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Folge 44

Vorweg 

Ich habe ein paar schon ziemlich fertige New-Frohmanntic-Texte verschoben, weil sie mir gerade nicht passend erscheinen. Grundsätzlich werde ich aber wohl nicht verstummen und auch nicht ganz anders schreiben, denn ich schreibe ja auch sonst viel über Strukturen und Zusammenhänge, die strukturelle Gewalt und im schlimmsten Fall Krieg begünstigen. Ein Newsletter ist auch kein Format, mit dem der Blick auf andere, gerade vielleicht wichtigere Inhalte versperrt wird. Ihr entscheidet einfach, ob ihr gerade lesen wollt oder eben nicht, das tut ihr ohnehin jede Woche. 

Die Präraffaelitischen Girls machen ebenfalls weiter, denn sie vermemen ja nicht den Krieg und dessen Opfer, sondern reflektieren bizarr ungerechte Medien- und Gesellschaftsphänomene, die aktuell zwangsläufig oft mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben. Wenn ihr das unangemessen oder verletzend findet, schreibt mir, vielleicht schätze ich die Wirkung nicht richtig ein. Meinem Gefühl nach wäre es aber absurd, schweigend zuzusehen, wie der Krieg in Politik und Medien ausgenutzt wird, um das Rückwärtskarussell sich noch ein bsschen schneller drehen zu lassen. 

Etwas Altes: Überdauernde Dinge

Haltet ihr auch manchmal etwas Altes in der Hand, und es gruselt euch ein bisschen bei dem Gedanken, dass dieses Ding länger auf, in der Welt ist als etwa euer Kind, ihr selbst, eure Eltern?

Zuletzt hatte ich das bei einer Teekanne aus den 1920ern. Das unheimliche Gefühl wurde nicht durch den Anblick der ganzen Kanne ausgelöst, sondern durch ein Detail an ihr, den Rattangriff. Zart und vergänglich aussehend, ist er doch nach hundert Jahren noch da und intakt, die Hände, die ihn formten, aber nicht mehr, jedenfalls nicht im Sinne von Händen an einem lebenden Menschen.

Noch unheimlicher finde ich es, wenn Dinge aus der Plastikzeit überlange halten, etwa Spielzeuge aus Happy Meals von McDonald’s. Ich habe aus dieser Quelle einen kleinen gelben Roboter, dessen Augen auch nach 15 Jahren immer noch auf Kopfdruck leuchten, er beweist damit mehr Durchhaltevermögen als diverse Laptops und Smartphones, die nach ihm gekommen und gegangen sind. 

Ungesucht wird dabei auch deutlich, was für eine abscheuliche kapitalistische Unsitte geplante Obsoleszenz (das absichtlich »eingebaute« Kaputtgehen von Dingen) ist. Wenn mein Plastiktand, der es offensichtlich nicht wert war, ihm kalkulierte Sterblichkeit einzubauen, länger hält als sauteure Hochtechnologie. Pfui pfui pfui. 

Nein, an unterschiedlich starker Nutzung kann es nicht liegen. Stellt euch zurück aus der Zukunft ein etwa zweijähriges und ein etwa vierjähriges Kind vor, die in jeder wachen Minute unentwegt auf diese Knöpfe drücken, weil blinkendes, grölendes Plastik in ihren Augen tausendmal großartiger ist als das herumliegende teure Holzspielzeug, mit dem ihre Eltern gut vor ihnen, gut vor sich selbst, gut vor anderen Eltern dastehen wollen.

Etwas Neues: Eine andere Zeitrechnung

Lasst uns eine neue Zeitrechnung einführen: »Zeit vor sozialen Medien« (ZvsM) und »Zeit seit sozialen Medien« (ZssM). Man muss dafür gar keine klassischen Zeiträume veranschlagen, denn ein Seiteneffekt der sozialen Medien ist ja, dass sie unser Zeitgefühl wesentlich verändert haben. Ob man ZssM jetzt ab dem breiten Erfolg von Facebook denkt oder schon früher, ist also egal.

