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Queerer Kanon #2: Essex Hemphill, Lobotomien & ein Trip ins Sanatorium

Liebe Leser*innen

herzlich willkommen zum zweiten Queerer Kanon? -Newsletter. Wir freuen uns, dass noch einige Abonnent*innen hinzugekommen sind. Mitte März haben wir in einem Sonder-Newsletter zum 129. Geburtstag des britischen War Poets Wilfred Owen dessen queeres Leben beleuchtet. Den Text findet ihr hier (Opens in a new window).

In dieser Ausgabe stellt Tobi Essex Hemphill vor, einen der wichtigsten queeren amerikanischen Dichter der 1980er- und 90er-Jahre, dessen Werk erstaunlich aktuell ist und in Deutschland leider bislang noch nicht rezipiert wurde. Darüber hinaus setzt sich Marlon mit dem Thema Lobotomie in zwei queeren Romanen von Yael Inokai und Yves Navarre auseinander.

Eine queere Neuerscheinung führt uns ins Sanatorium und am Ende blicken wir auf Texte und Posts, die uns diesen Monat beschäftigt haben. 

Wir freuen uns auf euer Feedback, eure Fragen, Vorschläge und Kommentare. 

Something pure to emulate: Essex Hemphill (1957-95)

"It is not enough to tell us that one was a brilliant poet, scientist, educator, or rebel. Whom did he love? It makes a difference. I can't become a whole man simply on what is fed to me: watered-down versions of Black life in America. I need the ass-splitting truth to be told, so I will have something pure to emulate, a reason to remain loyal.” 

Dieser Absatz aus Essex Hemphills Essay Loyalty steht symptomatisch für das Schaffen des 1995 verstorbenen Dichters und Aktivisten. Darin lässt sich Hemphills poetologisches Prinzip erkennen; das Bedürfnis, freimütig Zeugnis abzulegen, aufzuklären, Sichtbarkeit zu schaffen, die Lyrik als Verhandlungsort des Spannungsfelds der Identität(en) zu nutzen. 

Sexuelles Begehren trifft auf Gesellschaftskritik

Hemphills Werk löst konsequent die Grenze zwischen dem Politischen und dem Privaten auf. Es adressiert Homophobie, Rassismus und Klassismus, verbindet sexuelles Begehren mit Gesellschaftskritik, ist explizit und körperlich, konfrontativ und erotisch. Exemplarisch hierfür ist etwa seine Wahl des Begriffs "ass-splitting" als Metapher im obigen Zitat, der eigentlich eine raue Form des Analsex bezeichnet.

Hemphill wurde 1957 in Chicago geboren und wuchs in Washington D. C. auf, wo er den Großteil seines Lebens verbringen sollte, bevor er sich in Philadelphia niederließ. Die Lyrik bot ihm bereits in seiner Jugend eine Zuflucht vor den ärmlichen Verhältnissen, in denen er aufwuchs und dem Gefühl des Andersseins, das sich aus seinen Erfahrungen als Schwarzer Jugendlicher und seiner aufkeimenden Homosexualität, speiste. 

Nach einem abgebrochenen Journalismusstudium wurde er Teil der Washingtoner Kunstszene und präsentierte seine Spoken-Word-Gedichte (Opens in a new window) unter anderem bei Open-Mic-Nights und auf verschiedenen Kleinkunstbühnen. 1979 gründete er gemeinsam mit Kathy Elaine Anderson das Nethula Journal of Contemporary Literature, das zeitgenössischen Schwarzen Autor*innen eine Plattform bot. Ein Jahr später outete er sich im Rahmen einer Lesung öffentlich als homosexuell.

Chronist seiner Zeit

Anfang der 1980er-Jahre begann Hemphill eigene Gedichtbände zu veröffentlichen. Größere Aufmerksamkeit bescherte ihm die Publikation einiger seiner Werke in Joseph Fairchild Beams Anthologie In the Life (Opens in a new window) (1986), einer als bahnbrechend geltenden Sammlung von Texten Schwarzer, schwuler Autoren. 

Beam, ein enger Freund Audre Lordes, war ein angesehener und einflussreicher Journalist, Aktivist, Autor und Dichter, der wie Hemphill Rassismus, Klassismus und die Homophobie innerhalb Schwarzer Communites anprangerte. Er spielte eine wichtige Rolle in Hemphills Leben und Werk, sowohl als Idol und Mentor als auch als Freund und kurzzeitiger Liebhaber. 

