💌 Kennst Du das auch? Du wachst auf und fühlst Dich für ein paar Minuten so, als würdest Du das Verkehrsministerium leiten.
Falls nicht – willkommen bei unserem kleinen Gedankenspiel.
Wir freuen uns tierisch, dass wir Dir mittlerweile unsere 30. Ausgabe schicken können. Danke, dass Du dabei bist! Und vor allem danke an unsere bisher 120 wunderbaren Mitglieder, die uns mit einem monatlichen Beitrag supporten. Wenn Du uns zur Feier unseres Jubiläums eine Freude machen willst – hier kannst Du uns ebenfalls unterstützen:
#30 #Mobilität #Reisen #Gedankenspiel
Die nachhaltigste Weltreise der Welt
Was würdest Du zuerst umsetzen, wenn Du Verkehrsminister°in wärst? In unserem kleinen Gedankenspiel kannst Du Dich inspirieren lassen – auf einer imaginären Weltreise. ~ 6 Minuten Lesezeit
Das Schöne an Gedankenspielen ist, dass so ziemlich alles erlaubt ist, was man sich vorstellen kann. Es muss nicht einmal ansatzweise plausibel sein. Das folgende Gedankenspiel ist ein völlig unrealistisches Szenario, außer für genau einen Menschen auf dieser Welt. In den nächsten sechs Minuten, während du diesen Text liest, wirst du nämlich zur Verkehrsminister°in.
Wie du bestimmt schon mitbekommen hast, ist dein Job unfassbar relevant fürs Klima – rund ein Drittel aller deutschen Treibhausgas-Emissionen entstehen im Bereich Mobilität. Umso wichtiger ist es, dass du diesbezüglich die innovativsten Projekte und aktuellsten Fakten in Zeiten der Klimakrise kennst. Was wärst du sonst bitte für ein°e Verkehrsminister°in?
Kurz vor Jobantritt kommt dir eine grandiose Idee: Du machst eine Weltreise und bringst die besten Ideen mit nach Hause, um sie umzusetzen. Wo wir beim zweiten großen Vorteil von Gedankenspielen wären: Sie sind zu 100 Prozent klimaneutral. Bist du bereit für eine imaginäre Weltreise in die Zukunft der Mobilität?
Oslo – Tallinn – Manchester
Los geht’s mit deiner Reise in Europa. Wo bekommt man hier am häufigsten einen Sneak Peek ins nächste Jahrzehnt? Wie immer, im Norden. Was hier mal wieder besser läuft: zum Beispiel der Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor.
In Deutschland lag der Anteil an Neuzulassungen für E-Autos laut der Jahresbilanz des Kraftfahrt-Bundesamtes für 2020 gerade mal bei sieben Prozent. In Norwegen ist er ganze acht Mal höher. Du zahlst dort so gut wie keine Steuern für PKW mit elektrischem Antrieb, kannst mit ihnen auf Busspuren fahren und wirst kostenlos auf Fähren mitgenommen. Besteuert wird hingegen der Kauf von neuen Verbrennermotoren – mit bis zu 10.000 Euro.
Noch besser fürs Klima wären allerdings öffentliche Transportmittel statt Privatfahrten. Tallinn fährt dort ein Modell, das selbst das Neun-Euro-Ticket in den Schatten stellt. In Estlands Hauptstadt ist der Nahverkehr für alle Anwohner°innen seit 2013 komplett kostenlos. Finanziert wird das durch Steuergelder und Besucher°innen. Rund zehn Prozent mehr Menschen nutzen durch diese Maßnahme den ÖPNV. Hauptprofiteur°innen sind unter anderem ältere und einkommensschwache Menschen, die sich zuvor kein Ticket leisten konnten.
Der ÖPNV in Tallinn ist sogar noch neun Euro günstiger als das Neun-Euro-Ticket in Deutschland. 📸: Doug Kerr (CC BY-SA 2.0 (Abre numa nova janela))
Dein letzter europäischer Stopp ist Manchester. Hier haben Forschende den Anteil des Flugverkehrs an den globalen Emissionen berechnet (Abre numa nova janela). Kleine Quizfrage zur Auflockerung deiner Reise: Was glaubst du, wie hoch dieser Anteil ist?
A) 0,2 Prozent
B) 1 Prozent
C) 3,5 Prozent
Richtig ist die dritte Antwort. Grund dafür ist nicht nur das ausgestoßene CO₂, sondern auch die entstehenden Aerosole und Stickoxide sowie die Wolkenbildung. Also: Ab ins kerosinsteuer-befreite Flugzeug mit dir und auf nach New York, hier wartet ein Fun Fact auf Dich.
New York – Michigan – La Paz
Zwei Tomatensäfte und eine garantiert racial-profiling-freie Einreisekontrolle später erwartet Dich das Land, das zusammen mit Kanada für rund ein Viertel aller bisherigen menschengemachten Treibhausgasemissionen verantwortlich ist. Es hätte aber auch anders kommen können. Du kannst es inmitten des Schwarms benzindurstiger, gelber Taxis kaum glauben: Vor 120 Jahren lag der E-Auto-Anteil in New York bei sage und schreibe 40 Prozent.
