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Ein Besuch in Schuberts Hinterkopf

Luciano Berio: Rendering (1989-1990)

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Etwas zu Ende zu bringen, gilt als eine gute Sache. Als Kind war das bei mir sogar eine große Sache: Von meinen Eltern musste ich mir ständig anhören, tausend Sachen anzufangen und dann keine abzuschließen. Mich interessierte das Neue, aber kaum wurde es zum Bekannten (oder begann, Arbeit zu machen), war es fad. 

Später beeindruckte mich der Satz, wenn man wisse, wie man etwas macht, müsse man es nicht mehr machen und kann es lassen. Das ist so richtig wie es falsch ist, wenn man bedenkt, dass kaum jemand weiß, wie man etwas macht. Gelassen wird es trotzdem.

Tatsächlich lehrt uns die Arbeitswelt, Dinge nicht richtig oder zumindest nicht zu Ende zu machen. Das auch als 80/20-Regel bekannte Paretoprinzip besagt laut Wikipedia, man könne “achtzig Prozent aller Aufgaben mit einem Aufwand von rund zwanzig Prozent erledigen”. Und ich glaube, im BWL-Studium kommt das dran. Die Studierenden verstehen es vielleicht nur zu achtzig Prozent, aber das muss reichen.

Dem Namensgeber dieses Prinzips, dem italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto, fiel auf, dass zwanzig Prozent der Bevölkerung rund achtzig Prozent des Grundbesitzes gehört. Dahinter verbirgt sich nicht nur eine Einsicht in eine ungleiche Gesellschaft, sondern auch in das statistische Phänomen, dass eine kleine Menge großer Zahlen mehr Bums hat als eine große Menge kleiner Zahlen. Seit den 1960ern wird dieses Prinzip auf alles angewendet, wo Menschen mit Zahlen beeindruckt werden können. In Industrieunternehmen sind das rund achtzig Prozent (Schätzung des Autors).

Überall zurückgelassene Baustellen

Also wird kaum eine Sache als das hundertprozentige Ideal in die Welt gebracht, als dass es sich mal jemand imaginiert hat. Bei achtzig ist Schluss und das Ding kommt auf den Markt. Und wenn dann die nächste Produktgeneration ansteht, werden die verbleibenden zwanzig Prozent nicht nachgeholt, sondern eine neue Baustelle angefangen – und wieder nur zu achtzig Prozent fertiggestellt. Die zeitgenössische Warenwelt ist eine der permanent zurückgelassenen Baustellen. Weil die Kundschaft so ist wie ich als Kind, nur mit mehr Geld: Das Bekannte ist mental längst abgeschrieben, für das Neue zückt man die Kreditkarte.

Eine Frage bleibt so dauerhaft unbeantwortet: Woher wissen wir eigentlich, was hundert Prozent wären? Wer kann das schon wissen, und sei es nur zu achtzig Prozent? Wann ist eine Sache fertig, wann ist sie zu Ende? 

Schuberts Skizze zu einem Thema für den zweiten Satz seiner unvollendeten D-Dur-Sinfonie (Foto und Bearbeitung: Fauban (Abre numa nova janela), Lizenz: CC-BY-SA 3.0)

Ganz und gar nicht fertig ist mit Sicherheit das Werk Franz Schuberts. Er hinterließ so viele Skizzen zu so vielen Werken, dass die Nachwelt seit Jahrhunderten darüber spekuliert, ob noch irgendwelche Notizen auftauchen, warum Schubert wunderschöne Melodien durchstrich und um wie viele verschiedene Stücke es sich bei all den Entwürfen überhaupt handelt.

Mit nur einunddreißig Jahren hatte Schubert über sechshundert Lieder komponiert, dazu Bühnenwerke, Klavier- und Chormusik, sieben vollendete und eben fünf unvollendete Sinfonien. Sein Leben war eindeutig zu früh zu Ende.

Etwas zu Ende zu bringen, gilt als eine gute Sache: Bei der Vollendung unvollendeter Sinfonien ist es nicht so eindeutig. Immer wieder versuchten sich Komponisten an der Komplettierung der Werke großer Meister, in dem mehr oder weniger gut ausgeprägten Wissen um die eigene vergleichsweise beschränkte Meisterschaft. Johann Sebastian Bach, Anton Bruckner, Gustav Mahler, Alban Berg – sie alle hinterließen Unvollendetes, das teils noch von Zeitgenossen, teils posthum unter Anwendung verschiedener Strategien aufführbar gemacht wurde. Denn darum geht es: Diese zurückgelassenen kreativen Baustellen sind so interessant, dass man sie sich anhören möchte. Also müssen wenigstens tragende Wände stabilisiert und die Notausgänge markiert werden. Eine schlichte Imitation des Stils, ein lächerliches So-tun-als-ob kommt nicht in Frage. Wie also stellt man es an?