Nachdem Beam 1988 an einer AIDS-bedingten Krankheit starb, widmete Hemphill ihm das Gedicht When My Brother Fell, eine Mischung aus Klagelied und Fanal gegen die Ignoranz der US-amerikanischen Regierung den Erkrankten und Verstorbenen gegenüber.

When my brother fell / I picked up his weapons / and never once questioned / whether I could carry / the weight and grief, / the responsibility he shouldered. / I never questioned / whether I could aim / or be as precise as he. / He had fallen, / and the passing ceremonies / marking his death / did not stop the war

(erste Strophe)

Mit "sewing quilts" referenziert Hemphill den AIDS Memorial Quilt (Opens in a new window). Die Kriegsmetaphorik, die das Gedicht prägt, durchzieht sowohl viele seiner Texte über die AIDS-Epidemie als auch den damaligen Diskurs. Sie illustriert den verzweifelten Kampf von Betroffenen und deren Angehörigen um Unterstützung und Anerkennung. 

Die Auswirkungen der AIDS-Krise in Hemphills Werk

Die Auswirkungen von HIV und AIDS auf die queeren und Schwarzen Communities und die damit einhergehende Stigmatisierung und Untätigkeit politischer wie gesellschaftlicher Institutionen, thematisierte der Dichter bereits in seinen Bänden Earth Life (1985) und Conditions (1986). Im Gedicht "Now We Think" adressierte er die Angst, die mit dem Aufkommen von HIV/AIDS in das Sexualleben vieler schwuler Männer einzog:

Now we think / as we fuck / this nut / might kill us. / There might be / a pin-sized hole / in the condom. / A lethal leak.

We stop kissing / tall dark strangers, / sucking mustaches, / putting lips / tongues / everywhere. / We return to pictures. / Telephones. / Toys. / Recent lovers. / Private lives.

Now we think / as we fuck / this nut might kill. / This kiss could turn / to stone.

Im Jahr 1991 gab Hemphill die Anthologie Brother to Brother: New Writing by Black Gay Men heraus, eine Fortsetzung von Beams In the Life, die er nach dessen Tod vollendete. Ein Jahr später veröffentlichte er mit Ceremonies:  Prose and Poetry sein umfangreichstes Werk, das sowohl bereits veröffentlichte Gedichte als auch neue Lyrik und Prosatexte enthielt. 

In den darin enthaltenen Essays To Be Real und Does Your Mama Know About me setzt er sich unter anderem am Beispiel von Madonnas Song Vogue mit kultureller Aneignung auseinander und kritisiert die Fetischisierung Schwarzer Männerkörper in der schwulen Community und im Werk des Fotografen Robert Mapplethorpe.  

Lebenszeichen als Abschied

Kurz nach der Publikation von Ceremonies erhielt er mehrere Stipendien prestigeträchtiger Institutionen und eine Position als Gastdozent in Santa Monica. 

Hemphill dokumentierte seine eigene AIDS-Erkrankung in seinem epischen Gedicht Vital Signs, das im Jahr 1993 entstand. Darin reflektiert er sein bisheriges Leben und setzt sich mit dem Verschwinden der lebenswichtigen Helferzellen (auch T-Zellen genannt) auseinander, das symptomatisch für die Krankheit ist:

I am sorting out / my patterns of habit, / those things genetics / cannot precisely pinpoint, / those things religion / cannot precisely refute

Those things / the paramedics cannot save.

This kiss, this cum, / this single T cell / I cling to, / these are my referents, / this is my religion, / my resistance, / my desire.

(Auszug aus Vital Signs XXIX)

Von Sommer 1994 an verschlechterte sich Hemphills Gesundheitszustands zusehends. Am 4. November 1995 starb er an Komplikationen, die im Rahmen seiner Krankheit auftraten.  

Einfluss und Filmauftritte

Essex Hemphills Werk hat vor allem in den USA viele Autor*innen, Dichter*innen und andere Künstler*innen beeinflusst. Unter ihnen etwa der queere Schwarze Dichter Jericho Brown, der Hemphill in seinem 2020 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Band The Tradition das Gedicht After Essex Hemphill (Opens in a new window) gewidmet hat. Auch der queere Dichter Danez Smith (Opens in a new window) zählt Essex zu seinen Vorbildern. 

Darüber hinaus wirkte Hemphill in den Dokumentationen Tongues Untied (Opens in a new window) (1989) und Black is... Black Ain't (Opens in a new window) (1991) seines Freundes Marlon Riggs mit und trat 1989 in Isaac Juliens Film Looking for Langston auf, der sich mit Schwarzer und schwuler Identität im Zeitalter der Harlem Renaissance auseinandersetzt.

