Wandern mit dem Roten Efeu Jena
„Pogromen gedenken – Pogrome verhindern“: Unter diesem Motto lud die BDP-Ortsgruppe Roter Efeu Jena am 10. November zu einer Antifaschistischen Winterwanderung ein.
BDP? Die Abkürzung steht für Bund Deutscher Pfadfinder_innen. Die Jenaer Ortsgruppe gibt es seit 2018, im letzten Quartal 2023 verzeichnete sie einen relevanten Zuwachs an Mitgliedern. Aufgrund von Aktivitäten zum damaligen Semesterbeginn an der Uni– und aufgrund des 07. Oktober.
Die Positionierung des Roten Efeu Jena beim Thema Antisemitismus ist klar, dazu genügt ein kurzer Blick auf das Insta-Ankündigungsbild für diese Wanderung: Inmitten einer schneebedeckten Waldlandschaft weht eine Israel-Flagge. Auch auf dem späteren Gruppenfoto wird die inhaltliche Ausrichtung deutlich.
Antifaschistische Winterwanderung in Jena
12.30 Uhr, Tramhaltestelle Lobeda am südöstlichen Stadtrand Jenas. Ein BDP-Vertreter und ich warten auf die anderen, die sich an der Antifaschistischen Winterwanderung beteiligen wollen. Weit und breit kein Mensch. Nur die Haltestelle und die Bundesstraße. Und zwei Mannschaftswagen der Polizei.
Der BDP-Aktivist leicht in Panik. Nimmt an, dass die Cops unseretwegen aufgetaucht sind. Befürchtet, dass er die Wanderung hätte anmelden müssen.
„Ne!“, entgegne ich voller Überzeugung, meine ganze Erfahrung des etwas Älteren in die Waagschale werfend: „Eine Wanderung muss man niemals anmelden. Und die sind sicher nicht wegen unserer kleinen Wandergruppe da, die machen eine Verkehrskontrolle.“
Wenige Minuten später dribbeln zwei Polizisten an. Wollen wissen, ob unsere Wanderung eher Privatcharakter oder Versammlungscharakter annehmen wird. Bieten Polizeischutz an. Unsere Gruppe ist derweil angewachsen, unter anderem das Wanderkollektiv Zion Hike Connection (Abre numa nova janela) aus Leipzig und Halle hat sich dazugesellt.
Mit weiteren Aktivist*innen aus Jena, Erfurt und Weimar werden wir wenig später zu einer fast fünfstündigen, anspruchsvollen Wanderung aufbrechen. Unsere Gruppe umfasst rund ein Dutzend, viel mehr anderen Menschen werden wir im bergigen Wald nicht begegnen.
Polizeischutz? Es sind angespannte Zeiten, die Behörden offenbar in hoher Alarmbereitschaft. Wir lehnen freundlich ab.
Nicht nur in Jena: Linksautoritäre Antisemit*innen als Herausforderung
Ausgerüstet mit langen Fahnenstangen aus Holz, die ausschließlich beim Gruppenfoto zum Einsatz kommen werden, durchquert die Wandergruppe ländlich wirkende Straßenzüge und erreicht nach wenigen Minuten das Naturschutzgebiet Kernberge und Wöllmisse. Geprägt von Wald und kleinen Bergen, zwischen 300 und 400 m hoch. Es ist kalt und nebelig. „Perfektes Ambiente für ein Death-Metal-Video“, meint ein Teilnehmer.
Die Gespräche: vielfältig. Top-Thema aber: Antisemitismus an den Unis und in linken Zusammenhängen. Studierende berichten von „Stalos“ in Seminaren, in Jena und anderswo. Sie erzählen von dem Furor, den die pro-palästinensische Szene innerhalb und außerhalb von Hochschulen entwickelt. Aggressiv, übergriffig. Eine Mitwanderin aus Jena beklagt, dass ein Pro-Pali-Aktivist Teilnehmer*innen einer israelsolidarischen Gegenkundgebung aus nächster Nähe abgefilmt hat. Ein etwas mulmiges Gefühl sei dies, so stellt sie fest. Nachvollziehbar angesichts der fließenden Grenzen zwischen Linksautoritären, postkolonial Bewegten und Islamismus-Fans.
Fließende Grenze zum Islamismus? Weisen Akteur*innen der Pro-Pali-Szene meist empört zurück.
Die Gruppe “Jena for Palestine” fiel in sozialen Netzwerken mit Lobhudeleien auf den iranischen Präsidenten Raisi und den Hamas-Führer Sinwar auf. Deren Tod, offenbar als schweren Schlag empfindend.
Sympathien mit Islamisten, eindeutig vorhanden. Es fragt sich vielmehr, auf welcher Seite dieser fließenden Grenze die Akteur*innen angesiedelt sind. Und ob es überhaupt zwei Seiten gibt oder sich alles vermischt. Hauptsache gegen Israel, Hauptsache gegen den Westen.
Im Ankündigungstext für diese Wanderung schreibt der Rote Efeu Jena:
In Jena werden seit dem schrecklichen Massaker des 7. Oktobers antisemitische und israelfeindliche Positionen zunehmend normalisiert. Wiederholt versuchten Akteure aus dem israelfeindlichen islamistischen und linksautoritären Spektrum, Angsträume in der Innenstadt zu etablieren.
