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Lücken

(Abre numa nova janela)
hope, 120 gramm, Victoria Hohmann, 2016

Letzte Woche habe ich zufällig einen Ordner mit alten Glossen gefunden. Alt, das heißt aus den Jahren 2011/12. Damals betrieb ich parallel zum Studium einen Glossen-Blog. Die Welt schlingert immer in den Angeln, wird deutlich. Aber auch, wie Radikalisierung fortschreitet, wenn sie nicht von einer breiten öffentlichen Mehrheit gebremst wird. Weil sich, sicherlich angefeuert durch digitale Bubblen ohne Gegenwind, Selbstgerechte aller Klassen zu höherem berufen fühlen. Ungestraft ins Netz brüllen und weil dort Algorithmen ihnen nur hochgereckte Daumen bescheren, sich ermächtigt und erwählt meinen, auch ermächtigt und erwählt ihr anstandsloses Schreien, ihren Hass im real life auszuleben. Es ist extremer geworden. Unsere Gesellschaft durch fehlende Regulationsmechanismen und Naivität der Mitte von rechts unterwandert. Die Lage hat sich hierzulande, europäisch, global zugespitzt. Doch kann in der extremen Zuspitzung auch die Chance eines Erwachens liegen, Blasen können platzen. Auch weil sie in ihrer raumgreifenden Unmäßigkeit sichtbar geworden sind. Vernunft, Empathie und Miteinander sind nicht verloren. Es gilt, Lücken intelligent zu nutzen, mutig Blasen zurück an den Rand zu weisen.

Diese Glosse, erst gute zehn Jahre alt, verdeutlicht, wie rasant Extreme sich ohne Widerstand entwickeln. Und wie man plötzlich dastehen und sich fast alte Probleme zurückwünschen kann. Außerdem sieht, dass die Lage unterschätzt wurde. Eine Glosse aus der Vor-Trump-Ära, der Vor-Idiocracy. Etwas, von dem wir heute nur noch träumen können. Vielleicht kann sich dieses Relikt aus alter Zeit darum, auch hinsichtlich der anstehenden Wahl im Februar, als Ermutigung zum Handeln lesen.

Wir leben in bewegten Zeiten. Einigkeit und Recht und Freiheit haben neue Ausmaße der Herausforderung angenommen. Während offshore Menschen dem Mehr und Mehr und Mehr preisgegeben werden, wettert im heimatlichen Binnenland ach leider so lucky Lucke wider alle Vernunft, um Deutschland endlich raus aus der Euro-Zone und heim ins Reich zu führen. Akademiker foppen Deppen – so war das schon immer. Wobei die Deppen den Akademikern populistisch durchaus das Wasser reichen können. Und das Wasser, das ist ja eh klar, steht uns armen Schluckern auf den Feuchtgebieten der ehemaligen BRD und der ehemaligen DDR natürlich bis zum Hals. Der darum wirklich dick ist. Bei jedem. Und plötzlich spricht die Welt Oertel. Dabei hat die Oertel doch ne ganz schön lange Leitung. Naja, zugegeben, gerade in manchen ländlichen Bereichen werden die schließlich ja momentan auch erst ausgebaut. Und Dresden ist schließlich ein Dorf. –

Obwohl: So bewegt sind die Zeiten dann auch wieder nicht. Schließlich gibt`s prinzipiell ja im Westen genauso wenig Neues wie im Osten. Russische Bären werden auf- und wieder ab- und wieder auf- und wieder abgebunden. Amerikanische Drohnen dröhnen in der Ruhe vor dem hoffentlich nie aufziehenden Sturmangriff. Das Spiel der Mächte, durch Tag und Nächte. Ein geradezu nostalgisches Schauspiel – was wären wir ohne?

Wenigstens in Abend- und Morgenland geht es drunter und drüber. Fantatiker ticken aus – reisen auch ungestraft aus und wieder ein und wieder aus und wieder ein und wieder aus. Weithin schallt die neue Devise: Gott ist Tod. Junge Erwachsene mit Identitätskrise köpfen Andersdenkende und versuchen mittels Mord, Folter, Totschlag ihren Platz in der Welt zu finden. Trotz bilingualer Erziehung. Oder auch darum. Wie immer frisst die Revolution ihre Kinder – was in diesem Fallbeispiel zutiefst beruhigend ist.

Andere, sozusagen echte Kinder, können unterdessen erleichtert aufseufzen: Edaty spendet nun Geld statt Samen für den Nachwuchs.

Aber, ganz ehrlich: Das sind doch im Prinzip alles Belanglosigkeiten. Nur die kleine pieksige Mini-Spitze des Eisbergs menschlicher Abgründe. Unter der Oberfläche schlagen uns doch ganz andere Probleme entgegen.

Zum Beispiel die Frage, ob es einem Politiker gestattet sein darf das Hemd über der Hose zu tragen oder nicht. Da scheiden sich die Geister. Da brandet Entrüstung auf. Da wird das Hemd zum Zünglein am Gewagten. Denn hinterfragt so ein heraushängendes Hemd nicht alle Werte, die wir seit Jahrtausenden in Europa kultivieren? Ist so ein heraushängendes Hemd nicht ein Affront gegen Recht und Ordnung, ja, gegen Attika selbst? Ist so ein heraushängendes Hemd nicht eine Bodenlosigkeit verglichen mit der Vernichtung von Kulturgütern im Nahen Osten, dem Handel mit blutiger Raubkunst, dem Angriff auf das kulturelle Gedächtnis und Erbe der Menschheit?

Wir leben in bewegten Zeiten. – Aber was bewegt uns eigentlich? Und: Wir uns?

Euch eine schöne zweite Novemberhälfte! Und, um es mit meinem Lieblings-Greenpeace-Spruch zu sagen, der trotz der Jahrzehnte nicht old-fashioned wirkt: Taten statt Warten.

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