Der Lauf seines Lebens
Karlheinz Kobus ist nierentransplantiert - und hat sein Ziel fest im Blick
Acht Monate, fünf Tage, 15 Stunden, eine Minute und 56 Sekunden nachdem alles zu Ende schien, kommt Karlheinz Kobus ans Ziel. Er schleppt sich über die Linie, er kann eigentlich schon seit Stunden nicht mehr, sein Körper brennt. Aber er lebt, trotz terminaler Niereninsuffizienz, und er ist da. Er hat den 100-Kilometer-Lauf in Biel geschafft. Das ist alles, was für den 43-Jährigen zählt. Es ist der 12. Juni 2009.
Fast auf den Tag genau neun Jahre später ist Karlheinz Kobus wieder im Ziel. Er braucht 17 Stunden, 13 Minuten und 24 Sekunden für die 100-Kilometer des Schweizer Kult-Laufs. Wieder ist er vollkommen erledigt. Aber er lebt, und er ist da. Es ist der 7. Juni 2018. Es ist sechs Monate, zwei Wochen und drei Tage her, dass er mit einer Nierentransplantation ein neues Leben geschenkt bekommen hat.
Foto: svm
Karlheinz Biel ist ein Mann der Zahlen. Und ein Mann der Ziele. Laufen. Und leben. „Ich habe es schon immer geliebt besondere Ziele im Leben zu haben. Und ich habe meine Ziele im Sport gefunden.“ Biel ist eines dieser Ziele. Karlheinz Kobus will dort einen Rekord aufstellen, will der jüngste Läufer sein, der 50 Mal am Stück angetreten ist. Von einer Niereninsuffizienz oder einer Transplantation lässt er sich nicht in die Suppe spucken. Wegstecken, weitermachen, an sich glauben, niemals aufgeben.
Er ist 16 Jahre alt, als ihm ein Kumpel von Biel erzählt, diesem verrückten Rundlauf im Kanton Bern, der großräumig rund um die deutsch-französische Uhrenmetropole führt. Abends um 22 Uhr fällt der Startschuss, bis 19 Uhr am Folgetag müssen die Läufer die 100 Kilometer bewältigt haben. Karlheinz Kobus ist zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Marathon gelaufen, geschweige denn 100 Kilometer am Stück. „Aber mit 16 lässt man sich manchmal zu Dingen überreden, die vielleicht nicht optimal sind“, erinnert er sich, und so fährt er mit dem Zug in die Schweiz, um abends um 22 Uhr zu seinem ersten Bieler Lauf zu starten. Die Eltern sammeln ihn zwei Tage später am Bahnhof wieder ein, nicht mehr ganz taufrisch. Aber: Er hat es geschafft, er ist mega stolz, und im nächsten Jahr ist er wieder dabei, wie auch im übernächsten und allen weiteren Jahren. Biel erweist sich für Karlheinz Kobus als optimal, und plötzlich ist er da: Der Reiz der Serie, die nicht reißen soll.
Das Laufen wird Karlheinz Kobus´ große Leidenschaft, Biel seine große Liebe, wenn auch nicht die größte Herausforderung – die Runs quer durch Australien, der 36-Stunden-Lauf von Athen nach Sparta, der Badwater-Run in den USA quer durchs kalifornische Death Valley, diese Verrücktheiten empfindet er als viel härter. Der besondere Reiz an Biel ist die Kontinuität.
Karlheinz Kobus in jungen Jahren in Australien. Foto: Stefan Schlett
38 Mal ist er seit jenem ersten Run im Jahr 1983 angetreten, nur im Corona-Jahr 2020 wurde der Lauf abgesagt. Geht es nach Karlheinz Kobus, wird er noch mindestens 12 Mal die Ziellinie überqueren. „Hätte die Serie reißen sollen, hätte es schon genug Gelegenheiten gegeben.“
Eine ganz große Gelegenheit bietet der 8. Oktober 2008. Mit unerträglichen Schmerzen kommt der Angestellte eines großen Fruchtsaft-Konzerns in die Notaufnahme seiner Heimatstadt Sinsheim in Baden-Württemberg. Die Diagnose: terminale Niereninsuffizienz. Beide Nieren haben versagt, warum, bleibt unklar. „Es ist im Nachhinein auch nicht mehr wichtig.“
Sein erster Gedanke, als er wieder halbwegs klar denken kann: „Bis Biel sind es noch acht Monate, das schaffe ich.“ Sein zweiter: Wenn ich nachts an der Bauchfell-Dialyse hänge, kann ich auf der Arbeit nur noch Früh- und Spätschicht machen. „Man sollte sich so schnell wie möglich mit seiner Situation arrangieren. Das ist nicht einfach. Aber man kann es schaffen,“, sagt Karlheinz Kobus. Die mentale Stärke, die ihn beim Sport ins Ziel bringt, hilft ihm jetzt „zu 150 Prozent“.
