Die fehlende Meinungsfreiheit
Moin und Huhu zur vierten Ausgabe von “Wie Rechte reden”!
diesmal sind wir wirklich aktuell mit unserem Thema: Meinungsfreiheit.
Gibt es sie noch oder gibt es sie nicht? Das wollen wir hier nicht klären, denn wir sind keine Faktenchecker:innen, sondern Narrativ-Erklärer:innen.
Lasst uns gemeinsam einen Blick darauf werfen. 👇
Bleibt achtsam miteinander! 🤩
Johannes & Maria
Worum geht’s diesmal?
Thomas Gottschalk nimmt Abschied: Am Samstagabend hat der 73-Jährige zum letzten Mal “Wetten, dass…?” moderiert. Warum es seine finale Show war? Er begründete das so:
“Inzwischen rede ich zu Hause anders als im Fernsehen. Und das ist keine tolle Entwicklung. Bevor hier ein verzweifelter Aufnahmeleiter hin- und herrennt und sagt: ‚Du hast wieder einen Shitstorm hergelabert‘, da sage ich lieber gar nichts mehr.”
Gottschalk sieht sich offenbar als Opfer der Sprachpolizei oder sogenannten Cancel Culture, weshalb er im TV nicht mehr so sprechen könne, wie zu Hause.
Was ihn nicht abhielt, während seiner letzten Show unter anderem zu Shirin David zu sagen, dass er ihr die Feministin gar nicht angesehen habe, zu einem 14-Jährigen im Rollstuhl, der Junge sei daran “gefesselt” oder zu Cher: “Nowadays you’re really afraid to touch a girl.”
Online verurteilen viele die Aussagen Gottschalks als unangenehm und unangemessen (Abre numa nova janela).
Das ist Widerspruch. Kein Angriff auf die Meinungsfreiheit. 🤯
Dass dennoch viele Menschen das so empfinden, nutzen Rechte aus.
Wer spricht da?
Hier wollen wir gleich klarmachen: Nein, Gottschalk ist sicherlich kein Rechter. Aber er hat in seiner Show das Narrativ einer unfreien Gesellschaft bedient. Live. Vor rund zwölf Millionen Menschen.
Sein “Angebot” haben viele rechte Akteure dankend angenommen. Wie das rechtsextreme COMPACT-Magazin von Jürgen Elsässer, das bei der Vernetzung der Neuen Rechten und ihrem gemeinsamen Ziel, einer sogenannten “Kulturrevolution von rechts (Abre numa nova janela)”, eine wichtige Rolle spielt.
Oder Nius, das erst kürzlich von Übermedien als “Demagogen-Portal (Abre numa nova janela)” bezeichnet wurde, wo sich unter dem ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt Abgründe aus “Hass und Gehässigkeit, Verdrehungen und Verleumdungen, Manipulation und Wahn” auftun würden.
Oder Max Otte, der ehemals der CDU-Werteunion vorsaß – bis zu seinem Parteiausschlussverfahren, weil er sich nach dem Mord an Walter Lübcke über eine vorschnelle mediale Hetze gegen die rechte Szene (Abre numa nova janela) beschwerte. In einem anderen Kontext hatte er von (damals noch seiner) CDU gefordert, eine bürgerliche Koalition mit der AfD einzugehen. Später setzte er das selbst um: Bei der Bundespräsidentschaftswahl vergangenes Jahr trat er als Kandidat der AfD an.
Sie, und viele mehr, haben Gottschalks Worte zum Anlass genommen, um über “die Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Rolle einer medialen Sprachpolizei” (COMPACT) oder angeblich “tonangebende Minderheiten da oben” (NIUS) zu schreiben oder Gottschalk einfach “großen Respekt” für seine Worte entgegenzubringen (Otte).
Die Narrative dahinter
Die Meinungsfreiheit ist in Gefahr! Das zumindest wollen uns Rechte glauben machen. So war beispielsweise im AfD-Bundestagswahlprogramm von 2017 (Abre numa nova janela) von einer “freiheitsbeschränkenden ‘politischen Korrektheit’ sowie de[m]Meinungsdiktat[…] in allen öffentlichen Diskursen” zu lesen.
Auf der Webseite der AfD (Abre numa nova janela) heißt es:
“Immer häufiger werden konträre Meinungen als undiskutabel abgestempelt und die Personen oder ganze Gruppen ins Abseits gestellt. Das Phänomen der Cancel Culture / ‘Löschkultur’ zielt auf die Schmähung und Ausgrenzung von Diskussionsteilnehmern ab.”
Um nur zwei Beispiele zu nennen.
Der Vorwurf, die Meinungsfreiheit werde bedroht, kann laut Sprachforscher David Lanius (Abre numa nova janela) drei unterschiedliche Strategien verfolgen.
1️⃣ Eine Strategie der Aufmerksamkeit.
2️⃣ Eine Strategie der Vereinnahmung.
3️⃣ Eine Strategie zur Rechtfertigung und Plausibilisierung der eigenen politischen Kernaussagen.
Allen voran steht aber zunächst das Wort Meinungsfreiheit selbst. Ihm kommt in einer demokratischen Gesellschaft vor allem eine wertende Bedeutungsebene zu: Eine Gesellschaft, die auf Meinungsfreiheit achtet, ist eine bessere Gesellschaft, als eine, die das nicht tut.