Essex Hemphills Gedichte und Texte wurde bislang nichts ins Deutsche übersetzt. Auch die englischen Ausgaben seiner Werke sind selbst antiquarisch nur schwer erhältlich. (Tobi)

Ein simpler Eingriff und Vorbeugender Eingriff: Ein Vergleich

Die Lobotomie ist ein 1936 erstmals angewandtes neurochirurgisches Verfahren. Durch die Augenhöhlen wurden mit einem Eispickel-ähnlichen Instrument bestimmte Nervenbahnen in der Hirnregion durchtrennt. Durch das technisch simple Verfahren sollten psychische und psychiatrische Erkrankungen geheilt werden. 

Hauptsächlich diente die Operation aber dazu, neurodiverse Menschen und alle in irgendeiner Form von der Norm abweichende Personen ruhig zu stellen. Der Eingriff war nicht nur wirkungslos, er ließ seine Opfer oftmals schwerstbehindert zurück.

Sowohl Yael Inokais Ein simpler Eingriff als auch Yves Navarres Vorbeugender Eingriff  (aus dem Französischen von Christel Kauder) setzen sich – wenn auch sehr unterschiedlich – mit diesem Kapitel der Medizingeschichte auseinander. Beide Bücher hier miteinander zu vergleichen ist Teil meines Leseziels für 2022, verstärkt thematisch zusammenhängender zu lesen, Neuerscheinungen mit Klassikern oder auch mit in Vergessenheit geratenen Büchern zu vergleichen. 

Um mich intensiver mit einer Thematik auseinandersetzen zu können und um zu sehen, wie unterschiedliche Autor*innen über Zeit, Raum und oft auch Geschlecht hinweg Zugang zu ihren Themen finden, was sie eint und was sie unterscheidet.

Eine Inhaltsangabe möchte ich mir an dieser Stelle ersparen, Yael Inokais Roman haben Tobi und ich hier (Opens in a new window) und hier (Opens in a new window) vorgestellt, die Rezension zu Yves Navarre kann hier (Opens in a new window) nachgelesen werden. Dieser Text will auch keine literaturwissenschaftlichen Ansprüche erfüllen. Vielmehr möchte ich einige Beobachtungen und Überlegungen festhalten, zur Diskussion einladen und (hoffentlich) Interesse für beide Texte wecken.

Ort und Zeit

Ein Aspekt von Ein simpler Eingriff, der mit am häufigsten in Kritiken und Posts erwähnt wurde und wird, sind die fehlenden zeitlichen Marker.  Es ist möglich, den Text so zu lesen, dass er in der Vergangenheit angesiedelt ist (irgendwann in den 50er Jahren), dass er in einer dystopischen Zukunft spielt, oder dass die Ereignisse einer Parabel gleich außerhalb der Zeit stattfinden. 

Vorbeugender Eingriff ist dagegen auf ein festes Datum datiert: der 09. Juli 1980. Navarre beschreibt das politische Klima von einem Frankreich, in dem Kabinettsmitglieder sich teilweise nur kurz halten können und auch jemand wie Familienoberhaupt Henri Prouillan einen Ministerposten für ein halbes Jahr erkämpfen kann. Diese zeitliche Einordnung hat m.E. auch viel damit zu tun, wie das Thema Sexualität in beiden Romanen verhandelt wird.

Sexualität und Queerness

Die Liebesgeschichte zwischen den Krankenschwestern Meret und Sarah ist in mehrerlei Hinsicht zentral: Ein simpler Eingriff besteht aus drei Teilen – benannt nach den drei Frauen, die in dem Roman mit begrenztem Personal im Mittelpunkt stehen. 

Im zweiten Teil, also genau in der Mitte des Buches, wird von der Liebe er beiden Frauen berichtet. Es ist genau diese Liebe, die in Meret Zweifel über die Anwendung des Eingriffs säen, die sie begreifen lässt, dass, auch wenn sie allen Anweisungen Folge leistet, sie ebenso dem Eingriff unterzogen werden könnte.

Sexualität findet in Vorbeugender Eingriff am Rand statt. Der Eingriff selbst liegt bereits 20 Jahre zurück. Bertrand, der auf Anweisung seines Vaters Henri Prouillan operiert wurde, um ihn von seiner schändlichen Homosexualität zu heilen, ist seit dem Eingriff schwerstbehindert. 

