Folge 35
Etwas Altes: Der Sopranos-Loop
Im Winter 2011/12 haben mein Mann und ich gemeinsam viel Zeit zusammen in unserem Haus verbracht, das damals noch denkbar ungemütlich war, weil wir – ich deutlich weniger als er – die Abbrucharbeiten machten, nach denen die bezahlten Handwerksarbeiten folgen sollte. D. riss Wände ein, und ich schleppte nicht allzu schwere Säcke mit Schutt nach draußen. Nach Feierabend sahen wir immer einige Folgen Sopranos an, es war die erste DVD-Box, die wir je durchglotzten, eine Freundin hatte sie uns geliehen. Wir mochten die Serie sehr, weil wir aber so erschöpft von der brachialen Arbeit waren, pennten wir sehr oft zwischendrin weg. Zwischen Folge 2 und 3 oder 3 und 4 ging D. dann immer Zähneputzen und ich hing im Dämmerzustand vor dem aufgeklappten Laptop, auf dem die Sopranos-Intromelodie loopte. Immer hatte ich dabei das Gefühl einer zugleich banalen und denkwürdigen Metaerfahrung. Heute wird mir bei der Erinnerung warm ums Herz. Familien- oder überhaupt persönliche Geschichte ist auch immer die von Medienerfahrung.
Etwas Neues: Die Süßigkeitentruhe
Große Bewunderung für Menschen wie die Moderatorin Anastasia Zampounidis, die auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zuckerfrei leben und deshalb für immer jung und attraktiv sein werden, worüber sie dann Bücher schreiben. Ich könnte das nicht, so wie ich auch nicht meditieren kann, weil es zu mir persönlich nicht passt. Es ist bestimmt sehr gesund, beides zu tun, aber ich kann es eben nicht. Im Gegenteil, ich sause liebend gern nervös durch die Gegend und esse jeden Tag voller Freude Süßigkeiten. Es gibt einfach Askesegrenzen, immerhin bin ich schon »Totengräberin unserer schönen Bücherkultur«, »Jakobinerin«, »Spaßbremse«, »Sauertopf«, trinke selten und kiffe fast nie, und es ist Pandemie. Lasst mir bitte meine Süßigkeiten. So schlecht und alt sehe ich dabei nun auch nicht aus.
Meine Süßigkeiten habe ich gern nicht sophisticated – ich hasse edle Pralinen und Trüffel. Was ich liebe, ist Abwechslung, ich habe schon meinen Kindern immer Süßigkeitenteller mit kleinen Mengen aus verschiedenen Packungen gegeben. Jetzt bediene ich mich vor allem selbst und lasse es dabei so richtig krachen. In meinem Arbeitszimmer steht eine Alukiste, in der ich früher Zeug zu Buchmessen schleifte. Jetzt befindet sich darin eine Art privater Schwimmbadkiosk. Außerdem habe ich Deckelgläser mit Brausetabletten, Colafläschchen, weißen Gummibärchen, Storck Riesen und Pfefferminzlinsen auf einem Beistelltisch stehen. Meine noch bei mir lebenden Familienmitglieder beobachten das Ganze teils besorgt, teils fasziniert, sind aber spätestens abends um 20 Uhr bzw. irgendwann nachts immer sehr froh, dass es im Haus jetzt eine Süßigkeitentruhe gibt.