Musikalischer Zement

Die Antwort hängt davon ab, wie vollendet das Unvollendete denn ist. Müssen nur kleine Fugen gekittet werden oder ist die Statik des ganzen musikalischen Bauwerks gefährdet, so wie es notiert ist? Als sich der italienische Komponist Luciano Berio 1989 die nur in Skizzen vorliegende D-Dur-Sinfonie von Franz Schubert vornimmt, macht er Gebrauch von der architektonischen Strategie der kritischen Rekonstruktion. Berio schreibt (Abre numa nova janela):“[Eine solche] Restaurierung folgt den Richtlinien einer modernen Freskorestaurierung, die auf eine Auffrischung der alten Farben abzielt, ohne die durch die Jahrhunderte entstandenen Schäden kaschieren zu wollen, wobei sogar leere Flecken im Gesamtbild zurückbleiben können […].”

Berios Anspruch “soll eine Restaurierung [von Schuberts] Skizzen sein, keine Vollendung oder Rekonstruktion”. (Absurderweise ist Schuberts D-Dur-Sinfonie nicht die, die gemeinhin als seine “Unvollendete” bezeichnet wird, bei der die Musikwissenschaft sich aber gar nicht sicher ist, ob sie vielleicht doch vollendet ist, aber das ist eine andere Geschichte.)

Schuberts Skizzen zur D-Dur-Sinfonie bestehen hauptsächlich aus Klaviernoten, teils mit Instrumentationshinweisen. Hier musste Berio also selbst instrumentieren, also die Musik auf die Instrumente und Instrumentengruppen des Orchesters ausbreiten. Hier hat er nach eigener Auskunft versucht, die Schubert’schen Klangfarben zu “erhalten”. Da die Skizzen aber immer wieder mittendrin abreißen, bestand Bedarf nach etwas, das Berio “musikalischen Zement” nennt. Der besteht aus einem leisen, musikalischen Gewebe aus Celesta-Tönen, das an ein Glockenspiel erinnert. Die Celesta, eine Art Klavier, das statt Saiten Stahlplatten anschlägt, wurde erst 1868 erfunden, vierzig Jahre nach Schuberts Tod. Dieser bewusste Anachronismus ist ein Kennzeichen der kritischen Rekonstruktion. Die Lücken sollen nicht unsichtbar gemacht werden, denn sie sind nun mal da. Das Werk konnte nicht vollendet werden und so zu tun als ob, kommt in der Postmoderne, deren musikalisches Kind Berio ist, nicht in Frage. Die Postmoderne stellt sich den Lücken und weist sie als solche aus. Zur postmodernen Ästhetik gehört nämlich, die Bedingungen der Produktion und damit auch das Medium selbst zu thematisieren. (So wie es Filme machen, die von der Filmproduktion handeln und in denen sich das Publikum permanent im Klaren darüber sein soll, hier einen Film zu sehen – im Gegensatz zur Hollywood-Produktion, die genau das vergessen machen will.) Berio nennt seine Restaurierung der D-Dur-Sinfonie Franz Schuberts “Rendering”, was nicht nur Darstellung oder Wiedergabe bedeutet, sondern im Englischen, der Baumetaphorik folgend, auch Rauputz.

Musikalischer Terrazzo

 Terrazzo-Boden (Foto: Phillip Pessar (Abre numa nova janela), Lizenz: CC BY 2.0)

Dass Berio seinen Beitrag als Putz oder Zement bezeichnet, zeugt von Bescheidenheit; die Begriffe sind eigentlich zu prosaisch für den glitzernden, mystischen, manche sagen: traumartigen Klang, mit dem er die von Schubert gelassenen Lücken füllt. Vielleicht liefert Terrazzo das bessere Bild: eine geschliffene Oberfläche aus farbig zusammenpassendem Marmor, Kalkstein oder Granitsplitt im Zement. Wie unterschiedlich große, teils glitzernde Steine im Zement lässt Berio Passagen aus dem Spätwerk Schuberts vor dem Hintergrund der Celestaklänge aufscheinen. Der Zement ist Trägermasse für musikalische Ideen, die Schubert im Kopf gehabt haben könnte, wenn er die Sinfonie vollendet hätte. Berio nimmt uns mit auf eine mystische, aber gut ausgeleuchtete Baustelle.

“Rendering” ist Musik über Musik. Das Werk ist keine Vollendung Schuberts, sondern ein spekulativer Besuch in seinem Hinterkopf – und ein Kunstwerk von eigenem Rang, ein vollendetes sogar.

🥾 Schuhwerk für den Schleichweg: Der zweite Satz von Berios “Rendering” beginnt in dem unten verlinkten Video bei 09:29 mit dem “musikalischen Zement”, um dann bei 10:03 vollständig in Schubert überzugehen. Von 12:49 bis 14:02 zeigt die Celesta wieder Berios Kitt an. Auch von 16:00 bis 17:28 wurden kleine Mengen Zement eingefügt, ebenso von 20:06 bis 22:14, womit der zweite Satz endet.

https://youtu.be/NQB5bFTwHfI?si=9T_patYZOrdnXsfh&t=569 (Abre numa nova janela)

Hier findest du das gesamte Stück im Streaming (Abre numa nova janela).

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

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Tópico Neue Musik

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