Der Roman ist aus den Perspektiven der verschiedenen Familienmitglieder geschrieben, Bertrand selbst kann nicht mehr das Wort ergreifen, die anderen sprechen über ihn. Lediglich in ein paar Briefen kommt Bertrand selbst zu Wort. 

Trotzdem würde der Roman ohne die Bertrands so nicht funktionieren. Immerhin sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse, die es überhaupt möglich machen, dass der Eingriff stattfindet – und lediglich Bertrand mit den Konsequenzen leben muss. Es wäre sicherlich auch gewinnbringend, diesen Aspekt im Hinblick auf Klasse zu untersuchen.

Wie Navarre mit der Thematik umgeht, hat vermutlich verschiedene Gründe, einer von ihnen ist wohl auch der Vorstellung von nationaler Identität geschuldet. Denn für viele französische Zeitgenoss*innen Navarres war man vor allem eins: französisch. 

Andere Vorstellungen von Identität waren dem hintenangestellt. Das passt auch zu Navarres Einschätzung zur Rezeption seines Schaffens: „Man würde aus mir gerne einen homosexuellen Autoren machen. Man hat mich vermarktet. Und man hat mich vergessen zu lesen.“

Nicht übersehen werden sollte, dass Navarre sich durchaus für die gesellschaftliche Gleichstellung queerer Menschen eingesetzt hat. Zwischen 1981 und 1989 war er der Wortführer der Homosexuellen. Als Autor fühlte er sich in dieser Rolle allerdings missverstanden und wirkungslos.

Natürlich wird queere Literatur noch immer als Marginalliteratur wahrgenommen, trotzdem bringt es wenig verallgemeinernd über Literaturproduktion und -rezeption zu sprechen. Tendenziell (!) lässt sich durchaus beobachten, dass sowohl Verlage als auch Leser*innen anders mit queerer Literatur umgehen. 

Es ist inzwischen durchaus möglich, dass ein Buch, dessen Queerness zentral für die Geschichte ist, in einem großen Publikumsverlag erscheint und von nicht-queeren Menschen gelesen und rezipiert wird. Queerness bedeutet nicht mehr unbedingt Nischenliteratur. 

Das sah im Frankreich (und anderorts natürlich auch) der 80er Jahre noch anders aus. Selbstverständlich gibt es noch immer ausreichend Gegenbeispiele, das soll an dieser Stelle auch überhaupt nicht infrage gestellt werden.

Das Patriarchat und die Frage der Schuld

Queere Literatur hat in irgendeiner Form immer auch etwas über das Patriarchat zu sagen. Letzteres wird in beiden Romanen jeweils von einen einzelnen Mann dargestellt. In Ein simpler Eingriff ist es der Chefarzt, dem Meret assistiert, und der sie regelmäßig in sein Büro einlädt, um etwas über ihre Sicht der Dinge zu lernen. 

Diesen Szenen liegt zu Beginn noch eine gewisse Sanftheit zugrunde. Die Treffen scheinen auf dem wahrhaftigen Interesse zu basieren, den Patient*innen zu helfen und auch Meret als Mensch kennenzulernen. Doch auch dieser Eindruck kippt irgendwann ins Gegenteil: Es geht darum, den Eingriff zu optimieren, also das System, das diese Frauen gefügig macht, nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern noch zu stärken.

Auch in Vorbeugender Eingriff lauert das Patriarchat in Form von Henri Prouillan im Hintergrund. Seit dem Eingriff haben sich die verbleibenden Kinder des Patriarchaten par excellence von diesem abgewandt. Trotzdem hat er seine Klauen noch immer in ihnen vergraben. Es ist ihnen unmöglich, sich aus seinem Denken zu befreien, auch weil sie nicht vollends verstehen, wovon sie sich überhaupt befreien wollen.

Und damit stellt sich letzten Endes die Frage der Schuld: Meret assistiert bei mehreren der Operationen, bis erste Zweifel in ihr aufkommen. Später ist sie es, die Opfer desselben Eingriffs werden könnte. Erst zu diesem Zeitpunkt wird sie sich der Gefahr bewusst, die von dem Chefarzt und seinem Eingriff ausgehen.

Die Kinder von Henri Prouillan, die zum Zeitpunkt der Operation an Bertrand bereits erwachsen waren, sprechen sich allesamt von jeglicher Schuld frei. Was nichts daran ändert, dass diese letztlich ihr Leben bestimmt. Denn auch sie wussten von der ständigen Bedrohung, die von ihrem Vater ausgeht. Und selbst Bertrand scheint vor dem Eingriff gewusst zu haben, dass es sich nicht um eine Operation handelt, die einen angeblichen Hirntumor entfernen sollte.

