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Über die Sehnsucht nach dem Sehnsuchtsort

„Wir sind erst seit einer Stunde hier, und mir ist schon nicht mehr so elend“, sagt das große Schulkind an einem völlig verregneten Samstag im Mai mitten in einer nicht enden wollenden Pandemie. Gerade ist uns beiden das Herz aufgegangen. Ich lese es im Gesicht und im Herzen meines Kindes. Das Herz blüht auf, obwohl sich unsere Sehnsuchtsinsel nicht gerade von ihrer gastlichsten Seite zeigt. Doch wen kümmert schon Regen und Wind? Wir sind dort, wo wir uns das ganze Jahr hinträumen.

Fotos: svm

Nicht, weil der Ort so außergewöhnlich, so unvergleichlich, so exklusiv, aufregend oder überwältigend wäre. Alles ist ruhig, es fahren keine Autos, es gibt kein High life. Dafür ist man dem Himmel ganz nah. Dieser Ort schenkt uns etwas, das es jedenfalls für uns nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Das Gefühl angekommen zu sein. Loslassen zu dürfen. Ruhe. Fröhlichkeit. Ausgelassenheit. Zwanglosigkeit. Gemeinschaft. Vertrautheit. Vertrauen.

„Du wirst niemals wieder ganz zu Hause sein, weil ein Teil Deines Herzens immer anderswo sein wird. Das ist der Preis, den Du für den Reichtum bezahlst, Menschen an mehr als einem Ort zu kennen und zu lieben“, hat die US-amerikanische Anthropologin Miriam Adeney einmal gesagt. Und du wirst niemals wieder ganz zu Hause sein, weil Du einen Preis für den Reichtum bezahlst, mehr als einen Ort zu kennen und zu lieben – und ihn mit Menschen zu verbinden, die Du liebst.

Mit der Ankunft an unserem Sehnsuchtsort, den wir hoffentlich alle in uns tragen, treten wir einen Schritt aus dem Alltag heraus und hinein in einen neuen Alltag, der (in meinem Fall aus Muttersicht) manch anderen Stressfaktor bietet, über dem aber doch (aus Herzenssicht) der Zauber einer Erfüllung liegt, die das ganze Jahr oder noch länger von der Hoffnung genährt worden ist. Über diesem Ort liegt die entspannte Gewissheit, dass die in ihn gesteckte Erwartung gar nicht zu hoch sein kann. Weil er das Gefühl von Weite, Freiheit und einem stillen Frieden schenkt.

Die Sehnsucht hat uns an diesen Ort geführt, und nein, der Wunsch, mehr von der großen Welt zu entdecken, ist, aktuell jedenfalls, ziemlich klein. Die Welt liegt ja in diesem Sehnsuchtsort, und für einen Moment ist alles gut. Fast.

An diesem verregneten Maitag steigt uns salzige Meerluft in die Nase, und ich bin glücklich und traurig zugleich. Glücklich, weil ich endlich wieder bin, wo ich viel zu lange nicht war. Und traurig, weil ich weiß, dass ich viel zu schnell wieder fahren muss. Ich bin gerade erst angekommen, und fühle schon einen Abschiedsschmerz, den mir auch die schon erfolgte Anschlussbuchung nicht nehmen kann.

„Die Sehnsucht ist es, die uns’re Seele nährt und nicht die Erfüllung. Und der Sinn uns’res Lebens ist der Weg und nicht das Ziel. Denn jede Antwort ist trügerisch, jede Erfüllung zerfließt uns unter den Händen, und das Ziel ist keines mehr, sobald es erreicht wurde“, hat der österreichische Mediziner und Dramaturg Arthur Schnitzler einmal gesagt.

Ich bin wehmütig, dass so viele glückliche Stunden an diesem Sehnsuchtsort nicht wiederkehren werden. Dankbar, dass ich sie erleben durfte. Ich sehne mich nach den Erinnerungen, die jede Ecke meines Sehnsuchtsorts in mir wachruft, auch wenn sie bittersüß sind, weil sie eben genau das sind: Erinnerungen. Ich weiß wohl, dass auch die Zeit in jenem Mai, die jetzt gerade vor mir liegt und die ich so dringend anzuhalten wünsche, vergehen und mir sprichwörtlich wie Sand zwischen den Fingern zerrinnen wird.