Karlheinz Kobus muss sofort an die Dialyse, seine Nieren können sein Blut nicht mehr von Urin, Gift- und Abfallstoffen reinigen. Die Nieren sind eigentlich zuständig für die Regulierung des Salz- und Wasserhaushalts im Körper, für die langfristige Blutdruckeinstellung und die Aufrechterhaltung des Mineralstoffgleichgewichts, sie produzieren zudem Vitamin D und ein Hormon, das für die Blutbildung wichtig ist. Eine Niereninsuffizienz schädigt das Herz-Kreislauf-System, das Nervensystem, das Immunsystem, den Magen-Darm-Trakt und den Knochen-Stoffwechsel, kurzum: den gesamten Organismus. Ohne Dialyse sind Patienten mit Niereninsuffizienz bald tot.
Ein paar Monate macht Karlheinz Kobus´ Körper die nächtliche Bauchfell-Dialyse mit, dann gibt es Komplikationen; er muss auf Hämodialyse umgestellt werden. Drei Mal pro Woche wird nun fünf Stunden lang sein Blut gereinigt. Sehr schnell lässt Karlheinz Kobus sich listen für eine Organspende, doch er weiß schon: Bis ein passendes Organ kommt, vergehen in der Regel acht bis zehn Jahre. Er will diese Zeit nicht mit Warten verbringen, sondern mit Leben. Und zu seinem Leben gehört Biel.
Mag der Weg auch noch so schwierig sein... Foto: pexels, Wendelin Jacober
Fortan organisiert er jede Dialyse so, dass er seine Läufe nicht verpasst. Gelegentlich darf er Dialysen verschieben, weil seine Blutwerte gut sind. Um sein Leben fürchtet er nie. „Ich hatte keine Angst. Ich hatte Ziele und Pläne.“
Am 12. Juni 2009, ein halbes Jahr nach der Schockdiagnose, steht er an der Startlinie des Bieler Laufs, er kann es selbst kaum fassen. Die ersten 82 Kilometer bewältigt er gut, doch er merkt, dass er sich nicht so intensiv vorbereiten konnte wie in gesunden Jahren; außerdem macht ihm eine Blase am Fuß zu schaffen. Was ihn ins Ziel peitscht: „meine mentale Stärke“. Er will, er will, er will seine Serie nicht reißen lassen. Und er schafft es.
Neun Jahre, einen Monat und 13 Tage nach der Diagnose klingelt morgens um 6:56 Uhr das Telefon, es ist ein Sonntag, und Karlheinz Kobus schläft noch. Im Transplantationszentrum Heidelberg wartet sein neues Leben, und der 51-Jährige meint noch zu träumen. Der Mediziner muss ihm mehrfach versichern, dass ja, er der Richtige sei. „Wenn Sie morgens um sieben Uhr jemand aus dem Schlaf klingelt und behauptet, Sie hätten eine Million Euro gewonnen, fragen Sie auch ein paar Mal nach, ob das wirklich stimmt.“ Die Transplantation klappt, Karlheinz Kobus erholt sich rasch. Der Ausdauer-Sportler hat eine hervorragende Konstitution und läuft schon am dritten Tag nach der Operation nachts den Gang auf und ab. „Ich hatte keine Zeit zu vertrödeln, bis Biel waren es keine sieben Monate mehr.“
Er will unbedingt antreten, obwohl ihn die Frage umtreibt, ob seine neue Niere das mitmacht. „Wir wissen es nicht“, sagen seine Ärzte, Vergleichswerte gibt es nicht. Ein Arzt bietet ihm ein Blutbild vor und nach dem ersten Mal Biel nach der Transplantation an, meldet ihn vorsorglich für eine Dialyse nach dem Lauf an. Ist nicht nötig. Die Werte sind top.
In seinen besten Zeiten hat der heute 55-Jährige für den Bieler Lauf unter zehn Stunden gebraucht. Wenn es jetzt fast doppelt so viele sind: geschenkt. „Man muss das einfach positiv sehen: Man hat mehr davon“, sagt er. Wenn er auf der Strecke zu müde wird, macht er die Augen zu und läuft mittig die Straße entlang, zehn, 15 Minuten lang. „Das geht wieder vorbei.“
Der Wettkampfgedanke habe ihn nie interessiert, sagt Karlheinz Kobus. "Ich hatte keine Konkurrenten, sondern Mit-Läufer." Er, der fast gestorben wäre, der ein halbes Jahr nach der Transplantation wieder 100 Kilometer gelaufen ist. Er hat ein Ziel. Er ist der jüngste Läufer, der jemals in Biel gestartet ist. Er will der jüngste sein, der 50 Teilnahmen geschafft hat.
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