Das heißt natürlich nicht, dass die Autor*innen in irgendeiner Art und Weise argumentieren, dass queere Menschen für ihre Unterdrückung selbst verantwortlich sind. Vielmehr – so scheint es zumindest mir – geht es darum zu zeigen, wie schwierig es ist, sich von den oftmals unsichtbaren Fesseln eines Systems zu befreien und dieses System überhaupt als solches zu erkennen. 

Und Literatur ist schon immer der beste Weg gewesen, um unsere gesellschaftlichen Realitäten abzubilden, zu verhandeln und zum Gespräch einzuladen. (Marlon)

Out & Proud: Aktuelles und Neuerscheinungen

Abi Palmer: Sanatorium (übersetzt von Astrid Köhler & Henrike Schmidt, ink press)

Abi Palmers Buch Sanatorium entzieht sich auf  faszinierende Weise den Zuschreibungen. In ihrem Text fließen Autofiktion, Essay, Lyrik und Korrespondenz so organisch zusammen, wie Schwefel und Thermalwasser in den Heilbädern Budapests. In solch einem hält sich die chronisch kranke Erzählerin dank eines Rehabilitationsstipendiums für vier Wochen auf. 

Tägliche Anwendungen sollen ihren Körper stärkern, dem es oft an der Kraft fehlt, den Alltag zu bewältigen. Das Sanatorium nebst Grandhotel auf der Margareteninsel umwebt der Charme vergangener Tage. Beherzte Therapeutinnen, ein Dinnerorchester nebst aufdringlichem Geiger und eine Schar älterer Damen, die auch das Solebad in vollem Makeup besteigen, bevölkern die Umgebung.

Zurück in London versucht die Erzählerin ihren Zustand mit Hilfe einer aufblasbaren Badewanne zu lindern. Dabei reflektiert sie ihre Vergangenheit und Sexualität vor dem Hintergrund eines Körpers, der sich den Normierungen des (vermeintlich) Gesunden widersetzt. 

Letzteres in einer Art Korrespondenz mit der christlichen Mystikerin Teresa von Ávila, einer katholischen Heiligen, die, so der akademische Konsens, Beziehungen mit Frauen unterhielt und der unter anderem Vita Sackwille-West eine Biografie widmete (Adler und Taube, 1943).

Sanatorium ist trotz seiner Thematik ein bemerkenswert leichtes, humorvolles, sehr poetisches Buch über körperliche Autonomie, ein klassistisches Gesundheitssystem und den Unterschied zwischen Wellness und Wohlbefinden. 

Neben der sehr gelungenen Übersetzung haben Astrid Köhler & Henrike Schmidt ein informatives Nachwort über die Wellnessgesellschaft, Ungarns Bäderkultur und die Relevanz von Achtsamkeit in der Übersetzung beigesteuert. (T)

Queere Freuden

Hier möchten wir auf Texte, Posts und andere Formate aus dem queeren Themenkosmos verweisen, die uns in den letzten Wochen beschäftigt haben.

Das Verschlagworten als politischer Akt: in Vancouver haben Bibliothekar*innen ein eigenes Verschlagwortungssystem entwickelt, um queere Literatur sichtbar zu machen und so vor allem jungen Menschen den Zugang zu erleichtern und Literatur zu finden, mit der sie sich identifizieren können. Der Artikel ist auf französisch, kann über Google Translate aber leicht direkt im Browser übersetzt werden.

https://ici.radio-canada.ca/nouvelle/1868751/catalogage-classement-classification-livres-lgbtq-bibliotheques (Opens in a new window)

Der Maler Kristian Zahrtmann gehörte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu den prestigeträchtigsten Künstlern Dänemarks. Sein Werk ist durchzogen von einem beeindruckenden queeren Selbstverständnis, zu einer Zeit, in der Homosexualität verfolgt wurde. In ihrem im letzten Jahr veröffentlichten Roman Adam i Paradis, der unter anderem für den Preis des Nordischen Rats nominiert wurde, erzählt die dänische Schriftstellerin Rakel Haslund-Gjerrild das Leben Zahrtmanns aus seiner eigenen Perspektive. Das Buch wird derzeit von Andreas Donat (Opens in a new window) für den Albino Verlag übersetzt. Das dänische Kunstjournal Perspective hat Zahrtmann vor drei Jahren ein erleuchtendes queeres Portrait gewidmet (englisch). 

https://perspective.smk.dk/en/life-work-and-home-stead-queer-portrait-kristian-zahrtmann (Opens in a new window)

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