Diese stilsicheren E-Autos fuhren 1902 massenhaft durch New-York – ohne Lärm und Luftverschmutzung.
Anfang des 20. Jahrhunderts hatten E-Autos nicht nur in Übersee ihre Hochphase. Selbst der deutsche Kaiser Wilhelm II. fuhr einen „Mercédès-Électrique“. Wegen ihrer niedrigeren Reichweite wurden E-Autos ab 1910 von den Verbrennermotoren verdrängt – und aufgrund niedriger Rohölpreise. Von den weltweit 1,2 Milliarden PKW haben heute lediglich elf Millionen einen elektrischen Antrieb, also gerade mal ein Prozent.
Apropos elektrisch, als Nächstes besuchst du zwei Orte, die an recht unterschiedlichen Lösungen für ein ähnliches Problem arbeiten: Wie kann man Personen mit Strom durch die Luft bewegen?
An der University of Michigan wird nach Think-Big-Manier an fliegenden Autos geforscht. Wissenschaftler°innen haben hier eine aktuelle Studie (Abre numa nova janela) zur Klimafreundlichkeit von elektrischen „Flugtaxis“ veröffentlicht. Das Ergebnis: Ab einer Streckenlänge von 35 Kilometern können fliegende Autos weniger belastend fürs Klima sein als konventioneller Autoverkehr – allerdings nur bei Vollbesetzung und bei unebenem Terrain, für das herkömmliche Autos deutlich länger bräuchten. Kurzum: Fürs Klima sind Flugtaxis eine Nischenlösung, die vor allem bei dubiosen Investoren (Abre numa nova janela) einen Höhenflug verursachen.
Im Vergleich dazu auf dem Boden geblieben ist die Lösung in La Paz. Boliviens hügelige Hauptstadt setzt für einen klimafreundlichen Nahverkehr auf ein hängendes Transportmittel: Ein modernes Seilbahnsystem befördert hier bis zu 54.000 Menschen pro Tag. Ein großer Vorteil: Für die Installation musste kaum in die bestehende Bebauung eingegriffen werden. Die Bewohner°innen von La Paz zahlen für eine Fahrt zudem nur halb so viel wie für ein Busticket. Dadurch haben viele ärmere Menschen überhaupt erst die Möglichkeit bekommen, in die Innenstadt zu reisen. Und Touristen wie du können zum bolivianischen ÖPNV-Preis eine großartige Aussicht genießen.
Ein fast so schöner Ausblick wie in Wuppertal – bolivianische Schwebebahn in La Paz. 📸: Marco Ebreo (CC BY-SA 4.0 (Abre numa nova janela))
Kinshasa – Dhaka – Liuzhou
Das Fazit nach mehr als der Hälfte deiner Reise: An elektrisch betriebenen Fahrzeugen führt aus Klimasicht kein Weg vorbei. Doch ihre Herstellung ist nicht unumstritten, wie du nach deinem Flug von La Paz nach Kinshasa erfährst. Amnesty International konnte nachweisen, dass in Kobalt-Minen im Kongo siebenjährige Kinder arbeiten.
Du erfährst vor Ort, dass auch deutsche Konzerne (Abre numa nova janela) wie BMW, Volkswagen und Daimler unmittelbar davon profitieren. Im Juni 2021 billigte der Bundesrat ein Lieferkettengesetz, das solche Menschenrechtsverletzungen eigentlich verhindern soll. In der jetzigen (durch erfolgreiche Lobbyarbeit (Abre numa nova janela) und wirtschaftsnahe Politiker°innen verwässerten) Form betrifft es jedoch lediglich direkte Zulieferer und nicht, wie zunächst vorgesehen, die gesamte Lieferkette.
VW: Die Buchstaben im Logo des größten deutschen Automobil-Herstellers sind gleichzeitig die Initialen von Verkehrsminister Volker Wissing. ZUFALL??!? 📸: Harald Krichel (CC BY-SA 3.0 (Abre numa nova janela))
Etwas desillusioniert sitzt du im Flugzeug ins chinesische Liuzhou und fragst Dich, warum es Dich überhaupt noch überrascht, dass ein Konzern wie VW (dem aktuell Sklavenarbeit in Brasilien (Abre numa nova janela) für Rodungsarbeiten im Amazonasbecken vorgeworfen wird) mit Menschenrechten genauso wenig am Hut hat wie mit Klimaschutz.
Als du in deinen Unterlagen blätterst, stolperst du über einen weiteren schockierenden Fakt, der etwas mit Zwang und Reisen zu tun hat. Es geht um eine aktuelle Hochrechnung der Weltbank (Abre numa nova janela), die folgende Frage beantwortet: Wie viele Menschen müssen 2050 voraussichtlich wegen der Klimakrise weltweit fliehen? Ahnst du schon die Ausmaße?