Überall dasselbe oder zumindest ein ähnliches Bild. Die Berichte erinnern mich an die kürzlich stattgefundene Podiumsdiskussion der Initiative Hochschulen Leipzig gegen Antisemitismus. (Abre numa nova janela) In Leipzig betrachten linksautoritäre Gruppen Pro-Pali-Proteste als Chance, gegenüber der traditionell antiautoritären linken Szene der Stadt Gelände zu gewinnen. Tobias Prüwer fasste das im Kreuzer-Artikel „Avantgarde von gestern“ prägnant zusammen. (Abre numa nova janela)
Wir kraxeln derweil diverse Anstiege hoch.
Die Pfadfinder*innen des Roten Efeu Jena engagieren sich in der Stadt Lothar Königs vielfältig gegen jeden Antisemitismus. So beteiligten sie sich einen Tag zuvor mit mehreren Hundert Menschen am Gedenken an die Novemberpogrome. Mit Israel-Fahnen als „klares Zeichen, dass der Kampf gegen Antisemitismus gegenwartsbezogen und politisch ist – und auch den Kampf gegen Antizionismus und Israelfeindlichkeit mit einschließen muss“, wie die Gruppe auf Instagram mitteilte.
Das Pfadfinden scheint bei all diesen Aktivitäten etwas zu kurz zu kommen. Nachdem wir mehrmals falsch abgebogen sind, übernehmen die erfahrenen Wanderer der Zion Hike Connection die Navigation.
„Scheiß Wessis“, ruft ein mitwandernder Skin. Freund der aus dem Nichts gerufenen Parole, wie er während dieser Wanderung eindrucksvoll und ausdauernd bestätigt.
„Scheiß Wessis“: Insbesondere in der linken Szene Leipzigs gibt es viele, die den Aufstieg linksautoritärer und antisemitischer Gruppen mit Zuzug von Studierenden aus dem Westen – und Berlin – in Verbindung bringen. In Antifa-Zusammenhängen im Osten Deutschlands, so die richtige Feststellung, sei die Abneigung gegen Linksautoritäres aufgrund der DDR-Vergangenheit weitaus verbreiteter als im Westen. Der Freigeist Lothar König statt Stalin und Mao.
Für das Existenzrecht Israels – und ein demokratisches Israel
Wir erreichen den Fürstenbrunnen, das touristische Highlight dieser Wanderung. Im Herbst 1552 soll der ehemalige Kurfürst Johannes Friedrich I. kurz nach seiner Entlassung aus kaiserlicher Haft hier eine Rast eingelegt und von Einheimischen freudig empfangen worden sein.
Uns empfängt keiner, bis auf eine kleine Familie, die später das Gruppenfoto aufnehmen wird. Zuvor versammeln wir uns, eine Vertreterin des Roten Efeu Jena hält eine Rede.
Sie erinnert an die Reichspogromnacht, das antisemitische Massaker vom 07. Oktober und die jüngsten Exzesse in Amsterdam. Und widmet sich den Ursachen, zu denen sie auch die Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse zählt. Der Unmut münde aber in „falscher Kapitalismuskritik“, die „antisemitische Revolution“ nationaler oder autoritär-linker Machart wälze die Verhältnisse nicht um. Stattdessen fordert sie einen kapitalismuskritischen und antifaschistischen, zugleich ideologie- und autoritätskritischen Kampf.
Ein weiter Weg, bis die Ursachen des Antisemitismus beseitigt seien, stellt sie fest. Und zieht daraus die Schlussfolgerung:
Deshalb bleibt ein jüdischer Staat, der Staat Israel, der einzige wirkliche Schutzraum [...]
Sie thematisiert aber auch die momentane Situation in diesem einzigen jüdischen Staat der Welt. Netanjahu bezeichnet sie als Sicherheitsrisiko und drückt ihre Unterstützung für die Protestbewegung aus:
Daher gilt unsere Solidarität auch den Menschen in Israel, die laut, kraftvoll und zahlreich gegen die rechte Regierung und für ein weiterhin demokratisches Israel auf die Straße gehen.
Schweigeminute. Und dann: Gruppenfoto.
Abspann
Wir beeilen uns, verkürzen die Runde. Langsam wird es dunkel, die Wanderung war anstrengend. Im Auto nach Leipzig sitzend, später im Zug nach Dresden: Ich bekomme das Bild von Polizisten, die uns die gesamte Wanderung über Stock und Stein begleiten, nicht aus dem Kopf.
Schiebe es dann doch beiseite. Denke an die deprimierten Songs „Oktober in Europa“ von der Antilopen Gang und „Bring Them Home Now“ von Alles.Scheisze.
Erinnere mich an die Forderung der Rote-Efeu-Rednerin, sich im Kampf gegen Antisemitismus zusammenzuschließen. Wie bei dieser Wanderung, die trotz aller ernsten Worte lustig war.
Und fühle: Hoffnung, doch.
Über den Bund Deutscher Pfadfinder_innen
Der Bund Deutscher Pfadfinder_innen existiert seit 1948, gegründet in Frankfurt am Main. In den 1960ern politisierte sich der Verband, ein Teil spaltete sich ab.
Heute versteht sich der BDP als „unabhängiger, offener, demokratischer Jugendverband“, der die Selbstbestimmung und Partizipation junger Menschen fördert. Auf Pfadfinderkluft verzichtet er, Zeltlager und Wanderungen sind nur zwei Aktivitäten von vielen. Eine wichtige Rolle in der Arbeit des Bundesverbands, der Landesverbände und der Ortsgruppen spielen Themen wie Antirassismus, Antifaschismus, Ökologie und Gender/Queer. Und Antisemitismus, für diesen Themenkomplex gibt es einen eigenen Arbeitskreis.