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Grenzgänger

Es gibt dieses eine Bild, diesen einen Moment.

Wien, 2006. Ich habe gerade mein Zuhause, meine erste große Liebe und das gewohnte Leben für ein paar Tage verlassen um eine Freundin zu treffen, das neue Jahr zu begrüßen, einfach woanders sein und sich in frischer Luft und mit anderen Menschen wahrzunehmen. Die Stadt begegnet mir mit locker lässiger Selbstverständlichkeit. Regelnschmegeln, alle sind irgendwie gay und happy damit, mein Coming-Out feiert da gerade seinen 2. Geburtstag, ich fühle mich jung, frei und voller Möglichkeiten.

Im Gepäck habe ich eine kleine Digicam, knipse hier und da vor mich hin, bin begeistert von so ziemlich allem, schlage mir auf dem Naschmarkt den Bauch voll und krakeele gemeinsam mit B. in ihrer WG auf dem Sofa Songs vor mich hin. Am Neujahrsmorgen gibt es Käse Fondue im Bett (hach!) und wir schauen halb verkatert das Neujahrsspringen, natürlich mit original Kommentar im Wiener Schmäh.

Am Abend gehen wir raus, Freundinnen von B. treffen, übers Leben schwadronieren und natürlich flirten bis die Balken sich biegen. Ich habe meine Kamera im Gepäck und bemerke beim Spazieren durch die engen Gässchen ein Graffiti auf dem Boden. Mit Kreidefarbe hat jemand den Satz “Cross line to feel female” auf den Boden gesprüht, darüber eine gestrichelte Linie.

Ich erinnere mich noch sehr gut an den Gefühlscocktail, der in meinem (noch) nüchternen Magen anfing zu blubbern. Überraschung, Neugier, Ekel, Freude, Hoffnung. Nicht in klarer Reihenfolge und oft gleichzeitig. Halb benommen stolperte ich in die nächste Bar, verstaute das Bild in der letzten Schublade meines Gehirns und dachte erst wieder daran als ich nach meiner Ankunft zuhause auf das fertig entwickelte Foto blickte. Irgendetwas daran klang so als hätte jemand endlich die Wahrheit gesagt, wie der einsetzende Regen nach stundenlang drückender Hitze an einem langen Sommertag. Wie eine Handreichung in eine andere Welt.

Fast forward, November 2024, Hamburg.

Ich sitze auf dem Sofa meiner engen Freundin K., bei der ich gerade zu Besuch bin. Wir reden über all das, was in den letzten Monaten so los war, sie fragt einfühlsam und neugierig nach meiner Transition, meinen Gedanken und wann ich das 1. Mal gespürt habe was los ist bei mir. WIRKLICH los ist.

Ich denke an das Bild aus Wien im Winter 2006 und muss grinsen.

Irgendwie wissen wir es schon immer.

Es braucht manchmal nur seine Zeit.

Tópico Von Menschen und Tieren

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