A) 2 Millionen
B) 21 Millionen
C) 216 Millionen
Richtig ist tatsächlich die dritte Antwort. Du guckst aus dem Fenster – knapp eine Viertel Milliarde Menschen auf der Flucht in nur 28 Jahren von heute. Würden dir die Wolken nicht die Sicht verdecken, könntest du jetzt das Land sehen, das mit am stärksten von der Eisschmelze, einer der schwerwiegendsten Folgen der Erderhitzung, betroffen ist – Bangladesch. Das südasiatische Land wird durch den dadurch verursachten Anstieg des Meeresspiegels in den nächsten drei Jahrzehnten mindestens zehn Prozent seiner Fläche verlieren. Allein dort müssten 25 bis 30 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen.
Warum Eis für manche schneller schmilzt als für andere, kannst du in Treibhauspost Ausgabe #2 (Abre numa nova janela) nachlesen.
Es klingt erstmal überraschend, aber etwas neue Hoffnung schöpfst du ausgerechnet beim aktuell größten Treibhausgas-Emittenten der Welt – China. Genauer gesagt, bei einem der größten chinesischen E-Auto-Hersteller. Während Tesla weltbekannt ist, kennt Wuling kaum jemand – zumindest nicht in Europa. In China hingegen ist sie eine der meistverkauften Marken für elektrische PKW und deutlich energieeffizienter unterwegs als Elon Musks Luxus-E-Autos. Die Kleinwagen des chinesischen Herstellers sollen auf 100 Kilometern nur rund acht Kilowattstunden verbrauchen und umgerechnet etwa 4.000 Euro kosten. Ein Tesla benötigt je nach Modell rund zwei- bis dreimal so viel Energie für mindestens den zehnfachen Preis.
Die Entdeckung der Langsamkeit
Nach so viel Input bist du jetzt definitiv bereit für den Heimweg. Im Flug zurück nach Europa unterhältst du dich mit deiner Sitznachbarin, die an der University of Sydney forscht. Die Zahlen der Studie (Abre numa nova janela), die sie vor Kurzem mitveröffentlichte, überraschen Dich trotz deiner erlebnisreichen Reise: Der weltweite Tourismus, inklusive Emissionen, die durch ihn vor Ort entstehen, verursacht bis zu acht Prozent aller globalen Emissionen. Hauptverantwortlich für diesen Klima-Fußabdruck sind Menschen aus Ländern mit hohem Einkommen. Gut, dass deine Gedankenreise klimaneutral war, denkst du dir, als du aus dem Flugzeug aussteigst.
Im verspäteten ICE (du bist schließlich vorbildliche°r Verkehrsminister°in) nach Hause lässt du die letzten Tage noch einmal Revue passieren. Wie so oft, bekommst du das Gefühl, dass die Lösungen und Erkenntnisse schon längst auf dem Tisch liegen. Mobilität kann klima-kompatibel gestaltet werden. Höchstgeschwindigkeit ist das richtige Motto dafür – allerdings nicht für einzelne Reisen, sondern für das Tempo der Transformation, nach welcher wir uns im Einklang mit dem Planeten auf selbigem von A nach B bewegen werden.
Der Verzicht, den eine solche Umstellung für jede°n Einzelne°n bedeutet, wäre wohl vor allem, dass einige Reisen länger dauern und andere seltener werden. Flugreisen würden teurer, Bahnreisen dafür günstiger und bequemer. Urlaubsziele werden näher liegen, Luftverschmutzung in Städten ferner. Die Mobilität der Zukunft ist unter Umständen langsamer als die von heute, dafür bremst sie gleichzeitig den Klimawandel aus.
Etwas mehr Langsamkeit ist vielleicht gar nicht das Schlechteste, denkst du dir, nachdem dein ICE schon seit zehn Minuten in einem Waldstück stehen geblieben ist, und guckst aus dem Fenster. Wie heißt es noch so schön? Der Weg ist das Ziel.
Wie weit man als Verkehrsminister°in gedanklich reisen kann, wenn man denn will. Auch wenn Du mit großer Wahrscheinlichkeit nicht Volker Wissing oder Leonore Gewessler (Shoutout nach Wien) bist, hast Du Möglichkeiten, dich für eine menschen- und klima-kompatible Mobilität einzusetzen. Mehr dazu in unserem Interview (Abre numa nova janela) mit Mobilitäts-Expertin Katja Diehl.
Zum Schluss noch eine Sache, die für uns unfassbar wichtig ist: Wir arbeiten unabhängig von großen Medienhäusern und Verlagen. Unsere einzige Werbung bist Du. Wenn Du uns an deine Freund°innen, Kolleg°innen und deine Familie weiterempfiehlst, können wir noch mehr Leuten von der Lage unseres wunderbaren Planeten erzählen. Genauso großartig wäre es, wenn Du uns auf Twitter, Instagram, Facebook oder in deinen Chat-Gruppen verlinkst.
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Bis in zwei Wochen
Manuel & Julien
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