(Das ss in ZvsM ist leider nicht so hübsch, aber es wird ja nicht isoliert vorkommen.)

Wenn ihr wollt, dass ich das mit der anderen Zeit (instantane Zeit, Sonderfall Corona- und Kriegszeit) weiter ausführe, schreibt mir eine Mail (info@frohmannverlag.de), denn 1. leide ich schon etwas am Wegfallen meiner instantanen Fav-Belohnungen auf Twitter – der Newsletter fühlt sich als Schreibraum immer noch etwas geisterhaft an, 2. ist das Nachdenken über den Zeit-Raum des Instantanen ganz schön komplex; wenn es euch also eher langweilt, schreibe ich liebend gern Fluffigeres und drücke mich um die ernsthafte Arbeit herum.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

»[Even] though this is the dance and she knows what will happen intellectually, it’s still an altogether different thing to experience.«  – N.K. Jemisin, The City We Became

Eine Minikritik: The City We Became (Abre numa nova janela) ist grandios. Ich liebe zwar die Broken Earth Trilogy (Abre numa nova janela) noch ein bisschen mehr, aber das liegt vermutlich daran, dass ich sie zuerst kannte und die Leser*innen-Erstbegegnung mit Jemisin so überwältigend ist. 

The City We Became steht jetzt in meinem inneren Bücherregal zwischen Gravity's Rainbow von Thomas Pynchon und Underworld von Don DeLillo, ich wünschte nur, ich hätte den Roman schon lesen dürfen, als ich die beiden anderen las, das war noch im letzten Jahrtausend. 

Mir sind beim Lesen ungewöhnlich viele Sachen auf- und eingefallen, ich glaube, das möchte ein Essay werden. (Aber erst nach den Verlagslektoraten.)

Sollte ich mir irgendwann auch nur ansatzweise zutrauen, halb so toll wie Jemisin zu schreiben, werde ich meine Abscheu vor zeitgenössischen Berlin-Romanen überwinden, denn es ist schon sehr wundervoll, sich bei der Stadt zu bedanken, die man auch ist.

Etwas Uncooles: Einsickernder Hass

Früher hatte ich, was ich bei besonders miesen Gegenübern manchmal bedauerte, Hass nicht in meinem emotionalen Portfolio – Arroganz, Herablassung schon, leider. Seit ich aber im Netz buchstäblich die ganze Zeit mitbekomme, wie unnötig und brutal besonders gut gestellte Personen Menschen verachten und anhassen, Menschen, die einfach nur sicher und würdevoll existieren möchten oder unbeirrbar die Umsetzung dieses Grundrechts für alle einfordern, fühle ich manchmal eine an Hass grenzende Verachtung. Ähnlich wie die sich mit immer weiter zunehmender Wut abwechselnde immer weiter zunehmende Resignation führt die hassähnliche Verachtung zu innerlichem Ergrauen. – Natürlich könnte ich in solchen Momenten oder Phasen einfach den Laptop zuklappen, ein schönes Buch lesen oder auf Blumen starren, um mich innerlich wieder zu begrünen. Manchmal tue ich das auch. Aber es ist ein kategorialer Unterschied, ob man die eigene Physis und Psyche zumindest notdürftig schützt  (ethisch gut) oder die hässliche Wahrheit komplett ausblendet, weil sie einen gerade oder grundsätzlich nicht unmittelbar betrifft (ethisch böse).  Letzteres ist der falsche Umgang mit dem Privileg, die Wahl zu haben, sich von etwas bewusst betreffen zu lassen oder nicht. Man kann sich fragen, ob auch der immer öfter und heller auflodernde Hass der Überprivilegierten auf die Marginalisierten mit Mediennutzungsverhalten zu tun hat und direkt mit Ja antworten. Dabei bleibt aber unberücksichtigt, dass es damals, in der ZvsM zwar keinen so offenkundigen, öffentlich ausgelebten Hass, aber eine menschenverachtende Gleichgültigkeit gab, von der meist nur die davon Betroffenen etwas mitbekamen, weil sie mit den Konsequenzen leben mussten: nichts zu gelten, nicht zu zählen, nicht wahrgenommen zu werden. Heute werden viel mehr Menschen, Menschengruppen wahrgenommen, und wenn Privilegierte sagen »Aber wir sind doch gar nicht ›die anderen‹, alle Menschen sind gleich ...«, werden sie schnell von höhnischem Gelächter unterbrochen. Ihr emotional unbezahlbares Add-on zum Reich- oder Gebildetsein, die Gewissheit, ein guter Mensch zu sein, einfach, weil man sich selbst so sieht, das sehr lange Zeit so wunderbar zu so Vielem passte, zu weißen Hortensien im Vorgarten der Bauhausvilla, zum nicht zu protzigen Siegelring, zur Privatbibliothek, zur Promotionsurkunde, zum selbstgezogenen Biogemüse, zum Second-Wave-Feminismus – plötzlich ist es einfach futsch. Wie bitte, jetzt sollen sich die Reichen und schön Gebildeten plötzlich täglich aufs Neue aktiv verdienen, von anderen guter Mensch genannt zu werden, so wie alle anderen auch!?! Sich etwas, das früher gesetzt war, erst verdienen zu müssen, liegt Menschen, die es lange nicht oder nie nötig hatten, persönliche Frustrationsschwellen auszuloten, offensichtlich nicht so nahe. Statt Erkenntnis zuzulassen, Neues zu fühlen, zu erfahren, zu lernen, daran zu wachsen – meines Erachtens das Schönste am Menschsein –, werden von ihnen lieber die Überbringer*innen der unbehaglichen Botschaft gehasst und angefeindet. Mit vor Wut übersäuertem Magen schneiden sie ihre weißen Hortensien. Schade eigentlich, schade für alle eigentlich.

