Print ist tot – Buchmessen-Spezial
Liebe Newsletter-Abonnent*innen,
wenn Sie diese Zeilen lesen, dann … lesen Sie! Das ist heutzutage, in Zeiten von TikTok und Grammophon, schon eine Leistung, »insofern« herzlichen Glückwunsch. Falls Sie über diesen Newsletter hinaus regelmäßig zu Lektüre greifen sollten, gehören Sie einer Minderheit an. Und falls Sie dafür sogar Geld ausgeben – selber schuld. Unser hauseigener Kulturoptimist hat sich dazu ein paar motivierende Zeilen einfallen lassen:
Das Lyrik-Eckchen
Bitte umblättern
von Stefan Gärtner
Wir hatten es geahnt. Nun also bitte:
Laut Zeitung gibt längst nur noch jeder Dritte
mal Geld für Bücher aus, die andern nicht.
Hier ist Empörung klarerweise Pflicht.
Wobei: Wenn die jetzt diese Kuh nicht lesen –
war’s das mit Belletristik gleich gewesen?
Wenn die jetzt jenen Stümper nicht mehr kaufen –
ist das sofort ein Grund, sich zu besaufen
und wehzuklagen um des Wortes Kunst?
Als hätte automatisch davon Dunst,
wer Bücher schreibt und macht und dann verlegt!
So sei Entsetzen füglich eingehegt:
Was lebt, wird sterben, und im Abendlicht
schaut man was Schönes und liest eben nicht.
Zuallerletzt stirbt sowieso der Mist (Abre numa nova janela).
Wenn das für alle nicht ein Grund zur Hoffnung ist.
Ganz recht: Bei dieser Ausgabe unseres Newsletters handelt es sich um ein Literatur-Spezial, denn diese Woche treffen sich wieder Buch- und Cosplay-Fans aus aller Welt in der Intellektuellenhochburg Frankfurt am Main, in der zufälligerweise auch TITANIC beheimatet ist, weswegen wir uns befähigt und verpflichtet fühlen, zur Buchmesse etwas zu »machen«. Feuilletonthema Nr. 1 ist dieser Tage der marode Traditionsverlag Suhrkamp.
Möhrles Shortlist
Dirk Möhrle ist ab dem 1. November 2024 alleiniger Eigentümer des Suhrkamp-Verlags. Der Unternehmer hat bis 2005 den familieneigenen Baumarkt »Max Bahr« geleitet, heute ist er unter anderem in den Branchen Immobilien und Luftfahrt aktiv. Dem TITANIC-Feuilleton hat Möhrle exklusiv die Suhrkamp-Bücher verraten, die ihn am meisten geprägt haben:
Uwe Johnson: Zahltage (1970-1983)
Walter Benjamin: Das motorgetriebene Luftfahrzeug im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935)
Ingeborg Bachmann: Das gestundete Regal (1953)
Martin Walser: Möhrle und Wolf (1989)
Bertolt Brecht: Das Dreigroschensofa (1928)
Isabel Allende: Das Geisterhaus, grundsaniert (1982)
Peter Weiss: Die Ästhetik des Bücherschranks (1975-1981)
Samuel Beckett: Warten auf die Miete (1952)
Rainald Goetz: Irre Rendite (1983)
Thomas Bernhard: Holzfällen leicht gemacht mit den preiswerten Kettensägen von Max Bahr (1984)
DSch
Wir prophezeien: In einem Jahr wird sich Suhrkamp mit einer großangelegten Rettungskampagne und dem Launch eines Newsletters von Grund auf sanieren. Es sei dem Verlag gegönnt! Doch auch wenn es kaum zu glauben ist, nicht allen im Literaturbetrieb Tätigen geht es blendend. Schreibende sind oft auf Stipendien, Förderungsfonds und Stiftungen angewiesen. Zwei unserer freien Autoren gehen offen mit dem Thema um und gewähren Einblicke in ihren Postausgang.
Deutscher Literaturfonds
Lieber Deutscher Literaturfonds,
keiner gibt so fett wie Sie. 25 000 Euro für Gedichte, wo gibt’s so was? Ich schreibe zufällig auch Gedichte, und die sind keinen Deut schlechter oder besser als die von allen anderen. Ich versichere Ihnen dies. Meine Bedürftigkeit eilt mir voraus. Meine einst köstlichen, leinenen Kleider und seidenen Schleier bröseln mir vom Leib. Einst aß ich Semmeln, Öl und Honig, jetzt habe ich nur noch Geruch. Ich bin eine Schande für die Nachbarschaft, und deshalb bitte ich Sie, so sehr wie ich noch niemals jemanden bat, geben Sie mir die Förderung.