Die Strategie der Aufmerksamkeit
Ein derart unbestimmter Vorwurf, die Meinungsfreiheit sei bedroht, habe nicht nur die Funktion, die Aufmerksamkeit der eigenen Wähler:innen und Sympathisant:innen abzugreifen, sagt Lanius. Sondern auch öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Oft wird das mit überzogenen und radikalen Äußerungen erreicht, die sehr treffsicher ihr Ziel, Empörung und Kritik in einer gereizten und auf Sensationalismus ausgerichteten Medienöffentlichkeit, treffen. Lanius führt als Beispiel Alice Weidels Behauptung an, der “linksextreme Meinungsterror […]” habe nicht nur “viele parlamentarische Arme, sondern auch eine ganze Reihe von Wasserträgern und Kollaborateuren in der Exekutive“.
Solche Aussagen haben zwei Effekte: Die AfD bleibt in der Öffentlichkeit präsent. Und: Sie bestätigt bei der folgenden Empörung und Kritik durch Dritte die scheinbare Behauptung der eigenen Vertreterinnen und Vertreter, dass die Meinungsfreiheit unterdrückt werde.
Die Strategie der Vereinnahmung
Mit Vereinnahmung ist bei David Lanius die Vereinnahmung eines Begriffs und die Neuausrichtung desselben gemeint. In einem ZDF-Interview (Abre numa nova janela) mit Björn Höcke sagt dieser:
“Das darf nicht alles glatt geschmirgelt sein und einem zeitgeistigen Formalismus unterworfen sein und dann noch moralisiert werden. Das geht nicht. Das widerspricht meinem Gefühl von Freiheit […]. Das ist auch, was die meisten Menschen im Land gern wieder leben wollen: Freiheit. […] Wir haben eine Tendenz in diesem Lande, die Sprach- und Meinungskorridore immer weiter zu verengen. Und das tut unserer Demokratie nicht gut.”
Höcke sieht sich und seine Partei hier als Verteidiger der Freiheit, insbesondere der Meinungsfreiheit. Sein Ziel, so Lanius, sei es, gesellschaftsrelevanten Begriffen eine bestimmte Bedeutung zu geben und die Macht zu haben, sie der eigenen Weltanschauung entsprechend zu verändern – “Begriffsherrschaft” nennt Lanius das. Begriffe werden dann anders als in der Öffentlichkeit sonst üblichen Weise verwendet.
Durch die Mehrdeutigkeit des Wortes Meinungsfreiheit und seinem Interpretationsspielraum gelingt es der AfD, ihn zu ihren Gunsten umzudeuten.
Meinungsfreiheit bedeutet dann, dass jede:r sagen kann, was er oder sie will, ohne dafür Widerspruch zu erfahren.
Die Rechtfertigung und Plausibilisierung der politischen Kernaussagen
Eine der politischen Kernaussagen der AfD ist, wie wir schon in früheren Newslettern geschrieben haben, dass sie sich als alleinige Versteher des Volkes sehen. Nur sie allein sind demnach in der Lage, für das Volk zu sprechen.
Doch in einem Land mit “Meinungsdikatur” und “Lügenpresse” traut sich “das Volk” nicht mehr, zu sagen, was es denkt.
Ein Grundpfeiler des Rechtspopopulismus der AfD ist laut Lanius, dass “das Volk” eine homogene Einheit mit einem geschlossenen Meinungsbild ist. Gegenläufige Meinungsäußerungen würden sich nur erklären lassen, wenn sie Teil staatlicher Propaganda und einer systematischen Unterdrückung seien.
Dass es sich dabei um ein typisch rechtspopulistisches Motiv handelt, bestätigen auch Thomas Niehr und Jana Reissen-Kosch in “Volkes Stimme?”. Sie schreiben:
“Rechtspopulist:innen betonen immer wieder, dass sie die Einzigen seien, die der Realität ins Auge sehen, während die politischen Gegner, die ‘Gutmenschen’, die Augen davor verschließen würden. Politisch korrektes kommunikatives Handeln wird als verschleierndes Handeln dargestellt.”
Gerade erst gelauncht und schon in unserem Newsletter: der AI-Chatbot yana (Abre numa nova janela).
yana steht für “you are not alone” und hilft Betroffenen rassistischer Diskriminierung – sowohl bei der mentalen Verarbeitung als auch bei der juristischen Beratung oder der Suche nach Hilfsangeboten und Therapieplätzen. yana ist 24/7 kostenlos erreichbar und bietet so auf unkomplizierte Weise Hilfe und Informationen an, nach denen Betroffene sonst im Internet suchen müssten. Eine mega Initiative! 🙏
Zum Launch des Chatbots sagt Said Haider, Gründer und Geschäftsführer von yana: “yana ist vergleichbar mit ChatGPT, nur spezialisiert auf Diskriminierungsfälle. (…) Mit dem Tool beginnt eine neue Ära im Bereich mentale Gesundheit, da hier erstmals bei einer solchen Anwendung mit künstlicher Intelligenz gearbeitet wird. Während immer mehr Menschen mehr für ihre psychische Gesundheit tun wollen, ist das Angebot immer noch sehr spärlich. Hier bietet der Ansatz von yana einen möglichen Ausweg.”
Wer mehr über die Hintergründe von yana erfahren will, hört hier rein: ⤵️
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