass ich ihren Sohn kennenlernen wollte, der dort verunglückt ist. Bei der Tante von Juan Santos war es auch einfach wichtig, dass ich hingefahren bin. Ich glaube, wenn man die Möglichkeit hat, sich für die Leute Zeit zu nehmen, wissen die das zu schätzen. Erst als ich hingeflogen bin, haben sie mir zum Beispiel die Whatsapp Chats gezeigt. Die waren wichtig, um die Stunden und Tage vor dem Unglück zu rekonstruieren.

Das Thema internationale Schifffahrt ist ziemlich komplex. Was war Ihre Strategie, nicht den Überblick zu verlieren und das Thema runterzubrechen und die Zusammenhänge zu erklären?

Ich habe viel zu dem Thema gelesen, mit einem Kapitän geredet, mit Experten gesprochen. Ich habe einen Anwalt von Opfern von Schiffsunglücken befragt, wie es auf diesen Schiffen zugeht. Das habe ich zusammengefasst und alle meine Notizen abgespeichert. Und ich wusste, dass irgendwann die Grenzen wieder öffnen und ich mit den Angehörigen sprechen kann. Dann habe ich versucht, diese ganzen Informationen so verständlich wie möglich in dem Artikel aufzuschreiben.

Hätten Sie im Nachhinein irgendwas anders gemacht?

Für den Text habe ich mit Matthias Dabelstein gesprochen, seine Firma hat für Gulf Navigation das technische Management der Gulf Livestock 1 übernommen. Ich hätte gerne persönlich mit ihm gesprochen und nicht übers Telefon. Ich hätte mir gerne seine Reederei angeschaut, das Büro, seine vielen teuren Autos. Ich glaube, dann hätte ich ihn als Person besser beschreiben können. Aber er hat sich geweigert. Und wenn keine Pandemie gewesen wäre, dann wäre ich wahrscheinlich auf die Philippinen geflogen und hätte dort noch mehr recherchiert.

Über den Autoren

Moritz Aisslinger, Jahrgang 1986, hat Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet seit 2016 bei der ZEIT und ist dort Reporter im Dossier.

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