Aufrichtigst
Ihr Ferdinand Führer
Kultur- und Brauchtumsstiftung der Kreissparkasse Weißenfels
Liebe Kultur- und Brauchtumsstiftung der Kreissparkasse Weißenfels,
wenn ich eines in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt habe, dann waren es Kultur und Brauchtum. Mein dürftiges Betragen erfüllt mich mit glühendem Zorn und kleidet mich in Entsetzen. Dass Ihre Förderung wohnsitzgebunden ist, kommt mir sogar entgegen. In meiner Wohnung hält mich nichts mehr. Streng genommen habe ich die auch schon gar nicht mehr. Mit Ihrer Zuwendung könnte ich in Weißenfels zum Beispiel Volkstänze auf dem Parkplatz Ihrer Filiale aufführen lassen. Brezelsingen, Rübenaustragen, Trachtenfischen – kein einziges Brauchtum, das ich nicht pflegen werde!
Ich verspreche es Ihnen
Ihr Roland van Oystern
Was sich noch so im Mailpostfach der TITANIC-Autoren befindet, erfahren Sie hier (Abre numa nova janela).
Finanziell unabhängig sind wenigstens Cartoonistinnen und Comiczeichner (haltlose Unterstellung). Der folgende Bildwitz entstand jedenfalls ohne Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland oder sonst wem:
Zu guter Letzt noch einmal auf die Buchmesse (und ins Internet): mit unserem Kolumnisten.
Liebe Buch- und sonstige Leserinnen!
Ich wollte mich gerade über die neue Spezialreihe»Leben« des Verlags Hanser informieren, in welcher neben Elke Heidenreich (»Altern«) u. a. Emilia Roig (»Lieben«), Theresia Enzensberger (»Schlafen«) und Svenja Flaßpöhler (»Überschnappen«) über die großen Themen des Daseins schreiben. Doch siehe, beim Versuch, die Hanser-Seite aufzurufen, meldet sich mein Antivirenprogramm mit dem Hinweis »Website blockiert aufgrund von kompromittiert«, und mein Browser sagt: »Diese Website kann keine sichere Verbindung herstellen«. Tja, dann eben nicht. Sind Infinitive als Buchtitel seit Knausgård nicht eh »durch«?
Bemerkenswert ist, dass Hanser sich, wie viele andere Medien leider auch, weigert, das immerhin seit 2017 amtliche große Eszett (ẞ) anzuerkennen: FLASSPÖHLER steht auf dem Cover. Dagegen würde ich mich wehren an deren Stelle.
Eine Autorin, die auf der Buchmesse 2024 schmerzlich fehlt, ist – Angela Merkel. Ihre Memoiren erscheinen im November, mithin kurz nach der Buchmesse. Ich wette, bei Kiepenheuer & Witsch beißen sie sich in den Hintern, mit dem sie wochenlang auf glühenden Kohlen gesessen haben: Hätte sich die Altkanzlerin nicht etwas mehr ins Zeug legen können mit dem Schreiben? Was für ein Hallo hätte das werden können: Buchvorstellung von »Freiheit« in Frankfurt, die Autorin als Stargast, zahlreiche Podiumsdiskussionen und Interviews, KiWi im Glück. In einem Jahr interessiert sich kein Schwein mehr für den Schmöker. Aber wer traut sich schon, einer Time-»Person of the Year« zu mailen: »Hey, wir bräuchten dann doch bis Ende der Woche das Manuskript. Es ist nicht mehr lange hin bis zur Buchmesse. :) Das Abgabedatum steht im Übrigen auch im Vertrag, Sie freuen sich doch bestimmt schon auf die zweite Hälfte des Vorschusses …«? Niemand traut sich das!
Kompromittierte GRÜẞE
Torsten Gaitzsch
Verabschiedet sich ebenfalls und wünscht Ihnen ein gut informiertes Wochenende:
Ihre TITANIC-Redaktion
Unterstützen Sie die genialsten und ärmsten Literat*innen Deutschlands mit einem unserer Hochkultur-Steadypakete!
Titanic empfiehlt:
Sie können lesen, sind aber zu faul, um auf die Buchmesse zu gehen, und verbringen Ihre Zeit lieber im Internet? Sie können sich bei weitem nicht lange genug konzentrieren, um auch nur die Hälfte eines Romans zu lesen?
Für Sie hat der TITANIC-Shop (Abre numa nova janela) Bücher im Angebot, die auch noch für die kürzeste Aufmerksamkeitsspanne geeignet sind.
(Abre numa nova janela)TITANIC-Verlag Georg-Büchner-Verlagsbuchhandlung GmbH & Co. KG Hamburger Allee 39
60486 Frankfurt am Main