Rubrikloses

Neue Worte für euch:

  • »Katzenlicht« als Bezeichnung für die Lichtflecke, die die Sonne auf Böden macht und in die sich Katzen, weil es da wärmer ist, so gern legen; ich habe dazu bisher Sonnenfleck gesagt, aber das ist ja eigentlich etwas anderes.

  •  »ond« anstelle von »und/oder«

  • »plaguieren«: ignorantes Infizieren anderer in Folge von Impfverweigerung

  • »Terfrock«: Rants von TERFs darüber, dass sie TERF genannt werden

Eine neue Aussprache mit daraus folgendem neuen Wort:

»E-Mail« nur noch »Emaille« aussprechen, dann aber auch statt »mailen« lieber »emaillieren« sagen, ist einfach schöner.  Bitte emailliert mich. 

Rubrikloses

Egal, ob dieses abstruse Canceln von russischer Kultur (produziert von Personen, die nichts mit Putin am Hut haben, z. B., weil sie lange tot sind) echt oder fake ist, es wird zukünftig echten Gewalttäter*innen als wunderbares Beispiel für die Unsinnigkeit der Absicht dienen, keine Kunst von Gewalttäter*innen rezipieren zu wollen. Nicht gut. 

Ich schicke gleich statt eines wissenschaftlichen Essays einen Schein-Meme-Roman los. Wie sollte ich sonst über meine Social-Media-Nutzung als Verlegerin schreiben.

Guerlica

Zurück zur Remilitarisierungs-Begeisterung, zu den Remilitarisierungs-Begeisterten, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,
FrauFrohmann

Werbung Kauft schön PGExplaining-Postkartensets (Abre numa nova janela), ich gebe drei Euro pro Set an Mission Lifeline (Abre numa nova janela) weiter. 

– Sollte ich im New Frohmanntic mal etwas schreiben, das ihr so oder so ähnlich schon von einer anderen Person kennt, sagt es mir gern, dann gebe ich in der nächsten Folge Credit. Das hier sind ja keine wohlrecherchierten Essays, sondern schnell angerissene Gedanken. Vieles davon liegt längst in der Luft, und nicht immer bekomme ich mit, was andere schon gesagt und geschrieben haben.

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