Werde ich an meinem Sehnsuchtsort jemals wieder so glücklich sein können wie in diesen kostbaren, einzigartigen Momenten? Werde ich überhaupt jemals an diesen Sehnsuchtsort fahren können, ohne dass die Menschen dabei sind, die ich am meisten liebe? Oder bin ich ihnen an diesem Ort dann besonders nah?

„Spinnst Du, Mama?“, sagt mein Kind, als ich diesen Gedanken laut ausspreche. „Ich werde für immer mit euch hierherfahren!“ Immer ist eine lange Zeit, doch wenn ich mir die vielen Drei-Generationen-Familien hier anschaue, ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass das Kind seine Ankündigung wahrmachen wird. Wir werden sehen, und bis dahin nähren wir die Sehnsucht.

Was macht die Sehnsucht mit uns? Dieses innige, schmerzliche Verlangen nach Liebe, Glück, Erfüllung, Vollkommenheit, nach einer Zeit, in der alles gut war, in der alles wieder gut sein wird, dieses bittersüße Ziehen in einer Intensität, die tiefer rührt als alles, was wir im flüchtigen Alltag erleben? Wir kennen die hoffnungsvolle Sehnsucht, die in die Zukunft gerichtet ist. Wäre das nicht schön? Eine Welt ohne Pandemie? Können wir das überhaupt noch, eine Welt ohne Pandemie? Die Zeit „davor“ erscheint so weit weg wie der Mond.

„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide“, sagt Johann Wolfgang von Goethe.

Ich finde ja, die hoffnungsvolle Sehnsucht leidet nicht so schlimm wie die schmerzliche Sehnsucht nach dem Vergangenen, das nicht wiederkehren kann und uns in der Erinnerung begleiten muss. Die Sehnsucht nach einer Zeit, die uns schöner, heller, strahlender, unerreichbarer, erstrebenswerter erscheint als unser Heute. „Es beginnt alles mit der Sehnsucht“, sagt Literatur-Nobelpreisträgerin Nelly Sachs, und häufig wird nur der erste Vers ihres Gedichts zitiert. Doch es geht weiter. „Immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres. Und wo Sehnsucht sich erfüllt, dort bricht sie noch stärkere auf.“

War ich einmal an meinem Sehnsuchtsort, möchte ich wieder hin. Ich weiß, dass ich diesen Ort verlassen muss, denn würde ich dort dauerhaft leben, er wäre wohl kaum noch mein Sehnsuchtsort. Ich weiß, dass die Tage gezählt sind, das Glück gesammelt und in die DNA meiner Sehnsucht eingeschrieben werden muss. Ich weiß, dass ich irgendwann mit einer Sehnsucht an diesen Ort denken werde, die das Wissen einschließt, dass das Vergangene nicht wiederkehren kann. Ich werde älter, aber meine Sehnsüchte, die bleiben jung.

„Nicht die sind zu bedauern, deren Sehnsüchte nicht in Erfüllung gehen, sondern diejenigen, die keine mehr haben“, sagt Marie von Ebner-Eschenbach.

„Ich habe solche Sehnsucht nach…“, seufzen das große Schulkind und ich manchmal – und ich weiß, dass ich es auf der Heimfahrt von unserem Sehnsuchtsort nicht ansprechen darf. Ich bin traurig, weil es leidet, und glücklich, dass es die Tiefe von Sehnsucht spüren darf. Ich glaube, es ist gut, sehnsüchtig sein zu können.

Sein jüngeres Geschwister hat das ganze Jahr über übrigens eine andere Sehnsucht. Die teilt es mit Hans Christian Andersen. „Wie leide ich vor Sehnsucht!“, hat der Märchenerzähler einmal gesagt. „Wäre es doch Weihnachten!“

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen heute, liebe Leserinnen und Leser, dass Sie  im Advent ein tiefes Gefühl einer hoffnungsvollen Sehnsucht spüren dürfen.