Über verlorengegangene Frauen
Die Sonne scheint so hell, dass ich die Augen schließen muss, heute, am internationalen Frauentag, der auch der Geburtstag meiner Großmutter ist.
Ich kannte sie kaum, obwohl sie erst vor einigen Jahren starb, ich kannte sie nicht, weil sie zwar da war, aber irgendwie doch nie so richtig da war.
Sie war eine schwäbische Hausfrau mit japanischen Gesichtszügen, die Sonderangebotshefte las und eine berühmte Schwarzwälder Kirschtorte buk, und sie lächelte sehr viel und sie sagte sehr wenig.
Und heute, am internationalen Frauentag, da frage ich mich, ob sie auch deswegen so vor sich hinverschwunden ist, weil sie eine Frau war.
Es gibt Erzählungen von ihr als jungem Mädchen, das Opern liebte, und damals, in den dunklen Zeiten, im Gefängnis saß, weil es Kriegsgefangenen Essen zugesteckt hatte, und wie es lauthals Opern sang, dort in der Zelle.
Und ich konnte dieses Mädchen nie sehen in dieser Großmutter, die da war und doch nicht so richtig, und ich glaube, es ist so verlorengegangen, wie viele Mädchen verlorengegangen sind.
Einmal, da war ich erst zehn, da schenkte sie mir ein paar spitzenbesetzte Stringtangas zum Geburtstag, was für ein bisschen Furore sorgte, weil ich viel zu jung und diese Unterwäsche viel zu sexy für ein Kind sei, wie meine Mutter sagte und womit sie recht hatte, und weil meine Großmutter ansonsten eigentlich nur anständige Plüschtiere von Steiff verschenkte.
Aber inzwischen glaube ich, dass sie mir damit etwas sagte, was sie mit Worten nie sagen konnte.
Inzwischen glaube ich, dass es ein Geschenk von dem Mädchen war, dass noch irgendwo tief in meiner Großmutter drin steckte, und dass es ein Geschenk für die Frau war, die ich werden würde, nämlich eine, wie sie hoffte, die nie aufhören würde zu singen.
Aber das ist nur meine Interpretation. Es ist etwas schwierig, spitzenbesetzte Stringtangas bedeutungsvoll zu interpretieren.
Trotzdem suche ich heute in den Tiefen meiner Schubladen nach einer extrem spitzenbesetzten Unterhose, und die werde ich tragen, während ich laut singe und nicht die Fenster dabei schließe, als Hommage an all die Frauen, die verlorengegangen sind, und als Hommage an all die Mädchen, die jetzt zu Frauen werden, ohne dabei verloren zu gehen.
Die Sonne scheint hell heute, am Geburtstag meiner Großmutter. Und in mir drin ist es auch ganz hell, irgendwie.
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