Folge 21
(Auch diese Ausgabe ist wieder etwas aus dem Zeitrahmen gefallen, aber das passt ja in die Zeit.)
Etwas Altes: My Personal Leseschweinehund
Wenn ich Bücher oder E-Books auf Englisch lese, die keinem bekannten Genre angehören oder auf der inhaltlichen Ebene neue Welten entwerfen, tue ich mich anfangs immer ein bisschen schwer, konzentriert zu bleiben, so als ob mein ansonsten stabiles Lese-Englisch plötzlich zerbröseln würde. Ein starker Fluchtinstinkt setzt ein. (Um meine Geduld ist es von Natur aus und noch mehr nach zehn Jahren Social Media nicht gut bestellt.) Mittlerweile weiß ich aber, dass dieses spezielle unbehagliche Gefühl maximal dreißig Seiten andauert und ich, wenn ich durchhalte, meist mit bester innovativer Literatur entschädigt werde. Die einzige Ausnahme, an die ich mich gerade erinnere, war die Biografie von Morrissey, aber da bin ich rückwirkend ganz froh, dass ich das Buch nach 39 Seiten entnervt in die Ecke geschmissen und dem – mittlerweile –öffentlich Rechtsschwurbelnden nicht mehr Lebenszeit gewidmet habe.
So ähnlich wie mir beim Lesen englischsprachiger Bücher, die nicht ins Vertraute einzuordnen sind, geht es wahrscheinlich cis männlichen Literaturkritikerinnen mit Texten von nicht kanonisierten Autorinnen. Nur, dass diese nach dreißig gelesenen Seiten meist eine hämische Kritik schreiben oder »großzügigerweise« von einem Komplettverriss absehen.
Mir ist es mit Texten vieler nicht kanonisierter Autorinnen vor einer Weile auch noch so gegangen, aber da hat meine vorsätzliche Selbstdeprogrammierung glücklicherweise mittlerweile gegriffen, einfach weil ich so viele ihrer Bücher zu ende gelesen habe, dass es mein inneres Durchschnittsbild von Literatur verändert hat. Das kann ich genau so zur Nachahmung empfehlen, denn gute Absichten verändern rein gar nichts. Man muss Umsehenlernen wie einen ästhetischen und sozialen Muskel trainieren.
(7. Sept. 2019)
Etwas Neues: Kaputtheit kommunizieren
Mir ist aufgefallen, dass es mittlerweile relativ häufig passiert, dass andere einem oder man selbst anderen unbefangen mitteilt, welche persönlichen körperlichen oder psychischen Einschränkungen man gerade erlebt und wie sie möglicherweise die Kommunikation oder Zusammenarbeit betreffen könnten. Diese neue Offenheit hat auch schon Einzug in die fortschrittlichere Unternehmenskultur gehalten. (Habe ich mir sagen lassen.) Das ist nicht nur eine sehr viel bessere, weil nicht demütigende Maßnahme, als andere aus Überforderung zu ghosten. Es schafft auch per se eine vertrautere Ebene im Umgang. Schade, dass wir erst alle so kaputt gehen mussten, bis es normal wurde, Verletzlichkeit zu zeigen. Als ob es früher unprofessionell gewesen wäre, ein Mensch zu sein.
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
»Dass ausgerechnet wc-Deutsche Kultur (be-)nutzen, die aufgrund ihrer Eltern und Großeltern quasi ausgestorben ist, die für viele Jüd*innen unsprechbar, unhörbar, unlesbar geworden ist, weil sie mit Angst und Trauma vor Verfolgung, Sichtbarkeit und Auslöschung verbunden ist, weil es zu schmerzhaft ist oder schlicht und ergreifend, weil man es nicht mehr kann, weil jene, mit denen man es gesprochen, gespielt, gelesen hat, nicht mehr da sind, ist wie das Schmücken mit Kriegstrophäen: geschmacklos, pietätlos, unsensibel, Generationentriumph. Bewusst oder unbewusst.« – Debora Antmann
Ich habe vor über zwanzig Jahren in den USA an der Uni Jiddisch gelernt, vielleicht würde ich es 2021 nicht mehr tun, das ist mir beim Lesen des Artikels »Tantsn Aoyf Ash (Abre numa nova janela)« von Debora Antmann im Missy Magazine aufgegangen. Falls ihr nicht so tief in den Aneignungsdiskussionen drin seid, versichere ich euch: Alle »Ja, aber«, die man in diesem Kontext denken und sagen kann, könnte ich auch selbst denken und sagen, aber ich denke und sage sie eben nicht mehr, weil es bei bestimmten Themen einfach nicht um einen persönlich geht und auch nicht darum, ob man vielleicht einen super Vortrag über jiddischen Expressionismus gehalten hat oder halten könnte. Manchmal geht es um Sichbescheiden und Demut, weil es Kontexte gibt, die größer sind als man selbst. Ich schäme mich jetzt nicht etwa, dass ich Jiddisch gelernt habe – ich habe mich niemals damit geschmückt, einfach nur jiddische Literatur gelesen. Damals war auch noch kein Gedanke daran, dass Jiddisch in Deutschland hip werden könnte. Im Gegenteil: Ich erinnere mich daran, wie unheimlich ich es fand, als ich bemerkte, dass die jiddischen Passagen in Polanskis (nicht ablenken lassen, um ihn als Person geht es jetzt nicht) Film Tanz der Vampire in der deutschen Synchronisation nicht mehr jiddisch waren. Man wollte deutsch-christlich(geprägt)e Zuschauer*innen wohl nicht unvermittelt beim Unterhaltungsfernsehen daran erinnern, was für Monster sie selbst waren. Meine Motive, Jiddisch lernen zu wollen, waren also andere als die von Antmann angeführten, ich hielt sie damals für rein akademische, aber unschuldig waren sie sicherlich auch nicht. Mein Blick hat sich seither verändert, und das erscheint mir interessant.
Etwas Uncooles
Wie jetzt Menschen »Archive« statt »Vintage« statt »second-hand« sagen, damit es sich viel, viel teurer verkaufen lässt. Kapitalismus ist einfach der krasseste Bestseller-Lyriker.
Fiorucci Archive
Umsehen lernen
Kafka, Der Proceß, Version 2021 – warum diskriminiert die Telekom Kund*innen, die ihre Wuchertarife bezahlen? (Gibt natürlich nur die Optionen »Herr« oder »Frau«.)
Deutsche Sicherheitsabfragen gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass (nur) Opa gearbeitet hat, alle in Beziehungen leben und jede*r schon mal ein Auto hatte.
#UmsehenLernen
Hexengedeck (Abre numa nova janela) > Herrengedeck
#Clicksistence
Damit bin ich vor ein paar Jahren in Singapur gefahren, es war komplett absurd, weil zwar kein Fahrer, dafür aber ein Sicherheitsmensch mitfuhr, für den Fall, dass das Ding doch irgendwie durchdrehen würde. Naja, absurd und beruhigend.
Guerlica
#Hexenbuch
Zurück zu den Bösen, wir sehen uns in einer Woche wieder.
– Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
FrauFrohmann
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