Etwas Geborgtes
»wie die Braven und Langweiligen sich ins 18. Jahrhundert wühlten und ja doch nichts Neues herausarbeiteten« – Marlene Streeruwitz, Das wird mir alles nicht passieren ... (Abre numa nova janela), 124/125
Etwas Uncooles: Soziale Mangelerscheinungen
Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die merkwürdige Emotionslosigkeit, die mittlerweile auch Personen befallen hat, die sich klassischerweise für gefühlvoll halten, eine Art Überlebensmodus ist, um in dieser komischen Zeit, in der nicht mehr viel als gesetzt gelten kann, noch minimal klarzukommen. Das erscheint mir plausibel, denn es erinnert mich stark daran, wie es ist, wenn mein Gehirn in Zeiten von anämischen Nährstoffmängeln bestimmte Fähigkeiten aufkündigt, ich kann dann zwar noch tadellos analysieren und konzeptionell denken – mein Ich-Gefühl bleibt dadurch intakt –, muss aber vor Überforderung fast weinen, wenn ich etwas dazu sagen soll, an welcher Stelle der Wand ein Hängeschrank angebracht werden soll. Außerdem vergesse ich in solchen Phasen relativ nahe Menschen zum Teil für Monate, das ergibt überhaupt keinen Sinn, und wenn es mir bewusst wird, löst es wirkliches Entsetzen in mir aus, aber es geschieht trotzdem, weil mein Gehirn in solchen Notzeiten die Erinnerung an liebe Menschen offenbar als ähnlich zweitrangig wie die vorteilhafte Anbringung von Schränken einstuft. Es bestimmt dann für mich: Nur du zählst jetzt und gerade noch so eben die, die du siehst, die anderen vergessen wir mal besser, bis wir die Blutkörperchen wieder stabil haben, aktuell brauchen wir alles, was wir haben, um dich am Leben zu halten. Ciao, freier Wille, ciao selbst die Illusion von freiem Willen.
So ähnlich scheint es mir gerade gesamtgesellschaftlich mit der Mitmenschlichkeit zu laufen. Das Wissen, wie zum Heulen und Schreien ungerecht alles auf der Welt läuft, es ist unleugbar da. Das Wissen, dass Menschen an den Grenzen zu Europa sterben gelassen und oder sogar in den Tod getrieben werden, es ist unleugbar da. Das Wissen, dass viele Menschen auf der Welt keinen Zugang zu Impftstoffen gegen den Coronavirus haben, während hier teilweise Impfstoff weggeworfen wird, es ist unleugbar da. Das Wissen, dass Behörden Nazis nicht mal halbherzig Einhalt gebieten, während BIPoC kaum ohne Polizeikontrolle einen Park durchlaufen können, es ist unleugbar da. Das Wissen, dass sich hier gerade erneut eine Regierung mit halbherzigen Klimazielen formiert, während die Klimakatastrophe schneller und schlimmer als erwartet greift, es ist unleugbar da. Naheliegend wäre es, zu heulen, zu schreien und alles anzuzünden. Stattdessen leben die meisten Menschen jetzt schon eine ziemlich lange Zeit wie kryonisiert, nicht tot, aber auch nicht mehr so lebendig wie früher. Etwas ist anders, das, was früher »normale« Menschen dazugebracht hat, aus der Kurve zu fliegen und in den Untergrund zu gehen, fehlt. Es fehlt nicht inhaltlich, von der Erkenntnis her wäre der Moment für Viele längst dagewesen, was fehlt, ist die emotionale Verbindung. Früher habe ich mich immer gefragt, was intellektuelle Frauen, manche von ihnen sogar Mütter, zu Terroristinnen hat werden lassen, ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Heute kann ich es mir sehr gut vorstellen – es ist die offen zu Tage getretene unerträgliche soziale Ungerechtigkeit, die Mächtige nicht mal zu kaschieren versuchen –, aber trotzdem fühle ich es nicht, was ich früher, glaube ich, bei gleichem Wissen und gleicher Erfahrung gekonnt hätte. Um nicht missverstanden zu werden, ich bin sehr froh, dass ich mich nicht gezwungen sehe, in den bewaffneten Widerstand zu treten, denn ich hasse Gewalt. Aber ich hätte gern wirklichen emotionalen Zuganz zu meinem gigantischen rationalen Zorn. Dieser aber entlädt sich wenig konstruktiv in vielen kleinen instantanen Zornen, während der große Zorn, der Sturm, der endlich alles offen Lebensfeindliche wegfegen könnte, ausbleibt.
Bei der Anämie hat mir letztlich der sorgenvolle Blick meiner nahen Menschen geholfen, zu begreifen, dass mein Gehirn meinen freien Willen einkassiert hat. Vielleicht könnten wir auch gesellschaftlich dieses Korrektiv füreinander sein, vorsätzlich, denn jeweils allein kommen wir da, glaube ich, nicht mehr raus, was über kurz und nicht mehr lang das Ende von allem Menschlichen sein wird.
Guerlica
Zurück zum Wählenkönnenmüssen, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
XOXO,
FrauFrohmann