Deutschlandkrise
Ich habe ein Buch geschrieben. Es erscheint diesen Monat (Abre numa nova janela). Im Oktober ist die Premiere in Berlin (Abre numa nova janela).
1,5 Jahre Arbeit von dem ersten Gespräch mit meiner Agentin Julia Eichhorn bis zur Manuskriptabgabe beim Verlag. 1,5 Jahre Arbeit – trotz allem. Trotz aller Krisen und Turbulenzen.
Im Dezember verließ ich Deutschland und flog – floh – in meine Geburtsstadt Antalya, um hier mein Buch fertigzuschreiben. Es war nicht möglich, es in Deutschland zu tun – die vier Wände meines Lebens stürzten auf mich, mein altes Leben zerquetschte darunter, ich hätte nicht zulassen können, dass auch das Buch vernichtet wird. Ich musste mich körperlich entfernen, wusste nur nicht genau, wie ich es schaffen soll. Wie ich jetzt mit meinen ganzen Quellen 2.500 Kilometer reisen soll. Meine Freundin Selma Wels sagte mir: "Mach es einfach."
Manchmal, wenn Menschen Sachen, die ich mir zwar wünsche aber für unmöglich halte, mit so einer Selbstverständlichkeit aussprechen, stecke ich mich mit dieser Leichtigkeit an. Selmas "Mach es einfach" beantwortete ich mit "Du hast Recht", und zog es durch. Mit 60 Kilo Gepäck flog ich nach Antalya und zog zurück in die Wohnung, in der ich aufgewachsen bin und wohnte, bis ich mit 22 Jahren am 01.01.2009 nach Köln zog.
Ich kannte die Wände, ich kannte das Licht, ich kannte die Gerüche. Die Geräusche hatte ich bloß vergessen, es hat Wochen gedauert, mich an das Knacken der Wohnung zu gewöhnen. Eine Nacht, als mich so ein Knacken weckte, und ich mich mit Herzrasen im Bett meiner Mutter aufsetzte, sah und hörte ich, wie die Möbel, die Vorhänge und die Lampe schüttelten. Ich wusste, dass die Stadt kein Erdbebengebiet ist, und es in diesem Moment irgendwo sehr, sehr schlimm beben muss, wenn ich es hier so stark spüren kann, dass ich wach davon werde. Am nächsten Morgen waren dann die Nachrichten da. Wir wissen nicht, wie viele Menschen insgesamt gestorben sind. Irgendwann wurden die Trümmer mit den Leichen drinnen wegtransportiert.
Mein Plan war, hier bis Ende April, also bis zu meinem Manuskript-Abgabe zu bleiben, vielleicht danach ein paar Wochen Urlaub zu machen. Und dann zurück nach Deutschland. Aber wohin? Ostdeutschland könnte mich mal – aber ist der Westen wirklich besser? Während dieser Überlegungen, wohin mit mir, weil mein altes Leben eben vorbei war, merkte ich: Irgendwo in Deutschland, ergibt keinen Sinn. Also dachte ich: Wenn, dann Kreuzberg.
Merz sagt es zwar, weil er uns Kanaken hasst und am liebsten jede einzelne von uns aus Deutschland wegtransportieren lassen würde, aber er hat Recht: Kreuzberg ist eben nicht Deutschland. Kreuzberg ist lebbarer als Deutschland – sicherer für viele, die sonst wo in diesem Land eben nicht sicher wären.
Unauffällig in der Menge untertauchen zu können, ist ein Privileg. Das hatte ich, seit ich in Deutschland lebe, nicht. Die Unsicherheit – das Gefühl, permanent in Gefahr zu sein, so latent wie es manchmal auch sein kann, hat einen hohen Preis. Und manchmal ist es auch gar nicht so latent – gehe mal als Kanake auf einen Campingplatz in der Elbsandsteingebirge, fahre mal an die Ostsee. Die Gefahr ist so dick, dass du sie greifen kannst.
Kreuzberg, Kreuzberg. Ich soll bei dir wohnen, also, muss ich eine Wohnung suchen, hehe, klar. Aber ich habe nicht wirklich gesucht. Bevor es so weit war, merkte ich: Die Krise war nicht nur mein Leben. Die Krise war vor allem: Deutschland. Und es war Deutschland, das weg musste, aber doch nicht ich. Und ich sage dir was, und bitte glaube mir: Wäre ich nicht in der Psychotherapie, hätte ich gar nicht gecheckt, dass ich jetzt machen kann, was ich will. Ich hatte so sehr verinnerlicht, dass meine Wünsche und Bedürfnisse falsch für mich sind, gefährlich – dass ich lebensunfähig sei und nicht darauf achten darf, was ich will, weil die Konsequenzen meiner Wünsche und Bedürfnisse zu schwer wären. Dass ich stattdessen machen muss, was am sinnvollsten ist... dass ich Angst davor hatte, mich glücklich zu machen. Mir zu nehmen, was ich will und brauche.
Jetzt, wo ich mir die deutsche Staatsbürgerschaft erkämpft habe, also Deutschland durchgespielt habe, muss ich mir gar keine Sorgen machen: ich kann hin, wo ich hin will. Wortwörtlich. Also begann ich zu überlegen, wo ich leben möchte. Kanada? Japan? Italien?
Unauffällig in der Menge untertauchen zu können, ist ein Privileg, das ich jetzt habe. Die fucking Welt gehört mir.
Ich weiß nicht. Manchmal ist es total okay, sich nicht sofort zu entscheiden, einfach zu sagen: Ich weiß nicht. Und loszulassen, im Hier und Jetzt zu bleiben. Ich bin glücklich, wo ich bin. Auch wenn ich in einem Land lebe, das ganz objektiv betrachtet gefährlicher ist als Deutschland. Aber ich sage dir was, und bitte glaube mir: Keinen einzigen Tag in Deutschland fühlte ich mich sicher. Nirgends in Deutschland. Und manchmal, sind diese Gefühle eben wichtiger als gewisse Tatsachen, wie zum Beispiel Statistiken, weil sie dein Leben sind – der Körper, in dem du wohnst.
Saure Zeiten erscheint weiterhin einmal im Monat, allerdings ohne Kolumne abwechselnder Autor*innen. Dieser Platz war reserviert für Menschen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz greifen. Autor*innen für die Kolumne zu suchen, zu finden, anzufragen und zu begleiten kostet Zeit, und das Honorar, das ich ihnen für ihre Arbeit zahle, kostet Geld. Meine Abo-Zahlen gehen seit Beginn der Pandemie zurück. Unter diesen Bedingungen kann ich die Kolumne leider nicht länger anbieten. Bitte überlege, heute ein Abo über Steady (Abre numa nova janela) oder Patreon (Abre numa nova janela) abzuschließen. Sollte ich irgendwann wieder genug Einnahmen haben, führe ich die Kolumne erneut ein.
Liebe Grüße
Sibel Schick
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